TITANIC Gold-Artikel

Der Rattenfänger von Halle

Kai Pflaume ist der deutscheste Deutsche. Nach erfolgreicher Flucht aus der DDR und einer fast so erfolgreichen Karriere im Westfernsehen reüssiert er jetzt auch noch als Berufsjugendlicher auf Youtube. Was hat er mit unseren Kindern vor? Eine Youtube-Betrachtung von Cornelius W. M. Oettle

Ehrenpflaume (53) in buntem Tuch.

Dem Rattenfänger von Hameln wurde dereinst übel mitgespielt. Der nette, wenngleich etwas schrullige Kerl, der laut Sage "vielfarbiges, buntes Tuch" trug, weshalb man ihn "Bundting" rief, befreit die Stadt von einer Rattenplage. Den Nachwuchs entführt er erst, nachdem man ihm Anerkennung und den vereinbarten Lohn fürs Kammerjägern verweigert. Kindesmord ist eine drastische Reaktion, keine Frage, man hätte ja erst mal den Rechtsweg einschlagen können, aber es sollte den Hamelern eben auch eine Lehre sein.

___STEADY_PAYWALL___Kai Pflaume indes stammt nicht aus Hameln, sondern kam anno 1967 in Halle zur Welt, wo er als Zweijähriger das vordere Glied seines rechten Zeigefingers in einem Türspalt einklemmte und verlor (cf. Wikipedia). In der Folge für den Kommunismus nicht mehr zu gebrauchen, flüchtete er aus der DDR über Budapest in die Bundesrepublik und erhoffte, die Gunst der Westdeutschen zu erlangen, indem er in Frankfurt eine Ausbildung zum Wertpapierhändler machte. Ossi und Broker – leider die denkbar ungünstigste Kombination, wenn man gemocht werden will.

Es begab sich aber, dass unser Held auf der Suche nach der ihm bislang verwehrten Liebe 1991 bei Rudi Carrell aufschlug, der zu jener Zeit die TV-Tinder-Show "Herzblatt" moderierte. Als Kandidat versagte der Charmebolzen Pflaume zwar, doch schon bald wusste er als Moderator zu überzeugen: "Nur die Liebe zählt", "Die Glücksspirale", "Deutscher Fernsehpreis", "Deutschlands wahre Helden", "Deutschlands starke Frauen", "Die deutschen Meister 2013" und "Der klügste Deutsche" zählen zu den deutschen Deutschformaten, durch die der deutscheste Deutsche führte.

Kai Pflaume als Kandidat bei "Herzblatt". Im Hintergrund die Kandidatin Barbara Schöneberger, die später ebenfalls eine Fernsehkarriere anstrebte, dabei aber leider weniger Glück hatte.

Doch nahm man ihn endlich ernst? Schenkte man ihm die Aufmerksamkeit, um die er schon sein ganzes Leben lang buhlte? Baute man ihm Denkmäler? Erfuhr er Lobpreis und Ehr? Im Gegenteil: Als ob die Nation keine Erfahrungen mit den Gefahren gekränkter Künstleregos hätte, verspottete sie ihn als halbgaren Jörg Pilawa, als schlecht frisierten Oliver Geißen, als Jauch-Kopie, Billo-Beckmann, Hallaschka-Hologramm und Vorabendkerner. Man nahm im Grunde gar nicht wahr, dass es sich bei diesen Conférenciers um unterschiedliche Personen handelte. Den Leuten war völlig egal, welche Durchschnittsfresse sie durch die ewig gleiche Unterhaltungsscheiße lenkte. Am Ende taten sie Pflaume das Schrecklichste an, was in diesem Land straffrei möglich ist: Sie verliehen ihm den Bambi.

Jahrzehntelang hatte er für den primitivsten Mist sein Gesicht hingehalten, damit TV-Glotzer nicht das Testbild ertragen oder sich mit ihren Lebenspartnern befassen mussten. Die Fernsehratten auf Deutschlands Wohnzimmersofas führte er mit seiner einschläfernden Sprechmelodie zuverlässig aus der Langeweile ins Reich der Träume. Doch als sie mit trockener Mundhöhle und der Fernbedienung in den Händen wieder erwachten, war der Name Kai Pflaume stets vergessen. Seinen verdienten Lohn, die Moderation von "Wetten, dass …?", versagten sie ihm.

So zog sich der gekränkte Entertainer eine Weile aus der Öffentlichkeit zurück, um seine seelischen Wunden zu lecken. In einer Höhle im Kirnitzschtal in der Sächsischen Schweiz heckte er gemeinsam mit der Agentin Anke Lütkenhorst einen teuflischen Plan aus. Er wusste, dass die Agentur Lütkenhorst zu jeder Schandtat bereit war, managte sie doch bereits ganz andere Kaliber wie Ingolf Lück und Thomas Berthold. Pflaume schwor sich, diesen aufgeblasenen undankbaren Deutschen das zu nehmen, was ihnen am allermeisten bedeutete. Da es sich allerdings als recht schwierig erwies, 80 Millionen Menschen unbemerkt ihre Autos zu stehlen, nahm er ihre Kinder ins Visier. 

Macht keinen Hehl aus seiner Verachtung für Deutschland: Kai Pflaume.

Plötzlich war er dann wieder da, der Grandseigneur des Moderationshandwerks. Allerdings nicht im Fernsehen. "Kai Pflaume ist ein YouTube-Star" titelte die Bild, "Kai Pflaume macht jetzt Karriere als Youtuber" schrieb das Online-Portal Tag24, und "Kai Pflaume schließt bei Wanderung kuriose Freundschaft mit Tier-Baby" wusste man auf merkur.de zu berichten. "WARUM KAI PFLAUME DER COOLSTE BOOMER 2020 IST" verriet der Jugendsender "Das Ding". Ein Ü50-Mann im Internet? War das technisch überhaupt möglich?

Und wie! Seit Beginn der Pandemie beglückt Kai Pflaume Kinder und Jugendliche auf Youtube. In seinen Videos trägt er vielfarbiges buntes Tuch und geriert sich auch sonst wie ein Teenager, präsentiert "Porridge of the Day" und Sneaker mit seinem Logo, weshalb man ihn "Ehrenpflaume" ruft. Unter diesem Nutzernamen schaffte er es sogar vor Pamela Reif, quasi die Janine Kunze von Instagram, auf den ersten Platz der Rubrik "Breakout Creator 2020" (Anm. d. Autors: Ich recherchiere für meine Artikel wirklich sehr viel. Aber herauszufinden, was das jetzt wieder genau ist, war dann sogar mir zu blöd.)

Kai Pflaume auf Platz 1. Dahinter Pamela Reif und drei andere.

Was das alles soll? Pflaume selbst beschreibt seine Tätigkeit wie folgt: "In meinen Videos verbringe ich Zeit mit interessanten Menschen, die spannende Geschichten zu erzählen haben. Der Spaß am gemeinsamen Erleben steht im Vordergrund, ohne zu dokumentieren oder zu beurteilen." Ohne zu dokumentieren dokumentiert die Ehrensteinfrucht den Alltag der nicht nur in puncto Followerzahlen millionenschweren Youtuber: Montanablack, Varion, inscope21 und viele weitere junge Männer mit Aufmerksamkeitsdefizit, deren Namen Ihnen als Leserinnen und Leser eines Printmagazins nichts sagen, hat er schon porträtiert. Mehr als eine Million Jünglinge und Jünglinginnen schauen sich das mittlerweile jede Woche an. Quoten, von denen Sat1 oder Thomas Gottschalk heute nur träumen.

Wie genau die Pflaume all diese Minderjährigen an sich fesselt, ist nach wie vor unklar, obwohl er es jüngst im "Online Marketing Rockstars"-Podcast verraten hat: "Menschen, die hohe Bindung und Interaktion mit der Community haben, bei denen ist der Effekt am größten" – codierter Jugendslang, der vermutlich etwas bedeutet. Laut Insider-Kreisen arbeitet der BND an einer Dechiffrierung. Die Magie des Flötenspiels des bekannten Vorgängers aus Hameln konnte jedoch bis heute nicht entschlüsselt werden.

Was aber heißt das für Sie? Sind Ihre Kinder sicher? Kann man noch etwas tun? Wahrscheinlich nicht. Es ist zu spät. Wir alle hätten es verhindern können. 130 Kinder sollen es damals im Jahre 1284 in Hameln gewesen sein. Der Youtube-Kanal "Ehrenpflaume" zählt bereits 500 000 Abonnenten.

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Puh, 47jährige,

bei Euch läuft es ja nicht so rund gerade. »Nur mit Unterhose bekleidet: 47-Jähriger flippt an Trambahn-Haltestelle aus« müssen wir pfaffenhofen-today.de entnehmen. InFranken meldet: »143 Autos in vier Jahren zerkratzt – 47jähriger Verdächtiger wurde festgenommen«, und schließlich versaut Rammstein-Ekel Lindemann Euch noch zusätzlich das Prestige. Der ist zwar lang nicht mehr in Eurem Alter, aber von dem Lustgreis ist in letzter Zeit dauernd im Zusammenhang mit Euch die Rede, weil er sich als 47jähriger in eine 15jährige »verliebt« haben will.

Und wenn man sich bei so viel Ärger einfach mal einen antrinkt, geht natürlich auch das schief: »Betrunkener 47-Jähriger landet in Augustdorf im Gegenverkehr«, spottet unbarmherzig lz.de.

Vielleicht, liebe 47jährige, bleibt Ihr besser zu Hause, bis Ihr 48 seid?

Rät die ewig junge Titanic

 Ei Gude, Nancy Faeser!

Ei Gude, Nancy Faeser!

Als Bundesinnenministerin und SPD-Spitzenkandidatin für die hessische Landtagswahl stellen Sie im Wahlkampf wöchentlich eine weitere Verschärfung des Asylrechts in Aussicht, um bei Ihren stockkonservativen hessischen Landsleuten zu punkten. Das Dumme ist nur, dass Sie damit bis jetzt bei Ihrer Zielgruppe nicht so recht ankommen. Der sind Sie einfach zu zaghaft.

Da hilft nur eins: Klotzen, nicht kleckern! Ihr Amtsvorgänger Horst Seehofer (CSU) hat es doch vorgemacht und sich über die Abschiebung von 69 Afghan/innen an seinem 69. Geburtstag gefreut! Das haben alle verstanden. Tja, Ihr 53. Geburtstag am 13. Juli ist schon rum, die Chance ist vertan! Jetzt hilft nur noch eins: gemeinsame Wahlkampfauftritte mit Thilo Sarrazin!

Und flankierend: eine Unterschriftensammlung gegen die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, die es Migrant/innen erleichtert, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, ohne die eigene aufzugeben. Für Unterschriftenaktionen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft sind die Hess/innen seit jeher zu haben (»Wo kann ich gegen die Ausländer unterschreiben?«). Und dass Sie damit gegen Ihren eigenen Gesetzentwurf agitieren – das werden die sicher nicht checken!

Darauf wettet Ihre Wahlkampfassistenz von der Titanic

 Sakra, »Bild«!

Da hast Du ja wieder was aufgedeckt: »Schauspieler-Sohn zerstückelt Lover in 14 Teile. Die dunkle Seite des schönen Killers. Im Internet schrieb er Hasskommentare«. Der attraktive, stinknormal wirkende Stückel-Killer hat Hasskommentare im Netz geschrieben? So kann man sich in einem Menschen täuschen! Wir sind entsetzt. Dieses Monster!

Indes, wir kennen solche Geschichten zur Genüge: Ein Amokläufer entpuppt sich als Falschparker, eine Kidnapperin trennt ihren Müll nicht, die Giftmischerin hat immer beim Trinkgeld geknausert, und das über Leichen gehende Hetzblatt nimmt’s gelegentlich mit der Kohärenz beim Schlagzeilen-Zusammenstückeln nicht so genau.

Grüße von der hellen Seite des Journalismus Titanic

 Du, Krimi-Autorin Rita Falk,

bist mit der filmischen Umsetzung Deiner zahlreichen Eberhofer-Romane – »Dampfnudelblues«, »Sauerkrautkoma«, »Kaiserschmarrndrama« – nicht mehr zufrieden. Besonders die allerneueste Folge, »Rehragout-Rendezvous«, erregt Dein Missfallen: »Ich finde das Drehbuch unglaublich platt, trashig, stellenweise sogar ordinär.« Überdies seien Szenen hinzuerfunden worden und Charaktere verändert. Besonders verabscheuungswürdig seien die Abweichungen bei einer Figur namens Paul: »Der Film-Paul ist einfach ein Dorfdepp.«

Platt, trashig, ordinär – das sind gewichtige Vorwürfe, Rita Falk, die zu einer vergleichenden Neulektüre Deiner Romane einladen. Da fällt uns übrigens ein: Kennst Du die Geschichte vom Dorfdeppen, der sich beschwert, dass der Nachbarsdorfdepp ihn immer so schlecht imitiert?

Wär’ glatt der Stoff für einen neuen Roman!

Finden Deine Trash-Flegel von Titanic

 Sind Sie sicher, Rufus Beck?

Im Interview mit Deutschlandfunk Kultur zum 25. Jubiläum des Erscheinens des ersten deutschsprachigen »Harry-Potter«-Buchs kamen Sie ins Fantasieren: Würde Harry heutzutage und in der echten Welt leben, dann würde er sich als Klimaschützer engagieren. Er habe schließlich immer für eine gute Sache eingestanden.

Wir möchten Sie an dieser Stelle daran erinnern, dass Harry Potter ein Zauberer ist, sich folglich gar nicht für den Klimaschutz engagieren müsste, sondern ihn mit einem Schnips obsolet machen könnte. Da allerdings in sieben endlos langen »Harry Potter«-Bänden auch keine Klassenunterschiede, Armut oder gar der Kapitalismus weggezaubert wurden, fragen wir uns, warum Harry gerade bei der Klimakrise eine Ausnahme machen sollte. Aber wo Sie schon so am Fabulieren sind, kommen wir doch mal zu der wirklich interessanten Frage: Wie, glauben Sie, würde sich Ihr Kämpfer für das Gute zu Trans-Rechten verhalten?

Hat da so eine Ahnung: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Tagtraum im Supermarkt

Irre lange Schlange vor der Kirche. Einzelne Gläubige werden unruhig und stellen Forderungen. Pfarrer beruhigt den Schreihals vor mir: »Ja, wir machen gleich eine zweite Kirche auf!«

Uwe Becker

 Backpainer-Urlaub

Eine Thailandreise ist die ideale Gelegenheit, sich bei unzähligen Thaimassagen endlich mal jene Rückenschmerzen rauskneten zu lassen, die man vom Tragen des Rucksacks hat, den man ohne die Thailandreise gar nicht gekauft hätte.

Cornelius W. M. Oettle

 Kartoffelpuffer

Die obligatorische halbe Stunde, die deutsche Rentnerehepaare zu früh am Bahnhof erscheinen.

Fabio Kühnemuth

 Löffelchenverbot

Ich könnte niemals in einer Beziehung mit Uri Geller sein. Ich will mich einfach für niemanden verbiegen.

Viola Müter

 Brotlose Berufsbezeichnung

Ich arbeite seit Jahren erfolgreich als honorarfreischaffender Künstler.

Jürgen Miedl

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Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
22.09.2023 Mainz, Frankfurter Hof Max Goldt
23.09.2023 Mönchengladbach, Theater im Gründungshaus Max Goldt
24.09.2023 Aschaffenburg, Hofgarten Thomas Gsella mit Hauck & Bauer
26.09.2023 Bern, Berner Generationenhaus Martin Sonneborn