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Käpt'n Iglos Rache
Hatte Oceangate-CEO Stockton Rush die Götter erzürnt, weil er sein experimentelles Tauchboot Titan mit einem handelsüblichen Billo-Gamepad gesteuert hatte? Wer war der Mann, der es wagte, gegen die Mächte der Natur Trümmertourismus in einer umgebauten Konservenbüchse anzubieten, und was wird jetzt aus Ihren Titan-Tickets? Eine biographische Spurensuche.
Träge wälzen sich die brackigen Fluten des Atlantiks an jenem Ort, der schon so viele reiche Säcke das Leben kostete. Wer sein Erfolgsgeheimnis erfahren möchte, muss in die Tiefe reisen, an den Meeresboden, wo das Wrack der Titanic liegt. Notfalls auch öfter. So wie Stockton Rush. Er war jemand, der den Dingen gern auf den Grund gehen wollte, ohne sich vorher durch dicke Bedienungsanleitungen mit ihren immergleichen Warnhinweisen quälen zu müssen. Ein Mann, der das Risiko liebte: Er rauchte Dollar-Noten ohne Filter, tauchte ohne Schwimmflügel in den Geldspeichern seiner Kunden und besserte Materialfehler an den Booten persönlich mit Kaugummi der Marke Hubba Bubba aus. "Es gibt keine gefährlichen Abenteuer, nur falsche Sicherheitsbestimmungen", lautete sein Motto.
Überraschungsbesuch im Tower
Ehemalige Freunde werfen Rush deshalb Leichtsinn und Verantwortungslosigkeit vor. Erste Anzeichen dafür finden sich bereits im Kindesalter, als er im Hallenbad gerannt und vom Beckenrand gesprungen sein soll. Vier Menschen überlebten dieses Wagnis damals nicht. Geboren und aufgewachsen im San Francisco der Sechziger, waren Rush die Sehnsucht nach lebensfeindlichen Orten fern der Zivilisation und das Geschäft mit dieser Sehnsucht wie in die Wiege gelegt. Schon in Kindertagen träumte er davon, LSD-Trips zur Realität werden zu lassen, indem fünf Lebensmüde auf engem Raum zusammengepfercht Horrorgestalten am einzigen Fenster vorüberziehen sehen und sich unablässig fragen, wann das Ganze endlich aufhört. Doch zunächst suchte Rush seine Bestimmung in der Luft und wurde Testpilot. Von ihm heil gelandete Flugzeuge galten als zu 110 Prozent sicher für den Luftverkehr. Auf diese Weise rettete Stockton Rush möglicherweise unzähligen Menschen das Leben. Viel mehr als durch seine waghalsigen Flugmanöver – Stichwort Überraschungsbesuch im Tower – umkamen, wie er den Familien der Opfer gegenüber stets betonte. Stoppen konnte ihn ohnehin nichts und niemand (außer dem Atlantik, wie wir heute wissen). Seinem berühmten Pioniergeist folgend studierte Rush BWL und häufte ein kleines Vermögen an, indem er sein üppiges Erbe in Telekom-Aktien investierte. Trotzdem reichte das Geld am Ende noch für den alten Traum vom eigenen Tauchfahrgeschäft.
Ist Gips überhaupt tiefseetauglich?
Als Rush sich schließlich der Erkundung der Tiefsee zuwendet, ist er bereits ein alter Mann. Doch trotz seiner gut 45 Jahre steckt er noch immer voller Tatendrang. Inzwischen hat er sich einen Ruf als erfahrener Abenteurer erarbeitet. Spitznamen wie "Großer Glückspilz", "Sherpas Tod" und "Einziger Überlebender" zeugen von seinen nicht immer ungefährlichen Erkundungen rund um und in den Erdball. Mit seinem Neffen Donald sowie dessen Neffen Tick, Trick und Track hatte er mehr erlebt als in hundert lustige Taschenbücher passt. Zu den zahlreichen Schätzen und Devotionalien, die er von seinen Reisen mitbringt, gehören u. a. Shivas Tafeln des Todes, das Tiefseeauge der Maya sowie der Leckstein Satans, die sich laut Oceangate bei der Unglücksfahrt zu Untersuchungszwecken an Bord der Titan befanden.
Rush hat eine Vision: Er will die Tiefsee für die gesamte Menschheit öffnen. Vom einfachen Arbeiter bis zum Milliardär soll jeder, der ein paar Hunderttausend Dollar zum Wegschmeißen hat, in das zweifelhafte Vergnügen einer Privatreise zum Meeresgrund kommen. Dafür konstruiert Rush zunächst in seiner Badewanne aus Luftballons und Gips das Modell eines U-Bootes aus Luftballons und Gips. Bei der Testfahrt in der stürmischen See vor Neufundland stirbt Rushs einziges Meerschweinchen. Doch er lässt sich nicht entmutigen und geht in die Fehleranalyse: Hatte es einen Sabotageakt gegeben? Was hatte das Meerschweinchen gefressen? Ist Gips überhaupt tiefseetauglich? Rush weiß aus eigener Erfahrung, dass die meisten tödlichen Verkehrsunfälle auf menschliches und nicht auf technisches Versagen zurückzuführen sind; trotzdem lässt er das heiße Eisen "Materialfehler" nicht unangetastet und spielt für den nächsten Prototyp mit verschiedenen Pappmachésorten herum. Er weiß: So wie die bisherige Tiefseeschifffahrt erfolgreich in die tiefsten Meerestiefen vorgedrungen ist, kann es nicht funktionieren, wenn sein Unternehmen nicht nur rentabel, sondern eine geölte Gelddruckmaschine der Extraklasse sein soll.
Mehr als 1000 Stunden DIY-Videos
Unzählige Tauchfahrzeuge später – Oceangate hat mittlerweile einen halben Bauernhof und mehrere Schulklassen im Meer versenkt – ist das Flagg-Tauchboot, die Titan, endlich fertig. Für dieses Modell hatte Rush sein ganzes Know-how aus mehr als 1000 Stunden DIY-Videos eingesetzt. Neben dem bereits erwähnten Game-Controller nahm die Konzeption weitere Anleihen bei der Welt der Videospiele. So ließ sich das Untersee-Vehikel beispielsweise nur mit einer stabilen Internetverbindung und einer Oceangate-Plus-Mitgliedschaft (249 999 Dollar/Monat) steuern. Die Besatzung wurde auf fünf Leben begrenzt und der Sauerstoffvorrat künstlich limitiert, um die Missionen ein bisschen spannender zu machen. Das Grundgerüst bestand aus Legosteinen, die mit Schildkrötenpanzern und Bananen beplankt waren. Die von Ingenieuren ursprünglich vorgeschlagene hochfeste Metallbauweise verwarf Rush rasch als zu konventionell und zu teuer. Für die nötige Steifigkeit der Hülle betankte er das Boot stattdessen mit Viagrapillen, wie er Reisenden augenzwinkernd erklärte. Auch die Sicherheit wurde nicht vernachlässigt: Pro Person befanden sich zwei Fallschirme an Bord. Die Unversehrtheit der Konstruktion wurde zudem während der gesamten Fahrt mittels einer patentierten Schallplattentechnologie überwacht: War die Schallplatte noch zu hören, hatte die Titan noch nicht nachgegeben.
Doch am Ende halfen alle halbseidenen Werbeversprechen nichts. Meeresgott Käpt’n Iglo war über die menschliche Hybris so erzürnt, dass er Rushs schwimmende Todesfalle in seinem wässrigen Schlund zerdrückte wie ein Milliardär den Kaviar im Fressmaul. Und Käpt'n Iglo verarbeitete die gesamte Crew zu Fischfutter und die Meerestiere aßen davon und siehe da, sie wurden gefangen und zu Fischstäbchen verarbeitet. Und so hatte sich Stockton Rushs großer Traum am Ende doch noch erfüllt: Er war in aller Munde.
Valentin Witt