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The Ulrich Files

Ein Lehrstück über Pressefreiheit, Zensur und undogmatische Ernährung

Gastbeiträge fachkundiger Journalist*innen sind bei TITANIC keine Seltenheit. Ein üblicher Vorgang: Man kauft sich Expertise zu einem randständigen Nischenthema ein, zum Beispiel zum Klimaschutz. In Heft 05/23 brillierte der stellvertretende Zeit-Chef Bernd Ulrich (geb. 317 ppm) mit einem solchen Meinungsstück. Was dann passierte, dürfte die deutsche Presselandschaft nachhaltig erschüttern. Dokumentation eines Skandals.  

 

WAS BISHER GESCHAH

Star-Journalist Bernd Ulrich diente sich in Frankfurt-Bockenheim an: Er plane eine kontroverse Abrechnung mit der Klimabewegung, "zu ehrlich für meinen Arbeitgeber!" In der Redaktionskonferenz nahmen wir dies mit Verwunderung zur Kenntnis. Ulrich prahlte keineswegs damit, vegan zu leben, machte allerdings auch keinen Hehl daraus. Diese unprätentiöse Attitüde hatte für viele von uns Vorbildcharakter. Denn ...  

 

AUCH WIR NANNTEN IHN KLIMA-GOETHE

Nicht unumstritten war also die Zusammenarbeit, da uns danach womöglich DER Leuchtturm im stürmischen Klimadiskurs fehlen würde. Zudem ließ sich Ulrich im Vorhinein vertraglich zusichern, dass TITANIC keinerlei Änderungen an seinem Manuskript vornehmen dürfe. Dies tat er mit Nachdruck: "Das Originalschreiben ist anscheinend auf dem Postweg verlustig gegangen, dieses hier nun vor Ihnen liegende ist der Nachdruck!" Nach zähem Ringen entschied sich Chefredakteurin Julia Mateus, Ulrich eine Chance zu geben, um sich nicht dem Vorwurf der "Ablehnung aufgrund von Männerhass" (B. Ulrich per Mail) auszusetzen. Den vielbeachteten Text können Sie im Mai-Heft nachlesen, falls Sie ihn nicht sowieso schon "weggesuchtet" haben.  

 

DER PRESSEKODEX IST FÜR TITANIC HEILIG

Bis dato lief in der Causa alles gemäß den Statuten des Pressekodex' und dessen drei Säulen: "Aufklärungspflicht, Chronistenpflicht, Out-of-the-Box-Denken zur Printrettung". Gerade die "Chronistenpflicht" hört aber nach dem Veröffentlichen nicht auf: "Alles muss dann noch zu Wikipedia, sorry Leute!" (Pressekodex, S. 1) So war es also meine noble Aufgabe, den Wikipedia-Eintrag von Bernd Ulrich zu ergänzen. Die aktualisierte Seite sehen Sie hier im Screenshot:  

 

 

NICHTS ALS WIKI WIKI IM KOPF?

Nachdem ich die Erkenntnisse aus Ulrichs Essay in die sogenannte "freie" Enzyklopädie eingearbeitet hatte, wartete ich auf das Ergebnis der Peer Review. Als ich dann nach ein paar Stunden die Antwort des zuständigen Admins erhielt, war ich verdutzt:  

 

Absoluter Wahnsinn! Er hätte die Quelle für meine Änderungen ganz einfach selbst finden können, wenn er TITANIC abonniert hätte! Ich persönlich konnte an diesem Tag leider nicht mehr antworten, da mich ein eingewachsener Zehennagel plagte und mir mein Detox-Guru und Internist striktes Internetverbot verordnete.  

 

GETTIN' THE BAND BACK TOGETHER

Am nächsten Mittag unterrichtete ich die zuständigen Redakteur*innen Laura Brinkmann und Sebastian Maschuw über die ungeheuerlichen Vorgänge. Wir einigten uns darauf, Bernd Ulrich wieder ins Boot zu holen und auch seinen Sohn zu kontaktieren, da dieser im Ursprungs-Artikel eine wichtige Rolle spielte.  

 

INNERFAMILIÄRE IRRUNGEN UND WIRRUNGEN

Bernd Ulrich erreichten wir auf den Bahamas, seinen Sohn Kai-Uwe an einem nicht näher genannten Ort in Norddeutschland. Als der Vater seinen Buben in der Zoom-Konferenz erkannte, entbrannte eine heftige Auseinandersetzung zwischen den beiden. Das Gedächtnisprotokoll:  

Bernd: "Junge, wo bist Du? Warum kommst Du nicht nach Bahamas? Ich esse wieder Fleisch, keine Angst."  

Kai-Uwe: "Boah, wer hat den Klima-Creep eingeladen?"  

Bernd: "Ich habe nichts mehr mit dem Klima am Hut, Junge! Nennt Ihr mich immer noch so? Das ist doch faktisch falsch! So habe ich Dich jedenfalls nicht erzogen."  

Kai-Uwe: "Ich schreibe nachher noch eine Mathe-Klausur und finde das Gespräch eher lame. Tschüsseldorf!"  

Bernd: "Bleib doch noch, mein Sohn! Ich kann Dir die Nummer von Luisa Neubauer besorgen, die ist gut in Mathe, glaube ich zumindest."  

Hernach loggte sich Kai-Uwe aus, Bernd verblieb in der Konfi (Mediensprech für "Konferenz"). Er versicherte uns, dass er zu seiner Entscheidung stehe, nicht mehr vegan leben zu wollen, und ergänzte, dass er "jeden möglichen Inlandsflug buchen" werde und die Tickets in Kopie an seine Familie schicke. Er wolle all dies aber keinesfalls als Hilferuf verstanden haben. Vielmehr gehe es ihm spitze, sein neuer Porsche helfe sehr beim Verarbeiten der aktuellen Entwicklungen, er habe tolle Gespräche mit Klaas Heufer-Umlauf, Micky Beisenherz und Franz Josef Wagner über Hubraum, Niederquerschnittreifen und den Klimaklebe-Terror geführt usw. usf. Nach geschlagenen zwei Stunden Monolog können wir endlich die erste Frage stellen. Wir möchten wissen, ob er unseren Kampf für die Pressefreiheit unterstützen wird. Das möchte er überraschenderweise nicht, stattdessen möchte er ein halbes Hähnchen und in Schweinefett frittierte Pommes. Wir bemerken, dass er nebenbei bei einem Kellner seine Bestellung aufgibt, hören ihn kurz darauf schmatzen. Wir werden hungrig und beenden den Call.  

 

ULLE WAR (!) SAUBER

Eine Vertraute weiß im Hintergrundgespräch tags darauf zu berichten, Bernd Ulrich habe "sich mittlerweile in einen Kokon aus Koteletts zurückgezogen, aber nicht auf die gute Weise!" Ulrich, dereinst deutscher Vorzeige-Veganer, wolle sich hinkünftig so klimaschädlich wie möglich verhalten, um auf die Probleme der Welt aufmerksam zu machen. So opfere er seine Gesundheit und seine innere Uhr der Zukunft der Gesellschaft: "In der Zeit-Redaktion nennen sie ihn, wenn er denn mal da ist, entweder Billigfleisch-Kästner oder Jetlag-Tucholsky." Der TITANIC-Artikel habe zum endgültigen Bruch mit dem Sohn geführt.  

 

WAS JETZT GESCHEHEN MUSS

Wir fordern den Presserat auf, rechtliche Schritte gegen Wikipedia einzuleiten. Außerdem sollte sich irgendjemand aus dem familiären Umfeld um Bernd Ulrich kümmern, bei Interesse fragen Sie uns gern nach seinem Aufenthaltsort auf den Bahamas. (Anm. d. Red.: Mittlerweile befindet er sich auf den Philippinen, wo er angeblich ein Spanferkel pro Tag verspeist und bis zur Wintersonnenwende bleiben will. Was, ehrlich gesagt, wirklich spitze klingt!)  

Martin Weidauer

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Clever, »Brigitte«!

Du lockst mit der Überschrift »Fünf typische Probleme intelligenter Menschen«, und wir sind blöd genug, um draufzuklicken. Wir lernen, dass klug ist: wer mehr denkt, als er spricht, wer sich ungeschickt im Smalltalk anstellt, wer sich im Job schnell langweilt, wer sich mit Entscheidungen schwertut, wer bei Streit den Kürzeren zieht und wer ständig von Selbstzweifeln geplagt wird.

Frustriert stellen wir fest, dass eigentlich nichts von alledem auf uns zutrifft. Und als die Schwachköpfe, die wir nun einmal sind, trauen wir uns fast gar nicht, Dich, liebe Brigitte, zu fragen: Waren das jetzt nicht insgesamt sechs Probleme?

Ungezählte Grüße von Deiner Titanic

 Bild.de!

»Springer hatte im Januar bundesweit für Entsetzen gesorgt«, zwischentiteltest Du mit einem Mal überraschend selbstreferenziell. Und schriebst weiter: »Nach der Enthüllung des Potsdamer ›Remigrations‹-Treffens von AfD-Politikern und Rechtsextremisten postete Springer: ›Wir werden Ausländer zurückführen. Millionenfach. Das ist kein Geheimnis. Das ist ein Versprechen.‹« Und: »In Jüterbog wetterte Springer jetzt gegen ›dahergelaufene Messermänner‹ und ›Geld für Radwege in Peru‹«.

Dass es in dem Artikel gar nicht um Dich bzw. den hinter Dir stehenden Arschverlag geht, sondern lediglich der Brandenburger AfD-Vorsitzende René Springer zitiert wird, fällt da kaum auf!

Zumindest nicht Titanic

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

 Verehrte Joyce Carol Oates,

da Sie seit den Sechzigern beinah im Jahrestakt neue Bücher veröffentlichen, die auch noch in zahlreiche Sprachen übersetzt werden, kommen Sie vermutlich nicht dazu, jeden Verlagstext persönlich abzusegnen. Vielleicht können Sie uns dennoch mit ein paar Deutungsangeboten aushelfen, denn uns will ums Verrecken nicht einfallen, was der deutsche Ecco-Verlag im Sinn hatte, als er Ihren neuen Roman wie folgt bewarb: »›Babysitter‹ ist ein niederschmetternd beeindruckendes Buch, ein schonungsloses Porträt des Amerikas der oberen Mittelschicht sowie ein entlarvender Blick auf die etablierten Rollen der Frau. Oates gelingt es, all dies zu einem unglaublichen Pageturner zu formen. In den späten 1970ern treffen in Detroit und seinen Vorstädten verschiedene Leben aufeinander«, darunter »eine rätselhafte Figur an der Peripherie der Elite Detroits, der bisher jeglicher Vergeltung entkam«.

Bitte helfen Sie uns, Joyce Carol Oates – wer genau ist ›der Figur‹, dem es die elitären Peripherien angetan haben? Tragen die Leben beim Aufeinandertreffen Helme? Wie müssen wir uns ein Porträt vorstellen, das zugleich ein Blick ist? Wird das wehtun, wenn uns Ihr Buch erst niederschmettert, um dann noch Eindrücke auf uns zu hinterlassen? Und wie ist es Ihnen gelungen, aus dem unappetitlich plattgedrückten Matsch zu guter Letzt noch einen »Pageturner« zu formen?

Wartet lieber aufs nächste Buch: Titanic

 Aha bzw. aua, Voltaren!

Das wussten wir gar nicht, was da in Deiner Anzeige steht: »Ein Lächeln ist oft eine Maske, die 1 von 3 Personen aufsetzt, um Schmerzen zu verbergen. Lass uns helfen. Voltaren.«

Mal von der Frage abgesehen, wie Du auf die 1 von 3 Personen kommst, ist es natürlich toll, dass Du offenbar eine Salbe entwickelt hast, die das Lächeln verschwinden lässt und den Schmerz zum Vorschein bringt!

Gratuliert salbungsvoll: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Mitgehört im Zug

»Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt!« – »Ja, aber das muss es ja nicht bleiben.«

Karl Franz

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
02.05.2024 Dresden, Schauburg Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
03.05.2024 Mettingen, Schultenhof Thomas Gsella
03.05.2024 Stuttgart, Im Wizemann Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
04.05.2024 Gütersloh, Die Weberei Thomas Gsella