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Whale Watching – you!
Ein angeblicher Spionage-Wal – Deckname "Waldimir" – tauchte 2019 mit einem mysteriösen Geschirr ausgestattet in Norwegen auf und ist nun nach Schweden weitergezogen. Fungieren Tiere also auch abseits des Abhörens (Wanzen) und Infiltrierens (Maulwürfe) als Spione? Ja, wie ein Besuch im TierAgentenTrainingsZentrumEchsenburg (TATZE) beweist.
Neben dem imposanten Metalltor befinden sich zwei Schilder. Auf dem ersten steht: "STRENG GEHEIMES GEHEIMGELÄNDE! Drehen Sie SOFORT um!" Darunter, neben einer Klingel, liest man: "Für Paketzustellungen an die Topsecret-Organisation TATZE: Bitte hier läuten! NICHT bei den NACHBARN abgeben! Die dürfen nicht wissen, dass es uns gibt! ;)" Obwohl wir ohne Paket sind, klingeln wir.
TATZE, das ist das TierAgentenTrainingsZentrumEchsenburg. Der unscheinbare Ort Echsenburg in Nordsüdbayern ist so unbekannt, dass er nicht einmal einen Wikipedia-Artikel hat. Ideales Gelände, um im Verborgenen eine Lehranstalt für Spionagetiere einzurichten. Eine hagere Gestalt im schwarzen Anzug, mit Perücke, falschen Zähnen und Nase-Augenbrauen-Schnurrbartbrille nähert sich. Es ist der Leiter von TATZE, Gonzalo Krimskrams-Eisenbeißer von Hüpferdingen, wenn das überhaupt sein richtiger Name ist. "Hallo, mein Name ist Peter Grei … äh, ich meine Gonzalo Krimskrams-Eisenbeißer von Hüpferdingen. Wir können gleich mit der Führung beginnen. Zuerst kommen allerdings die Sicherheitschecks." Handy, Aufnahmegerät, Fotoapparat, sogar den Notizblock: Alles dürfen wir gerne mitnehmen. Nur Tierfutter ist nicht erlaubt. "Alle AAAs – Animalischen Agenten-Azubis – haben einen rigiden Speiseplan, der nicht unterwandert werden darf." Sofort fallen uns die vielen "Agenten bitte nicht füttern!"-Schilder auf, als wir auf lehmigem Boden die ersten Schritte ins Epizentrum der internationalen Tierspionage machen. Das Areal, das an einen Tierpark erinnert, ist riesig.
Vom harmlosen Streichelzoo zum trickreichen Streichezoo
Seit vier Monaten gibt es das TATZE. Damals ging der Streichelzoo "Wolkenweiche Fellzottel" pleite. Für Krimskrams-Eisenbeißer von Hüpferdingen eine Chance. Er kaufte das Grundstück und schult hier seither Tiere zu Geheimdienstlern um. "Ich war schon davor im Security-Bereich tätig – als Vertreter für Türspione. Da war es bloß ein kleiner Schritt zum Bereich Tierspione." Heute zählt dieses Trainingszentrum Nachrichtendienste weltweit zu seinem Kundenstamm. "Natürlich darf ich nicht sagen, wer genau meine Auftraggeber:innen sind, aber es gibt sie. Es gibt sie tatsächlich. Echt jetzt!", versichert Gonzalo mit ins Wahnsinnige überdrehter Stimme glaubwürdig.
Die erste Station des Rundganges ist ein Agentengehege, das auf den ersten Blick unbewohnt wirkt. Ein Dickicht aus Laubbäumen und Cocktailbars gibt genügend Rückzugsmöglichkeiten für den dort hausenden Special Agent. "Einer unserer Besten, jedoch vor allem nachtaktiv. Da drüben hockt er." Am moosigen Fuße einer prächtigen Buche schnarcht ein süßes, graues Fellknäuel. "Das ist unser Glis glis, Codename: '007'." "007?", fragen wir ungläubig nach. "Lasst mich ausreden: 00Siebenschläfer. Den habe ich bereits einige Male auf geheimer Mission als Schläfer in staatliche Organisationen eingeschleust. Leider hat er auch da meist geschlafen. Die einzigen Informationen, die er lieferte, waren Tipps, in welchen Botschaften es die beste Milch mit Honig gibt und welche Militärbasen die weichsten Sofas haben." Für einen kurzen Moment blickt 00Siebenschläfer auf, sieht uns aus glasigen Knopfaugen an, nippt ungerührt an seinem geschüttelten Wodka Martini und schlummert wieder ein.
Fördern von Agenten-Talenten
Bei der Spionage-Dressur, erklärt der TATZE-Direktor, als wir an einem großen Becken vorbei flanieren, an dessen Rand Robben gerade das Robben üben, gehe es um das Erkennen von Talenten. Jedes Tier sei für eine bestimmte Schnüfflertätigkeit besonders geeignet. "Spinnen geben beispielsweise hervorragende Hacker ab, sind sie doch Experten im Umgang mit Netzwerken. Die Spechtart der Wendehälse eignet sich wiederum perfekt als Doppelagenten. Oder da drüben!" Er zeigt auf ein gut abgeriegeltes Gehege. "ACHTUNG! ABSTAND HALTEN! LEBENSGEFAHR!" prangt dort auf großen Warnhinweisen. "Da drinnen ist unser Lama. Das habe ich zum Spuck-Scharfschützen ausgebildet. Einen Schritt zu nah ran und man ist tot. Gut, nicht wirklich tot, aber nass gespuckt. Die Speichel-Munition habe ich übrigens selbst entwickelt. Das Rezept kann ich freilich nicht verraten. Alles 'Top Sekret', hehehe!"
Wir erreichen eine kleine Holzhütte, die wie ein einfacher Stall wirkt. Als wir allerdings die Türe öffnen, steht darin: eine Kuh. "Das ist Q, Leiterin unserer Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Sie stattet unsere Agent:innen mit den unglaublichsten technischen Spielereien aus, wie diese!" Gonzalo deutet auf einen vor uns in der Wiese liegenden Kuhfladen. "Was wie gewöhnlicher Mist aussieht, ist in Wahrheit eine heimtückische Waffe. Man muss den Fladen nur drei Stunden in der Sonne trocknen lassen und schon kann man ihn als Stinke-Frisbee-Wurfgeschoss verwenden." Freudestrahlend reicht er Q etwas Stroh. "Und das da ist ihr neuester Geniestreich: Drückt man die stiftförmigen Ablassventile, die um den Balg angeordnet sind, spritzt Flüssigkeit heraus, die man entweder den Gegner:innen in die Augen sprayen oder als Nahrung für sich selbst verwenden kann", beschreibt der TATZE-Chef stolz das Euter der Kuh. "Und mit etwas Glück demonstriert sie gleich eine weitere ihrer Spezialitäten: Methangasbomben!"
Bestialische Betriebsspionage
Plötzlich ertönen laute Motorengeräusche. Eine von tausenden Bienen gezogene, fliegende Kapsel zeigt sich am bewölkten Himmel und nähert sich rasant. "Verdammt, meine größte Konkurrentin und Erzfeindin! Das ist die Leiterin des direkt nebenan gelegenen PraxisRaumAgentenTierZertifizierungsinstitutEchsenburg, kurz PRATZE genannt: Henriette Sauswind-Schnatterspick von Lalala, wenn das überhaupt ihr richtiger Name ist. In Deckung!" Einige Bienen lösen sich aus dem Gespann vor der Kapsel und zischen wie Gewehrkugeln herab. Knapp neben uns schlagen sie in den Boden ein. Dann erschallt eine Durchsage: "Hast du wirklich gedacht, du könntest in meiner direkten Nachbarschaft eine Tieragentenausbildungsstätte einrichten, ohne dass ich es bemerke?" Gonzalo erhebt sich, schüttelt lässig den Staub aus der Perücke und ruft: "Wie hast du es herausgefunden? Ich habe doch alles perfekt geheim gehalten … Ist mein Wendehals ein Doppelagent?"
"Nein! Ein Lieferdienst hat ein Paket für euch bei uns abgegeben!" Erneut stürzen Bienen wie Maschinengewehrsalven auf uns nieder. "Na warte!", brüllt der TATZE-Boss, holt einen von Qs Wurffladen aus der Innentasche seines Sakkos und pfeift. Unzählige Chamäleons klettern aus einem Terrarium und bedecken seinen Anzug. Mit einem Mal ist er dadurch unsichtbar geworden. Aus dem Nichts hört man ihn kreischen: "Ich werde es dir zeigen, Henriette Sauswind-Schnatterspick von Lalala! So wahr ich Gonzalo Krimskrams-Eisenbeißer von Hüpferdingen heiße!"
Wir haben genug gesehen. Gemeinsam mit den Robben robben wir zum Ausgang. Es war ein aufregender und verstörender Ausflug in die Welt der Tiergeheimdienste. Auf der Heimfahrt werden wir zur Beruhigung wohl eine Playlist mit entspannenden Spionage-Walgesängen streamen müssen.
Jürgen Miedl