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"Einfach mal machen" – Carsten Linnemann im Porträt

Die CDU braucht ein neues Grundsatzprogramm. Der Paderborner Carsten Linnemann soll sich drum kümmern. Wer ist der Mann? Eine Spurensuche.

Paderborn befindet sich im Osten von Nordrhein-Westfalen, und zwar im westlichen Ostwestfalen. Dort im südlichen Teil, also in Südwestostwestfalen, kam am 10. August 1977 Carsten Linnemann zur Welt. Die Busfahrer in diesem Bezirk können sich noch sehr gut an Carsten Linnemann erinnern. Kaum war er wenige Jahre nach seiner Geburt dort eingestiegen, um damit zur Schule zu fahren, saß er auch schon in der ersten Reihe und erzählte seinen Chauffeuren, was er zuvor in der Morgenausgabe der Tagesschau gesehen hatte.

Kaum aus dem Schulbus ausgestiegen, wandte sich der kleine Carsten seinen Lehrern zu. Die am Schulgelände gleichzeitig mit ihm ankommenden Pädagogen wurden ungefragt mit Linnemanns Börsentipps behelligt. Flucht war zwecklos, denn Linnemann trug ihnen die Tasche. Viele Lehrer stiegen deshalb auf Rucksack um. In der Schulzeit entwickelte Carsten Linnemann sein ausgeprägtes Interesse für Ludwig Erhard. Schon in der Grundschule schrieb er einen Aufsatz über "den Erfinder der sozialen Marktwirtschaft und Schöpfer des Wirtschaftswunders der 50er und 60er Jahre". Vorgabe des Aufsatzes lautete: Herbst.

Kein Schulfach gab es fortan, das er nicht in Zusammenhänge mit Ludwig Erhard brachte. Als im Deutschunterreicht der 5. Klasse jeder Schüler sein Lieblingsbuch vorstellen sollte, präsentierte Linnemann die 1925 erschienene Dissertation von Ludwig Erhard: "Wesen und Inhalt der Werteeinheit". Für das dazugehörige Referat kaufte sich der damals 10-jährige von seinem Taschengeld extra ein drahtloses Headset-Mikrofon und installierte im Klassenzimmer in jeder Ecke Bluetooth-Lautsprecher. Unbeeindruckt davon kritisierte der Lehrer aber Mängel in Sprache und Syntax. Er empfahl ihm das Vorgehen nach der Grundregel: Subjekt-Prädikat-Objekt. Deutlich gewogener war ihm sein Religionslehrer. Der Katholik Linnemann verfasste seine Facharbeit in Religion zum Thema "Ludwig Erhard. Der Messias der Ökonomie". Der Religionslehrer stammte wie Ludwig Erhard aus Fürth und war ein Skatkumpel seines Vaters. Die Facharbeit wurde mit sehr gut bewertet. Carsten Linnemann hat bei der Ergebnisbekanntgabe geweint.

Während Ludwig Erhard bis heute den theoretischen Unterbau für Linnemanns Denken bildet, holt er sich Anregung für die politische Praxis von der Straße – beziehungsweise aus dem Bus. Bei seinen Aufenthalten in Paderborn steigt er weiterhin vorne ein, um dem Busfahrer als Repräsentant des Volkes aufs Maul zu schauen. Dass der Westfale tiefe Wurzeln habe, steht nicht umsonst auf Linnemanns Homepage. Er hat diese Weisheit von einem Busfahrer aufgeschnappt. Einem anderen Busfahrer sind Linnemanns Konzepte zur Bildungspolitik zu verdanken: "Wer kein Deutsch kann, hat auf einer Schule nichts zu suchen", schimpfte der Mann am Steuer. Linnemann machte daraus eine wenigstens in AfD-Kreisen beachtete politische Forderung. Der schimpfende Buslenker ist Linnemanns Lieblingsbusfahrer. Ein Quell der Inspiration für den Politiker. Neulich zeterte er ausgiebig über die Klimakleber. Aufmerksam hörte Linnemann dem Chauffeur zu, wie er sich darüber ausließ, was er mit denen alles machen würde, wenn er es einfach mal machen könnte.

"Einfach mal machen", was für ein genialer Claim, dachte Linnemann. "Einfach mal machen", das sind drei Worte, die für ein modernes Programm stehen könnten. Wenn Linnemann einfach mal machen könnte, was dann nicht alles möglich wäre! Am meisten begeistert ihn seine eigene Idee der Pilotregionen, in denen für ein Jahr alle Grenzen aufgehoben würden. "Man könnte autonomes Fahren einfach mal ausprobieren. Man könnte im Arbeitsrecht die totale Flexibilität testen und Schulleitern könnte man mit unendlichen Freiheiten ausstatten. Stellen Sie sich vor, was wir erreichen, wenn wir die Leute einfach mal machen ließen", hat er noch während einer der beflügelnden Busfahrten mit seinem Handy direkt auf seine Homepage geschrieben. Am liebsten würde er das auch direkt so ins CDU-Programm hineinschreiben. Aber selbst als Leiter der Programm- und Grundsatzkommission seiner Partei hat er keine absoluten Rechte. Linnemann ist aber überzeugt, dass seine Visionen für die notwendigen Mehrheiten sorgen werden: Busfahrer, die sich ausgiebig um die frechen Schulkinder kümmern könnten, weil der Bus von alleine fährt, Arbeitgeber, die vollkommen rechtsfreie Beschäftigungsverhältnisse eingehen dürfen, in denen auch Klimakleber zur Zwangsarbeit verpflichtet werden könnten – und natürlich die Rückkehr der schwarzen Rohstockpädagogik. Das sind Aussichten, die für feuchte Träume bei CDU-Mitgliedern sorgen müssen, weiß Linnemann nicht zuletzt aus eigener Erfahrung. Natürlich soll das Grundsatzprogramm den Titel "Einfach mal machen" tragen, womit er auch späte Rache an seinem Deutschlehrer üben kann, denn durchaus funktionieren in Linnemanns Welt Sätze auch ohne Subjekt-Prädikat-Objekt. Man kann auch Sätze einfach mal machen.

Carsten Linnemann hat sich die Wortmarke schon mal rechtlich schützen lassen. Und weil ihm der Slogan gehört, nutzt er ihn auch eifrig und hat seit Anfang des Jahres einen Podcast mit dem Titel "Einfach mal machen". Zu dem lädt er immer zwei Leute aus seinem eigenen politischen Umfeld ein, um mit ihnen kontrovers zu diskutieren. Leute wie Philipp Amthor oder Caroline Bosbach aus der CDU. Oder Ulrike Herrmann. Wobei diese ihm erst in der Sendung erzählte, dass sie schon 1989 aus der CDU ausgetreten und mittlerweile bei den Grünen ist. Zur regelrechten Blasphemie kam es aber, als sie sagte, das Wirtschaftswunder der 60er Jahre sei ein europäisches Phänomen gewesen, das von der allgegenwärtigen Aufbaunotwendigkeit herrührte. Ludwig Erhard hätte darauf keinerlei Einfluss gehabt; er sei sogar ein Faulpelz gewesen. "So eine Hexe", flucht Linnemann beim Gedanken an diese Panne. Früher hätte man solche Leute verbrannt. Wenn man einfach mal machen dürfe ...


Günter Flott

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Keine Frage, DHT Speditionsgesellschaft,

steht da auf Deinen Lkw, sondern eine Aussage: »Lust auf Last«.

Als Du damit auf der Autobahn an uns vorbeirauschtest, waren wir erst mal verwirrt: Kann man wirklich Lust auf etwas haben, was laut Duden »durch sein Gewicht als drückend empfunden wird«? Erst dachten wir noch, dass Du vielleicht was anderes damit meinst. »Last Christmas, I gave you my heart«, »Last uns froh und munter sein«, »I last my heart in San Francisco« – irgendwie so was.

Aber offenbar behauptest Du tatsächlich einfach, dass Du Spaß an der monotonen und zermürbenden Aufgabe hättest, dem Kapitalismus seine Waren über die stinkenden Autobahnen zu fahren, dabei Sonntage auf zugepissten Autohöfen zu verbringen und Dich beim Überholmanöver von Teslas und Audi A-Sonstwas anhupen zu lassen. Diese »Lust« wünschen wir Dir von ganzem Herzen, aber vermuten doch ganz stark, dass Dir der Spruch von jemandem auf den Lkw diktiert wurde, der bei der Berufswahl »Lust auf Marketing« hatte und seine Mittagspausen nicht in der Fahrerkabine, sondern beim Bagel-Laden in der Innenstadt verbringt.

Fahren an der nächsten Ausfahrt ab: Deine Leichtgewichte von Titanic

 Hmmm, Aurelie von Blazekovic (»SZ«)!

Am Abend der Wahlen in Thüringen und Sachsen hatte die ZDF-Chefredakteurin Schausten dem 1. September 2024 den 1. September 1939 an die Seite gestellt, und dazu fiel Ihnen dies ein: »Das Dämonisieren von Rechtspopulisten hatte bisher keinen Erfolg. Egal, wie richtig es ist, dass die AfD gefährlich, radikal, extrem ist. Politiker, Journalisten, Demokratieverteidiger können das immer noch lauter und lauter rufen – aber es bringt nichts. Die berechtigten Warnungen sind inzwischen leere Formeln. Die Wahlergebnisse der AfD sind immer besser geworden, der Trotz immer erheblicher. Die Tatsache, dass sie sich beständig als Opfer von Medien inszenieren kann, hat der Partei genutzt. Es ist nicht die Aufgabe von Bettina Schausten, die AfD kleinzukriegen, sondern die der anderen Parteien. Sie sollten mal über den Tim-Walz-Weg nachdenken. Ist Björn Höcke etwa nicht weird

Ist er. Hitler war es auch, und ihn als »Anstreicher« (Brecht) oder inexistenten Krachmacher (Tucholsky) zu entdämonisieren, hat bekanntlich so viel gebracht, dass diese Sätze nie haben fallen müssen: »Man hat mich immer als Propheten ausgelacht. Von denen, die damals lachten, lachen heute Unzählige nicht mehr, und die jetzt noch lachen, werden in einiger Zeit vielleicht auch nicht mehr lachen.«

Wegweisend winkt Titanic

 Katsching, Todd Boehly!

Sie haben sich von Ihrem sauer Errafften den englischen Fußballverein FC Chelsea angelacht, der Titel holen soll, allerdings unter Ihrer Leitung lediglich einen einstelligen Tabellenplatz im nationalen Wettbewerb vorzuweisen hat. Zur Generalüberholung der in der Mittelmäßigkeit versackten Blauhemden sind auf Ihr Geheiß für über eine Milliarde Euro insgesamt 39 Fußballer verpflichtet worden, womit der aktuelle Kader mindestens 44 Spieler umfasst (darunter zehn Torhüter, von denen laut derzeit gültigem Regelwerk leider trotzdem nur einer das Tor hüten darf).

Zu dem über Ihrer Truppe ausgekübelten Spott tragen wir allerdings nicht bei, aus unserem Mund also keine Mutmaßungen über beengte Verhältnisse unter der Dusche oder die vollen Körbe am Trikotwaschtag. Denn selbstverständlich wird ein ausgebufftes Finanzgenie wie Sie, Boehly, seine Gründe haben, viermal elf Freunde mit Verträgen, die zum Teil bis ins nächste Jahrzehnt laufen, auszustatten. Denn wissen wir nicht alle, dass in diesen unsicheren Zeiten das Geld auf der Bank am besten aufgehoben ist?

Guckt eh lieber von der Tribüne aus zu: Titanic

 Bitte schön, Annika Stechemesser!

Sie sind Klimaforscherin in Potsdam, wurden in der Frankfurter Rundschau am Tag nach den brisanten Landtagswahlen zum Thema »effektiver Klimaschutz« interviewt, und da wir heute auf keinen Fall Witze mit Namen machen wollen, lassen wir das einfach mal so stechen, äh, stehen!

Ganz lieb grüßt Ihre Titanic

 Njamm, REWE!

Da lief uns ja das Wasser im Mund zusammen, als wir in einer Deiner Filialen mit dieser Werbung beschallt wurden: »Der Sommer schmeckt nach Heinz«. Mmmh! Nach welchem denn? Heinz Rühmann? Heinz Erhardt? Heinz Rudolf Kunze? Oder gar Karl-Heinz Rummenigge? Worauf wir danach aber komischerweise gar keinen Appetit mehr hatten, war Ketchup.

Im Anschluss an diesen Brief haben wir gleich noch ein paar weitere Erledigungen zu machen und freuen uns schon auf Durchsagen wie »Der Herbst schmeckt nach Stuhl« bei Ikea, »Der Herbst schmeckt nach Eicheln« im Gartencenter, »Der Herbst schmeckt nach getrockneten Ochsenschwänzen« im Tierfutterhandel oder »Der Herbst schmeckt nach Linoleum« im Baumarkt!

Deine Heinzelmäuse von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Im Unterzucker

Wenn man sich bei seinem Lieblingsitaliener keine Pizza bestellen kann, weil man nicht alle Vespas auf den Fotos gefunden hat – liegt das dann am nicht bestandenen Turin-Test?

Lara Wagner

 Kurzzeitgenossen

Bei der Meldung zu Anton Bruckners 200. Geburtsjubiläum (4. September) und dem tags darauf sich jährenden Geburtstag Heimito von Doderers (5. September) mit Interesse bemerkt, dass beide Herren im Jahr 1896 kurz gleichzeitig am Leben waren: nämlich fünf Wochen und einen Tag lang, von Klein-Heimitos Entbindung bis zu Bruckners Tod am 11. Oktober. Solche ganz knapp verpassten Möglichkeiten der Seelenwanderung faszinieren mich. Was wäre gewesen, hätte man Doderer etwas später zur Welt gebracht, wäre Bruckners Geist schon ein paar Wochen früher »frei« gewesen? Hätte Wien / Ansfelden ein reinkarniertes Doppeltalent Heimtoni von Brucknerer überhaupt ausgehalten, hätte die literarisch-musikalische Welt unter dem Eindruck der »Strudlhofsinfonie«, des »Rondo in c-Moll für Streichquartett und einen Merowinger« (Alternativtitel: »Die tonale Familie«) oder der kurzen vierstimmigen Motette »Die Peinigung der Orgelpfeifelchen« vor Entzücken und Überwältigung alle viere von sich gestreckt, aufgegeben und ihren Kulturbeutel auf immerdar zusammengepackt? – Dass das Spekulieren über solche vergeigten Leider-nicht-Seelenwanderungen nur sehr ausnahmsweise Sinn ergibt, dämmerte mir aber, als ich ad notam nahm, mit welchen Gruselgestalten und potentiellen Reinkarnationsgefäßen seinerseits Doderer seine allerletzten Tage im Herbst 1966 verbringen musste: Stefan Raab (*20.10.66), David Cameron (*9.10.66), Caroline Beil (*3.11.66) und sogar noch haarscharf David Safier (*13.12.66, »Miss Merkel – Mord am Friedhof«; »Der kleine Ritter Kackebart«). Dann schon lieber die Seele mit in die Hölle nehmen.

Michael Ziegelwagner

 Obacht!

Die Ankündigung von Mautgebühren ist furchterregend, aber so richtig Gänsehaut bekomme ich immer erst, wenn bei Google Maps als »Warnhinweis« auftaucht: »Diese Route verläuft durch Österreich.«

Norbert Behr

 Schrödingers Ruhebereich

Wenn es im Abteil so still ist, dass ein Fahrgast einschläft und dann übertrieben laut schnarcht.

Loreen Bauer

 Alle meine Aversionen

Was ich überhaupt nicht schätze:
»Mädchen, ich erklär dir ...«-Sätze.

Was ich nicht so super finde:
Bluten ohne Monatsbinde.

Was ich gar nicht leiden kann:
Sex mit einem Staatstyrann.

Den Rest, auch Alkoholkonzerne,
mag ich eigentlich ganz gerne.

Ella Carina Werner

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 03.10.: Der MDR kramt bei der Debatte, ob Ostdeutschland in den Medien schlechtgeredet wird, die Zonen-Gaby wieder hervor.
  • 26.09.:

    Noch-Grünenchefin Ricarda Lang retweetet "ihren" Onlinecartoon vom 25.09.

  • 18.09.: TITANIC-Zeichnerin Hilke Raddatz ("Briefe an die Leser") ist mit dem Wilhelm-Busch-Preis geehrt worden. Die SZLZ und der NDR berichten.
  • 12.09.:

    "Heute detoxe ich im Manager-Retreat im Taunus": TITANIC-Chefredakteurin Julia Mateus im Interview mit dem Medieninsider.

  • 29.08.:

    Die FR erwähnt den "Björnout"-Startcartoon vom 28.08.

Titanic unterwegs
15.10.2024 Tuttlingen, Stadthalle Hauck & Bauer und Thomas Gsella
16.10.2024 München, Volkstheater Moritz Hürtgen mit Max Kersting und Maria Muhar
16.10.2024 Hamburg, Centralkomitee Ella Carina Werner
16.10.2024 Frankfurt, Buchmesse TITANIC auf der Frankfurter Buchmesse