Artikel
Volkskrankheit Selbstfeieritis
Auf der Homepage irgendwelcher Astrologiearmleuchter war Anfang Januar zu lesen, dass man sich im Jahr 2023 viel häufiger selbst feiern solle. Parole: "Sei dein eigener Cheerleader!" Die übliche esoterische Diana-zur-Löwen-Selbstermächtigungsscheiße von durchgeknallten Räucherstäbchenfressern halt – denkt man! Doch die Idee der Selbstfeier hat sich längst in allen Bereichen des täglichen Lebens etabliert. Eine Rekonstruktion von Feierexperte Cornelius W. M. Oettle.
Grund zu staunen hatte, wer am 14. März 2023 die Homepage der Lübecker Nachrichten überflog: Helene Fischer im Duett mit Schlager-Queen Kerstin Ott in Kellenhusen?!
Da bei genauem Hinsehen schon die Überschrift verrät, dass es sich bei den abgebildeten Personen lediglich um täuschend ähnlich daherkommende Doppelgänger handelt, hätte man sich die 70 Euro für das in blinder Euphorie abgeschlossene "LN+"-Jahresabo im Grunde sparen können. Aber der Blick hinter die Paywall lohnte dennoch, war dort doch über ebenjenes Event in Kellenhusen zu lesen: "In einem Zeitalter, in dem der Tourismus im Ort eine zentrale Rolle einnehme, sei es 'natürlich eine tolle Geschichte', sagte Touristikleiter Raymond Kiesbye und hob hervor: 'Kellenhusen feiert sich selbst.'"
Kellenhusen feiert sich selbst. Ein Satz wie ein Tritt in den Steiß. Das esoterische Konzept der Selbstfeier hat offensichtlich ein Ausmaß erreicht, das für eine Demokratie zur Gefahr zu werden droht. Kurz nach der Nachricht aus Kellenhusen ließ ein weiterer Satz aufhorchen: "Ornbau: Die kleinste Stadt Mittelfrankens feiert sich selbst" vermeldete Radio Galaxy Mittelfranken.
Auch bei der Selbstfeier macht die Dosis das Gift. Feiert sich Kellenhusen selbst, mag das erstmal verkraftbar erscheinen. Auch die Selbstfeier Ornbaus können wir als Gesellschaft noch irgendwie schultern. Problematisch wird es jedoch, wenn plötzlich alles und jeder sich selbst feiert.
Genau auf diesen Kipppunkt steuern wir in voller Feierlaune zu. Das im Fachjargon "Autozelebrierung" genannte Phänomen greift um sich. Wer wachen Auges durch die Zeitungen blättert, ahnt das Unheil angesichts solcher Schlagzeilen längst: "Heimertshausen feiert sich selbst" (Oberhessische Zeitung), "Das Wittener Wiesenviertel feiert sich selbst" (WAZ), "Der Verwaltungsverband Vorderes Kandertal feiert sich selbst" (Badische Zeitung).
Hier läuft etwas aus dem Ruder, das wir am Ende womöglich nicht mehr einhegen können. Ganz andere Entitäten könnten sich dieser Selbstfeierei bald anschließen und dabei Kellenhusen und das Wittener Wiesenviertel als Vorwand für ihr eigenes schändliches Treiben nutzen wie Wladimir Putin die Irakinvasion der US-Amerikaner. Wenn schon Heimertshausen glaubt, sich selbst feiern zu müssen, wer würde dann wohl als nächstes auf diese Idee kommen? Gianni Infantino?!
Ganz genau: "Infantino feiert sich selbst – und wird als Fifa-Präsident wiedergewählt" titelte nur zwei Tage nach den Lübecker Nachrichten der Spiegel.
Da das TITANIC-Paywall-Budget nach den 70 Euro für das Jahresabo der Lübecker Nachrichten bereits aufgezehrt war, war für den Spiegel nichts mehr übrig, weshalb sich auch nicht ermitteln ließ, wie und wofür ein Fifa-Präsident sich selbst verherrlicht. Klar ist jedoch ohnehin: Der schweiz-italienische Jeff Bezos hat nun wirklich gar keinen Grund, sich selbst zu feiern.
Generell gibt es auf der ganzen Welt neben Infantino wohl nur einen Menschen, der noch weniger Anlass dazu hätte: Verkehrsminister Volker Wissing, der in den letzten Wochen wie ein ölbetriebener Lobbylöwe dafür gekämpft hat, die Zukunft unserer Kinder in eine dystopische Wüstenhölle zu verwandeln. Doch schon eine Woche nach Infantinos Self-Empowerment las man ebenfalls auf der Website der Hamburger Wochenzeitschrift: "Verkehrsminister Wissing hat der EU-Kommission einen Kompromiss in Sachen Verbrenner-Verbot abgetrotzt – und feiert sich selbst." Die Selbstfeieritis hat sich von einer regionalzeitungsbegrenzten Epidemie zu einem pandemischen Notstand emporgemausert. Die Jahresvision der Astrologiearmleuchter ist Realität.
Warum aber sind es zuvörderst die abgefucktesten Drecksäcke und skrupelärmsten Verbrechervereine, die sich selbst feiern? Einen Videobeitrag namens "Die AfD feiert sich selbst“ veröffentlichte der Stern im Februar. Abermals im Spiegel findet sich die Überschrift "Die Ölindustrie feiert sich selbst". Bei n-tv heißt es "Der FC Bayern feiert sich selbst". Und auf welt.de liest man: "Xi Jinping feiert sich selbst". Die naheliegende Antwort: Diese Leute feiert sonst ganz einfach niemand.
Sich ob dieser Erkenntnis dem Spott hinzugeben, wäre jedoch verfehlt. Vielmehr leitet sich daraus ein Auftrag für unsere Wertegemeinschaft ab: Wir alle müssen die AfD, die Ölindustrie und Xi Jinping viel öfter feiern, damit sie sich nicht mehr selbst feiern. Kurz: Wir dürfen das Feiern der AfD nicht der AfD überlassen. Allein: Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Tatsächlich schleicht sich das Selbstfeiern schon seit Jahren in die globale Gesellschaft und ist so auch in der Bundesrepublik fast unbemerkt zur Volkskrankheit avanciert. Meldungen wie "Die Prinzen feiern sich selbst" (Weser Kurier) oder "Max Kruse feiert sich selbst" (Bild) oder auch "Cathy Hummels im sexy Cut-Out-Bikini: Sie feiert sich selbst" (promipool.de) sind nur die Spitze des Bergfests. Selbstfeierratgeber liegen in unserem Land mittlerweile als Bestseller in den Kiosken. ("Herr Janosch, wie feiert man sich selbst?", riva Verlag, 9 Euro)
Was also ist zu tun? Um der Selbstfeierei entgegenzuwirken, kann es schon helfen, wenn wir nicht einfach wegschauen. Relevant ist dabei nicht nur die Frage, wer sich selbst feiert, sondern auch, wer darüber berichtet. Besonders gern verbreitet neben dem Spiegel auch der Tagesspiegel die Kunde der Selbstfeier: "Ein Land feiert sich selbst" erfahren wir dort nicht über Deutschland, das sich selbst nicht mehr feiern muss, weil sich hier ja offenbar bereits jeder Einwohner selbst feiert, sondern über Katar. Außerdem im Tagesspiegel zu lesen: "Ein Haus der tausend Worte feiert sich selbst", "Das Berliner Nachtleben feiert sich selbst", "Die Hauptstadtkorrespondenten feiern sich selbst", "Frankreich feiert sich selbst" und "Berlins erfolgreichste Eventmanager feiern sich selbst". Die Nachricht "Tagesspiegel feiert sich selbst" stand hingegen in der taz.