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Wie eine Frührentnerin für einen klimaneutralen assistierten Suizid kämpft
Mit nachdenklichem Blick sitzt Marita Oertel in ihrem Wohnzimmer im sachsen-anhaltischen Osterburg, eine großbäuchige Tasse mit den Händen fest umklammert. Mittelgraues Rollkragenoberteil, Holzperlenkette, Brille mit auffälliger lilafarbener Umrandung. Nur zum Sprechen stellt die 60-jährige Frührentnerin ihren Roibuschtee kurz auf den an ihren Füßen hockenden Massivholzcouchtisch. Das Weiß der Tasse bildet dann einen prächtigen Kontrast zum dunklen Nussholz. Als TITANIC Marita Oertel zum ersten Mal trifft, ist es Herbst geworden in der Altmark. Vor dem Fenster stemmen sich noch ein paar Birken mit ihrem gelben, rauschenden Blattwerk gegen den gerade aufziehenden Wind. Vom Ahorn aus dem Garten der Familie hat sie in der Wohnung große rote Blätter zur Dekoration ausgelegt.
Frühverrentung nach Bandscheibenvorfall
Marita Oertels Geschichte ist nicht nur ein Beispiel dafür, wie schwer sich Deutschland mit der Anpassung an die ins Haus stehende Klimakatastrophe tut. Sie ist auch ein Lehrstück darüber, wie der Staat den Menschen immer noch mit seinen Gesetzen und Vorschriften in intimste Angelegenheiten hinein reguliert. Und sie so um ihre Selbstbestimmung bringt. In den vergangenen drei Jahren hat Marita Oertel einen regelrechten Antragskrieg mit Behörden geführt. Fein säuberlich hat sie jeden Briefwechsel in einem eigens angelegten Ordner abgeheftet. Denn Marita Oertel möchte sterben. Eigentlich.
Früher arbeitete Oertel 40 Stunden in einem Backshop. Mit viel Disziplin reichte das Geld gerade so dafür, die drei Kinder durchs Gymnasium zu bringen und ihnen auch noch das Studieren an Hochschule und Universität zu ermöglichen. Vor 4 Jahren dann der Schock: Bandscheibenvorfall, operativer Eingriff, trotzdem Persistieren der Symptome. Marita Oertel darf keine schweren Gegenstände mehr heben. Die Schmerzen verunmöglichen das viele Stehen im Laden. Später kommt eine Harninkontinenz hinzu, verursacht durch die Komprimierung der anliegenden Nervenbahnen. Frühverrentung.
Der Job zwischen Brötchen, Kuchen und frisch aufgebrühtem Kaffee machte ihr Spaß. Unter den Kolleginnen verstand man sich, reiste gemeinsam zum Wandern in die Alpen. Doch jetzt reicht das Geld kaum, um den Hauskredit abzubezahlen. Die Kinder müssen einspringen – etwas, das Marita Oertel sichtlich belastet. "Sie sollten es doch einmal besser haben als meine Generation", erklärt Oertel. Jetzt müssen sie neben dem Studium arbeiten. "Nicht, um sich etwas dazu zu verdienen. Sondern um ein Haus in einer Region zu finanzieren, die schrumpft, die für Akademiker keine Zukunft zu bieten hat."
Assistierter Suizid – doch zu welchem Preis?
Also beschloss Marita Oertel, dass sie ihrem Nachwuchs nicht mehr zur Last fallen wollte. Doch weil der assistierte Suizid in Deutschland noch immer nicht erlaubt ist, versuchte es Oertel auf dem Klageweg. Das Oberverwaltungsgericht Magdeburg wies ihr Ansinnen nach einem langen Rechtsstreit schlussendlich ab. Eine Revision in der Sache ließ das Gericht nicht zu. In seinem Schreiben, das TITANIC vorliegt, verweist es darauf, dass das Verfassungsgericht die Bundesregierung bereits im Jahr 2020 auf die Verfassungswidrigkeit des sogenannten Verbots der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung hingewiesen hatte.
Doch zu einer Neuregelung ist es bisher nicht gekommen. Marita Oertel muss also warten. Und in ihrem inzwischen viel zu großen Haus in Osterburg mit den leeren Kinderzimmern, das wegen der Kontaktbeschränkungen der Corona-Pandemie nun noch ruhiger geworden ist als sowieso schon, kommt Oertel an einem ihrer mit ZDFinfo-Dokus verbrachten Nachmittage ins Nachdenken.
Denn stand das, wofür sie sich da vor Gericht engagiert hatte, eigentlich im Einklang mit ihren Überzeugungen, Werten, ihrem Motiv? "Wenn es mir darum geht, keine Last für die Zukunft meiner lieben Kinder zu sein, dann muss doch auch mein Fortgang aus der Welt möglichst wenig Gewicht hinterlassen. Gewicht, das sonst zukünftige Generationen schultern müssen", erklärt die Rentnerin. Sie tut das wie auch in den weiteren Gesprächen mit viel Bedacht, mit sorgsam ausgewählten Worten.
Was ist eigentlich der CO2-Fußbabdruck eines Sterbehilfeprozesses, seine Klimabilanz? Was sind die verdeckten Kosten der Betreuung im Krankenhaus, der dabei verwandten Geräte und Medikamente? In Sachsen-Anhalt muss ein Sarg aus massivem Holz sein. Beim Zersetzungsprozess gibt dann aber nicht nur der Körper geringe Mengen des in ihm gespeicherten CO2 an die Umwelt ab. Viel mehr des Klimakillers entsteht beim Verrotten von Pflanzenteilen – und somit auch durch den obligatorischen Sarg. Eine Möglichkeit zur Tuchbestattung hat die Landesregierung zwar im Januar vergangenen Jahres angekündigt. Doch die lässt auf sich warten. Ansonsten bekannte sich die in Magdeburg regierende Deutschland-Koalition aus CDU, SPD und FDP dazu, dass auch weiterhin jeder Bürger im Land auf einem Friedhof bestattet werden muss.
Denn: In Deutschland herrscht seit Verabschiedung des preußischen Allgemeinen Landrechts ein sogenannter Friedhofszwang. 1934 wurde er für die Feuerbestattung erneut gesetzlich festgeschrieben. "Ein Naziparagraph mit Kontinuitäten bis ins Jahr 2023!", sagt Oertel. Unfassbar findet sie das. Wieso darf sie ihren Körper nicht einfach zurück in den Kreislauf der Natur geben, hier, im Garten hinter ihrem Haus in Osterburg? In Bremen ist diese Form der Bestattung bereits möglich, allerdings erst nach einer Verbrennung. Und: Wieso soll sie für ein Prozedere bezahlen, das die rasant fortschreitende Zerstörung der Lebensgrundlagen von Milliarden von Menschen nur noch weiter beschleunigt?
Bestattung im Tree of Life
Bei einer Netzrecherche findet Marita Oertel heraus: Im benachbarten Seehausen gibt es eine Firma, die Tree-of-Life-Bestattungen anbietet. Das Vorgehen: Zunächst wird die Leiche eingeäschert. Nach der regulären Trauerfeier übergibt der Bestatter die Urne zu Tree of Life in Seehausen. Die wiederum bringt die Asche in die Niederlande. Hier gilt traditionell ein liberaleres Bestattungsrecht.
Im Beisein eines Notars werden die Überreste dann in einen Pflanztopf gegeben, wo man sie mit einem speziellen Nährstoffpulver und Erde vermischt. Dann pflanzen die Tree-of-Life-Bestatter ein junges Bäumchen in das so angemischte Substrat. Nach niederländischem Recht gilt eine Leiche damit als beigesetzt. Der Setzling nimmt die Asche des Verstorbenen wie einen Dünger auf. Nach sechs bis neun Monaten sind die Nährstoffe im Pflanzenwachstum aufgegangen. Der Pflanzkübel mit dem jungen Baum kann nun ganz legal wieder zurück nach Seehausen gefahren werden. Von dort geht es ins benachbarte Osterburg. Eine junge Winterlinde oder eine im Frühjahr rosa aufblühende Harlekinweide, das hätte sich auch Marita Oertel gut vorstellen können.
Doch nach langem Überlegen entscheidet sie sich dagegen, die Dienste von Tree of Life in Anspruch zu nehmen. Denn: Was ist mit dem Gas, das beim Einäschern im Krematorium verbraucht wird, dessen Brennrückstände das Klima belasten? Auch Putins mit Erträgen aus dem Gasgeschäft finanzierter Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Rentnerin zusätzlich in ihrem Entschluss bestärkt. Und sie will nicht, dass nur wegen ihr ein Auto in die fernen Niederlande und zurück fährt – "Zwei mal!", ruft sie fast schon entsetzt. Es ist einer der wenigen Momente, in denen in der sonst so gefassten Frau die Wut greifbar wird, die unter der Oberfläche brodelt. Denn: Konnte sie den dabei entstehenden Ausstoß von Treibhausgasen in die Atmosphäre vor sich selbst rechtfertigen? Die Fahrten des Notars sowie diejenigen zum und vom Krematorium sind da noch nicht mit eingerechnet. Oertel senkt den Kopf, greift wieder zu dem rot schimmernden Roibuschtee. Jetzt rührt sie gedankenverloren noch eine Stevia-Süßmitteltablette ein.
Also fängt Marita Oertel wieder an, zu kämpfen. Diesmal nicht gegen den § 217 StGB, das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung. Sondern gegen das BestattG LSA, das Gesetz über das Leichen-, Bestattungs- und Friedhofswesen des Landes Sachsen-Anhalt. Selbstbestimmt und dabei sanft zur Umwelt, so stellt sich Marita Oertel ihren Tod vor. Es folgen Schreiben an das Bürgeramt, den Landkreis in Stendal, das Landesjustizministerium. Auch einen sehr persönlichen Brief an Ministerpräsident Reiner Haseloff hat Marita Oertel verschickt. Sie weist auf Kopien dieser Anschreiben, die sie auf dem Flechtteppich aus Kokosfaser am Boden ausgebreitet hat.
Doch eine Antwort hat sie nicht erhalten. Gerade bereitet sie mit Gleichgesinnten eine Petition an den Landtag vor. In der nächsten Woche will man sich wieder in der örtlichen Kaffeestube treffen. Die anderen Frauen sorgen sich wie Oertel meist ebenfalls darum, welch schweres Erbe sie ihren Kindern überlassen. Nun, wo sie älter sind, sehen sie viele Dinge anders. Mit mehr Überblick. Nicht wie früher, als die Frauen noch wegen jeder Kleinigkeit den Shuttledienst der Familie mit dem PKW gespielt haben. "Es klingt vielleicht seltsam, aber durch meinen Kampf für einen klimaneutralen assistierten Suizid habe ich nicht nur neue Freunde, sondern auch neue Lebensfreude gefunden", erklärt sie. So oder so: Die Frauen wollen weitermachen. Bis ihr Ziel irgendwann erreicht ist.
Jeja Klein