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Flüster! Schlabber! Schmatz! Zu Besuch bei einem ASMR-Youtuber

Videos, in denen Menschen sich beim Döneressen filmen, Rascheltöne erzeugen, flüstern, kratzen oder klopfen, sollen bei psychischen Problemen beruhigend wirken und werden millionenfach geklickt. TITANIC hat vor lauter Entspannung versehentlich mehrmals bei einem ASMR-Spezialisten übernachtet und ihm außerhalb der REM-Phasen bei seiner Arbeit über die Schulter geschaut.  

 

Wir treffen Eddie Smügge beim Verspeisen einer Pizza im Studio seines Penthouses in München-Mitte. Er schmatzt, saugt tief Luft zwischen seinen Zähnen ein, stößt sie mit spitzen Lippen pfeifend wieder aus und löst die entstandene Anspannung mit einem kehligen Fünf-Sekunden-Rülpser.  Wir stutzen. Mikro und Kamera sind anscheinend noch gar nicht eingeschaltet. "Ich mach gerade Mittagspause", lässt der mit ASMR-Videos stinkreich gewordene Youtuber uns wissen. ASMR steht für "Autonomous Sensory Meridian Response" und umschreibt ein wohltuendes Kribbeln, das sich, getriggert von akustischen Reizen wie Schlabbern, Kratzen, Klopfen oder Flüstern im ganzen Körper ausbreitet und auf seinem Höhepunkt bei Zuhörern eine garantiert legale Form der Entspannung auslösen kann. "Die einen nennen es ˈTingleˈ, andere sprechen gar von einem Kopforgasmus", zwinkert Eddie uns mit unangemessen vielsagendem Blick zu.

 

Gelegentlich biete er auch Blowjobs an

Das Talent des Soundmagiers ist bekannt und wird international geschätzt. Neben seiner Tätigkeit als ASMR-Experte hat der 32jährige von zu Hause aus sämtliche Zombie-Fressklänge zu "The Walking Dead" und "The Taste" beigesteuert. Als Oraldouble übernimmt der Pädagogik-Studienabbrecher zudem für den schwer an Alters-Mundtrockenheit erkrankten Udo Lindenberg über eine Standleitung sämtliche Alltags-Schmatzgeräusche. Den Löwenanteil seines sechsstelligen Jahressalärs erzielt Eddie aber durch das öffentliche Bewerben von Lebensmitteln, die so abstoßend schmecken, dass man sie nur röchelnd, wiederkäuend und würgend hinunterbekommt, und somit genau das liefern, was ASMR-Geeks wollen. Sowohl die ungenießbare Pferde-Lasagne von "Ja!" als auch die Tomaten-Nudelsuppe mit Fleischbällchen (Aldi Süd) tragen auf dem Etikett mittlerweile Eddies zertifiziertes Daumen-hoch-Siegel und sind in der Szene zu stark nachgefragten Kultprodukten avanciert. Gelegentlich biete er auch Blowjobs an, versetzt uns der sympathische Überflieger aus heiterem Himmel einen Schock. Zum Glück redet er schneller weiter, als wir unseren Impuls zu rennen in die Tat umsetzen können: "Beim ˈEar-Blowingˈ puste ich aus wechselnder Entfernung und mit unterschiedlicher Intensität ins Mikro, während die Abonnenten vor ihren Bildschirmen meinen Mundgeruch erahnen und dabei in tiefe Trance verfallen. Viele meiner Follower lassen sich so Nacht für Nacht von mir in den Schlaf blasen", verkündet Eddie grinsend, während wir ein weiteres Mal – just in case – die Fluchtwege checken.

 

Der Druck sei brutal hoch

Eddie fährt fort: Fürs ˈHair-Brushingˈ habe sich der schon im Jugendalter auf der Platte kahl gewordene Ex-Nerd das verbliebene Seitenhaar bis zur Schulter wachsen lassen. Dadurch sehe er zwar ein wenig aus wie der Geist in Beetlejuice  – er schaue aber ohnehin lieber auf seine Kontoauszüge anstatt auf sein Spiegelbild. Mit dem Hype um ASMR könne er abseits seiner eigenen Profitgier kaum etwas anfangen. "Meine ˈTinglesˈ habe ich ausschließlich beim Zählen von 500-Euro-Scheinen, beim Aufheulen eines Ferrari 488 GTB oder während ich mich angesichts meines sekündlich wachsenden Reichtums selbst manisch lachen höre", gackert Eddie schrill auf, nur um uns danach von den Schattenseiten seiner schillernden Existenz zu berichten. Der Druck, auf dem noch jungen ASMR-Markt genug Geld zu verdienen, bevor im großen Stil Konkurrenz nachrückt, sei brutal hoch. Manche Bereiche seien zudem bereits von seinen Vorgängern rücksichtslos ausgebeutet worden. So habe Hape Kerkeling ihm mit seinem Alter Ego Horst Schlämmer in der "Whispering" genannten Disziplin, die sich über eine gedämpfte, aber semi-erotisch brummende Tonlage definiert, nur noch verbrannte Erde hinterlassen.

 

Irgendwo muss die Kohle ja herkommen, oder?

"Außerdem gibt es in der Politik genug Profis, die sich ständig selbst multiple Kopforgasmen verpassen und das Wissen darüber gewinnbringend nutzen könnten. Denken Sie mal an Friedrich Merz, wenn er genussvoll ˈFffalsch!ˈ zischt oder an Markus Söder, wie er sich bei seinen Reden mit geschlossenen Augen an der Sexyness der eigenen Stimme berauscht. Wenn diese Leute aus dem aktiven Polit-Betrieb ausscheiden, kann ich meine Sachen packen!" klagt Eddie. Damit sich dieses Szenario noch möglichst lange hinauszögert, muss der Körpersound-Künstler sich für seine anspruchsvolle Kundschaft ständig selbst übertreffen. In zwei Minuten soll er im Zuge eines Livestreams zwei handkoffergroße Schwarzwälder Schinken und einen sechs Wochen alten Mürbeteig vor laufender Kamera vertilgen, während er mit den Fingernägeln über das Mikrofon kratzt, summt und sich gleichzeitig das spröde Resthaar bürstet. Danach warten im Küchenschrank noch mehrere Dosen Tomatensuppe mit Fleischeinlage. Eddie holt tief Luft und setzt die Kopfhörer auf. Bevor er online geht, dreht er sich noch mal zu uns um. "Irgendwo muss die Kohle ja herkommen, oder?"                    

Patric Hemgesberg             

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Nicht zu fassen, »Spiegel TV«!

Als uns der Youtube-Algorithmus Dein Enthüllungsvideo »Rechtsextreme in der Wikingerszene« vorschlug, wären wir fast rückwärts vom Bärenfell gefallen: In der Wikingerszene gibt es wirklich Rechte? Diese mit Runen tätowierten Outdoorenthusiast/innen, die sich am Wochenende einfach mal unter sich auf ihren Mittelaltermärkten treffen, um einer im Nationalsozialismus erdichteten Geschichtsfantasie zu frönen, und die ihre Hakenkreuzketten und -tattoos gar nicht nazimäßig meinen, sondern halt irgendwie so, wie die Nazis gesagt haben, dass Hakenkreuze vor dem Nationalsozialismus benutzt wurden, die sollen wirklich anschlussfähig für Rechte sein? Als Nächstes erzählst Du uns noch, dass Spielplätze von Kindern unterwandert werden, dass auf Wacken ein paar Metalfans gesichtet wurden oder dass in Flugzeugcockpits häufig Pilot/innen anzutreffen sind!

Nur wenn Du versuchst, uns einzureden, dass die Spiegel-Büros von Redakteur/innen unterwandert sind, glauben Dir kein Wort mehr:

Deine Blauzähne von Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

 Aaaaah, Bestsellerautor Maxim Leo!

In Ihrem neuen Roman »Wir werden jung sein« beschäftigen Sie sich mit der These, dass es in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein wird, das maximale Lebensalter von Menschen mittels neuer Medikamente auf 120, 150 oder sogar 200 Jahre zu verlängern. Grundlage sind die Erkenntnisse aus der sogenannten Longevity-Forschung, mit denen modernen Frankensteins bereits das Kunststück gelang, das Leben von Versuchsmäusen beträchtlich zu verlängern.

So verlockend der Gedanke auch ist, das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2086 bei bester Gesundheit von der heimischen Couch aus zu verfolgen und sich danach im Schaukelstuhl gemütlich das 196. Studioalbum der Rolling Stones anzuhören – wer möchte denn bitte in einer Welt leben, in der das Gerangel zwischen Joe Biden und Donald Trump noch ein ganzes Jahrhundert so weitergeht, der Papst bis zum Jüngsten Gericht durchregiert und Wladimir Putin bei seiner Kolonisierung auf andere Planeten zurückgreifen muss? Eines will man angesichts Ihrer Prognose, dass es bis zum medizinischen Durchbruch »im besten Fall noch 10 und im schlimmsten 50 Jahre dauert«, ganz bestimmt nicht: Ihren dystopischen Horrorschinken lesen!

Brennt dann doch lieber an beiden Enden und erlischt mit Stil: Titanic

 Hallo, faz.net!

»Seit dem Rückzug von Manfred Lamy«, behauptest Du, »zeigt der Trend bei dem Unternehmen aus Heidelberg nach unten. Jetzt verkaufen seine Kinder die Traditionsmarke für Füller und andere Schreibutensilien.« Aber, faz.net: Haben die Lamy-Kinder nicht gerade davon schon mehr als genug?

Schreibt dazu lieber nichts mehr: Titanic

 Grunz, Pigcasso,

malendes Schwein aus Südafrika! Du warst die erfolgreichste nicht-menschliche Künstlerin der Welt, nun bist Du verendet. Aber tröste Dich: Aus Dir wird neue Kunst entstehen. Oder was glaubst Du, was mit Deinen Borsten geschieht?

Grüße auch an Francis Bacon: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg