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Die Frau mit der Fachkräfteangel

Demografischer Wandel, Gewerkschaften, Flüchtlinge: Der deutsche Arbeitsmarkt liegt in Scherben. In Zscherben trifft TITANIC eine Headhunterin, die händeringend versucht, unbesetzten Stellen den Garaus zu machen. 

Teutschenthal, Ortsteil Zscherben: Die anhaltinische Provinz zeigt sich im idyllischen Herbstbunt (T. Gottschalk, Heyne, 2019) und verbirgt so die Herausforderungen, welchen die örtliche Wirtschaft gegenübersteht: "Dem Dorfkrug zum Schwarzen Adler fehlt Personal", sagt Thea-Marie Westerwald gelangweilt. Wir sollen erfahren, wo die 35jährige Headhunterin herkommt: "Abitur mit 1,0 am Adalbert-Stifter-Gymnasium Castrop-Rauxel, WiWi-Bachelor in Duisburg, Master in Cambridge. Danach drei Jahre McKinsey. What a ride!" Sie habe keine Lust mehr gehabt, 80 Stunden pro Woche zu arbeiten, und sich deshalb als "Executive-Search-One-Stop-Shop" selbständig gemacht. Wir nicken, so als würden wir das Wirtschafts-Denglisch verstehen. Westerwald spielt nebenbei Candy Crush. "Wissen Sie, ... schwer, … Sachsen-Anhalt gute Leute … Abwanderung!" Lakonisch knibbelt sie an ihren Fingernägeln. "Ich müsste noch bei Fleischmanufaktur Dietzel anrufen, die suchen einen Azubi. Ich sollte aber erstmal reinemachen!" Verdutzt schauen wir zu, wie unsere Gesprächspartnerin routiniert die Kneipe putzt. Michael Adolfson, der Wirt, bleibt hinter der Theke. Vorbei scheinen die guten alten Zeiten, in denen fähiges Barpersonal mit kultigen Sprüchen wie "Jetzt aber schnell, bevor es nach Glas schmeckt!" proaktiv nachgeschenkt hat. Enttäuschend!  

Nach anderthalb Stunden vertröstet die Personalexpertin den Fleischereibetrieb telefonisch: "Ich suche wie bekloppt. Die Fluktuation, die Vakanzen! Vorselektion braucht Zeit. Spätestens in zwei Wochen finde ich passendes Humankapital für das Assessment-Center." Hernach starrt sie zehn Minuten desillusioniert auf das frisch gebohnerte Fischgrätenparkett. "Jetzt ist Mittagspause." Wirt Adolfson bringt ihr einen Teller Nudeln mit Wurstgulasch (12,99 €), ein Glas Vita-Cola (4,99 €) und einen halb aufgeschnittenen Müllsack (1,99 €). Letzterer solle verhindern, dass sie ihr Georgettekleid mit strassbesetztem Schlangenledergürtel von Ralph Lauren ruiniert. Thea verschlingt hastig ihr Mahl. Während sie sich ins Kreuzworträtsel des Saalekreis-Amtsblattes vertieft, scheint sie komplett vergessen zu haben, dass sie von zwei Journalist:innen begleitet wird: Jana Hensel und Martin Machowecz wollen für ZEIT im Osten herausfinden, wieso Westdeutsche als kompetent gelten. Und wir sind auch noch da.  

Überraschend kommt die Recruiterin auf die Arbeitswelt zu sprechen: "Corona hat sich als Brandbeschleuniger erwiesen: Alle wollen Homeoffice, Teilzeit, mehr Geld. Dann kommt die innere Kündigung, also Dienst nach Vorschrift. Krankschreibungen sorgen für die zwischen zwei Sabbaticals dringend benötigte Tagesfreizeit." Das treffe kleine Betriebe in der Provinz härter "als die großen Player in den Metropolen wie Dirk Nowitzki mit 2,13 m in Dallas, Bevölkerung 1,28 Millionen", ulkt Westerwald. Humor sei in ihrer Branche essenzieller Soft Skill. "Das Abwerben im mittleren Management hat mir am meisten Spaß gemacht. Heuer sind Handwerksbetriebe mein Daily Business."

Ein weiterer Kunde ruft an, Thea wiegelt brüsk ab. "Bei dem machen sie sich sowieso in der Probezeit wieder vom Acker! Sie sehen: Auch den Landwirten fehlt der Nachwuchs." Sie öffnet erneut Candy Crush, wir bekommen nur halbgare Antworten. Als wir nach Jobportalen fragen, wird Westerwald wütend: "Indeed-Ingrid ist eine Erfindung der Werbeindustrie! Und LinkedIn ist die absolute Schrottseite!" Nach diesem Ausbruch nennen wir sie im Scherz "den Vulkan von Teutschenthal", was sie jedoch ignoriert. "Was soll's", sagt sie, klopft dreimal auf Holz und öffnet sich uns. Die fehlende Anerkennung der Eltern Bernd und Ingeborg begründe den Erfolgshunger, sage ihr Therapeut Herbert. "Der Klassiker!" Sie sei einer ständigen Konkurrenz mit ihrer kreativen Schwester Linda ausgesetzt gewesen. Weder Studium an einer Elite-Uni ("Duisburg") noch der "100k-Job" bei McKinsey haben daran etwas geändert. Linda besitze ein Tattoostudio, mit dem sie "sicher nicht mehr als 50k verdient!" Besonders herablassend finde Thea, dass ihre Schwester das Studio Inked Lin' getauft habe. Dies sei ein Affront gegen alles, was sie liebe: das Headhunting, die NRW-FDP, den "Kleingartenverein Birkenhügel Obercastrop-Pöppinghausen". Sie attestiert ihrer Schwester "spätrömische Dekadenz" und ergänzt: "Ich bin Highperformer, sie ruht sich auf Papas Kohle aus. So war es schon immer."

Und tatsächlich: Thea zeigt uns ein Bild von früher, das Linda schlafend auf einem Haufen Briketts im Kohlenkeller zeigt. Zur Beruhigung zieht sie sich für drei Stunden in den kleinen Saal des Schwarzen Adlers zurück. Wir kommen mit dem Wirt ins Gespräch, der gerade den Mittagsschlaf beendet hat. Beim dritten Korn gesteht er: "Mir ist alles scheißegal! Das nennt sich Kunst des Liegenlassens oder so." Im gleichen Moment kommt Thea-Marie vom Brainstormen zurück und versprüht positive Energie: "Ich fange noch mal ganz neu an. Als Girlboss, so à la Maike Kohl-Richter. Eine Boutique-Agentur, mit der ich passives Einkommen generieren kann – das wär's!" Schnurstracks beginnt sie mit der Kalkulation für ein Symposium. Da die örtliche Mehrzweckhalle bis Jahresende ausgebucht ist, verwirft Westerwald die Idee und widmet sich den Insta-Stories von Sophie Passmann.  

Nach herzlicher Verabschiedung von Michael Adolfson sitzen wir im Miet-Tesla gen Ruhrgebiet. Radio Brocken spielt "Auf uns" von Andreas Bourani, Thea wirkt wie befreit. Als wir im Inked Lin' ankommen, räumen die Geschwister den jahrelangen Streit mit einer innigen Umarmung aus. Linda tätowiert ihrer Schwester "Work sucks!" in Frakturschrift auf den linken Unterarm. Die Planung für den gemeinsamen Besuch der Blink-182-Comeback-Tour nimmt Gestalt an. Wir verlassen die Szenerie grußlos, da die beiden sich plötzlich anschreien. Linda hatte nebenbei bemerkt, dass sie einen Azubi sucht.  

Martin Weidauer

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Du, »Brigitte«,

füllst Deine Website mit vielen Artikeln zu psychologischen Themen, wie z. B. diesem hier: »So erkennst Du das ›Perfect-Moment -Syndrom‹«. Kaum sind die ersten Zeilen überflogen, ploppen auch schon die nächsten Artikel auf und belagern unsere Aufmerksamkeit mit dem »Fight-or-Flight-Syndrom«, dem »Empty-Nest-Syndrom«, dem »Ritter-Syndrom« und dem »Dead- Vagina-Syndrom«. Nun sind wir keine Mediziner/innen, aber könnte es sein, Brigitte, dass Du am Syndrom-Syndrom leidest und es noch gar nicht bemerkt hast? Die Symptome sprechen jedenfalls eindeutig dafür!

Meinen die Hobby-Diagnostiker/innen der Titanic

 Mmmmh, Thomas de Maizière,

Mmmmh, Thomas de Maizière,

über den Beschluss der CDU vom Dezember 2018, nicht mit der Linkspartei oder der AfD zusammenzuarbeiten, an dem Sie selbst mitgewirkt hatten, sagten Sie bei Caren Miosga: »Mit einem Abgrenzungsbeschluss gegen zwei Parteien ist keine Gleichsetzung verbunden! Wenn ich Eisbein nicht mag und Kohlroulade nicht mag, dann sind doch nicht Eisbein und Kohlroulade dasselbe!«

Danke für diese Veranschaulichung, de Maizière, ohne die wir die vorausgegangene Aussage sicher nicht verstanden hätten! Aber wenn Sie schon Parteien mit Essen vergleichen, welches der beiden deutschen Traditionsgerichte ist dann die AfD und welches die Linke? Sollte Letztere nicht eher – zumindest in den urbanen Zentren – ein Sellerieschnitzel oder eine »Beyond Kohlroulade«-Kohlroulade sein? Und wenn das die Alternative zu einem deftigen Eisbein ist – was speist man bei Ihnen in der vermeintlichen Mitte dann wohl lieber?

Guten Appo!

Wünscht Titanic

 Hallo, faz.net!

»Seit dem Rückzug von Manfred Lamy«, behauptest Du, »zeigt der Trend bei dem Unternehmen aus Heidelberg nach unten. Jetzt verkaufen seine Kinder die Traditionsmarke für Füller und andere Schreibutensilien.« Aber, faz.net: Haben die Lamy-Kinder nicht gerade davon schon mehr als genug?

Schreibt dazu lieber nichts mehr: Titanic

 Anpfiff, Max Eberl!

Sie sind seit Anfang März neuer Sportvorstand des FC Bayern München und treten als solcher in die Fußstapfen heikler Personen wie Matthias Sammer. Bei der Pressekonferenz zu Ihrer Vorstellung bekundeten Sie, dass Sie sich vor allem auf die Vertragsgespräche mit den Spielern freuten, aber auch einfach darauf, »die Jungs kennenzulernen«, »Denn genau das ist Fußball. Fußball ist Kommunikation miteinander, ist ein Stück weit, das hört sich jetzt vielleicht pathetisch an, aber es ist Liebe miteinander! Wir müssen alle was gemeinsam aufbauen, wo wir alle in diesem gleichen Boot sitzen.«

Und dieser schräge Liebesschwur, Herr Eberl, hat uns sogleich ungemein beruhigt und für Sie eingenommen, denn wer derart selbstverständlich heucheln, lügen und die Metaphern verdrehen kann, dass sich die Torpfosten biegen, ist im Vorstand der Bayern genau richtig.

Von Anfang an verliebt für immer: Titanic

 Wieso so eilig, Achim Frenz?

Wieso so eilig, Achim Frenz?

Kaum hast Du das Zepter im Kampf um die Weltherrschaft der Komischen Kunst auf Erden in jüngere Hände gelegt, da schwingst Du Dich nach so kurzer Zeit schon wieder auf, um in den höchsten Sphären für Deine Caricatura zu streiten.

Mögest Du Dir auch im Jenseits Dein beharrliches Herausgeber-Grummeln bewahren, wünscht Dir zum Abschied Deine Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt