Artikel

"Sjakkmatt" in Oslo

Vergessen Sie Biathlon, Skispringen und Langlauf. Im Schatten der Wintersportarten haben sich Norwegens junge Wilde klammheimlich von metsaufenden Barbaren zu hochfunktionalen Schachgenies entwickelt. Was begeistert die Skandinavier am neuen Nationalsport, dessen Protagonisten von den Massen wie Popstars gefeiert werden? TITANIC war in Oslo und ist dort dem irren Hype ums "Spiel der Könige" auf den Grund gegangen.

Nach minutenlangem Klopfen öffnet sich endlich eine Klappe in der massiven Sicherheits-Stahltür. "Bonde fra B2 til B3?" ranzt ein übellauniger Bartträger, der offenbar die Tagesparole wissen will, auf Norwegisch. Wenn ich mein "Schach für Dummies"-Büchlein heute Nacht richtig überflogen habe, kann damit nur die "Nimzowitsch-Larsen-Eröffnung" gemeint sein. Ich habe Glück. Die Klappe wird zugeknallt, das Schloss entriegelt und Sekunden später erlaubt mir der bullige Türsteher in Slayer-T-Shirt und Jeansweste, das strenggeheime Schach-Leistungszentrum im Osloer Stadtteil Glandengveien zu betreten. Ich lasse meinen Blick durch die riesige Trainingshalle schweifen und bin sofort beeindruckt.

Während auf mehreren Hantelbänken Jugendliche mit nackten Oberkörpern Gewichte stemmen, dröhnt aus obszön großen Boxen skandinavischer Hip-Hop. Etwas abseits stärken sich Teenager nach einem anstrengenden Trainingstag am warmen Luxusbuffet, entspannen beim Daddeln, Golfen im Freizeitbereich oder lassen sich auf Massageliegen von breitschultrigen Physios durchkneten. Ansonsten wird an dutzenden von Tischen in jedem Winkel der berüchtigten Talentschmiede des "Norges Sjakkforbund" tatsächlich Schach gespielt. Nachdem Cheftrainer Ole Christiansen dem erst vierjährigen Gewinner des diesjährigen All-Norway-Chess-Turniers mit markigen Worten sein Versagen beim Réti-Manöver angelastet hat, kommt er freundlich lächelnd auf mich zu und schüttelt mir die Hand. Mein 40jähriger Interviewpartner coacht seit zehn Jahren den norwegischen Schachnachwuchs und hat mit einer Mischung aus Autorität, Härte und liebevoller Verachtung bereits etlichen Talenten zu höheren Weihen verholfen.

Der Ex-Worldchampion gibt den im Lounge-Bereich sitzenden Teenies mit einem doppelten Handklatschen zu verstehen, dass sie aufstehen sollen. Als sie sich widerwillig verkrümeln, lassen wir uns in die supergemütlichen Polster der Couch aus Nappa-Leder sinken. Auf meine erste Frage nach dem Grund für den unglaublich hohen Stellenwert von Schach in der norwegischen Gesellschaft, antwortet Christiansen in perfektem Deutsch. "Sehen Sie, Schach gehört in Norwegen zum Alltag wie Wein in Frankreich, Amore in Italien oder das ständige Genörgel und Gejammer in Ihrer bemitleidenswerten Heimat. Für gewöhnlich beherrschen norwegische Kinder die Regeln, bevor Sie laufen oder sprechen können. Manche meiner Landsleute witzeln sogar, dass jedes Rentier in Lappland Schach spielen kann. Und wissen Sie was? Es stimmt!"

Der Übungsleiter kramt ein Silberetui mit getrockneten Rentierfleischstreifen hervor, mit dem er mir verführerisch vor der Nase herumwedelt. Ich greife zu. "Oder nehmen Sie Sex", reißt Christiansen beißend ein Stück ab und fährt angestrengt darauf herumkauend fort. "Sex wird von uns Norwegern mittlerweile als total lästig empfunden und ausschließlich zu Fortpflanzungszwecken praktiziert. Echte, prickelnde, leidenschaftliche Erotik findet nach unserem Ermessen nämlich nur statt, wenn zwei Menschen Schach miteinander spielen. Wir sprechen in solchen Fällen auch gerne von Gehirntango." Ich stelle im Hinterkopf sofort den ultimativen Schach vs. Sex-Vergleich an und komme mangels feuchter Schachträume zu einem völlig anderen Ergebnis. Egal.

Auf den gesamtwirtschaftlichen Aspekt des nordischen Schachbooms angesprochen, holt der Meistermacher den rhetorischen Rechenschieber heraus. "Schach ist mittlerweile für bis zu 30 Prozent des norwegischen Bruttoinlandprodukts verantwortlich. Abgesehen von vollen Stadien mit bis zu 70 000 Zuschauern bei einer einzigen Partie, werden durch den Verkauf von Fanartikeln, Energydrinks und lizensierten Medizinprodukten wie Koffein- oder Kopfschmerztabletten Milliarden umgesetzt. Das meiste davon geht allerdings an Magnus Carlsen, der sich seine beknackte Zausel-Frisur hat patentieren lassen und jetzt bei jedem Haarschnitt mitverdient." Außerdem, erzählt Christiansen, spare der Staat sein komplettes Militär-Budget ein, seitdem man Schach als Mittel der hybriden Kriegsführung entdeckt habe. "Einerseits sind wir innerhalb der Nato seit einigen Jahren sehr erfolgreich für das Demütigen von Schachnationen wie Russland oder China zuständig. Auf der anderen Seite müssen wir uns natürlich den Vorwurf gefallen lassen, Putin durch die ständigen Niederlagen bis aufs Blut gereizt zu haben. Wer verliert schon gern online gegen unsere E-Jugend?"

Und was bewirkt Schach außerhalb von Sex, Geld, Krieg & Politik? Der Teamchef zählt auf: "Zunächst einmal haben wir die niedrigste Zahl an Herz/Kreislauf-Erkrankungen in ganz Europa. Das hängt hauptsächlich damit zusammen, dass die Leute sich hier ˈSlow-TVˈ anschauen und während 17stündiger Schach-Live-Übertragungen super runterfahren können. Während der schachfreien Zeit laufen zur Prime-Time übrigens Strickwettbewerbe, Eisenbahn-Nachtfahrten oder Drohnenaufnahmen von Elchkühen. Das heißt, wenn in Norwegen überhaupt mal jemand stirbt, dann, weil er so entspannt ist, dass der Blutdruck auf unter null fällt. Um das zu verhindern, baut das norwegische Fernsehen übrigens immer 3-4 Jumpscares in seine Übertragungen ein." Christiansen kommt ins Schwärmen. "In der Statistik der wenigsten Gewaltverbrechen und Ehescheidungen sind wir Norweger ebenfalls führend. Statt sich zu prügeln oder zu streiten, versucht man hier fast alle Konflikte erstmal bei einer Partie Schach zu lösen." Wie auf Zuruf werde ich im Trainingszentrum plötzlich Zeuge einer sehr seltenen Ausnahme.

Jemand hat ein Backgammon-Set von zu Hause mitgebracht und als Schach-Alternative offen auf einem der Tische abgelegt. Nachdem man das Spielbrett zerfetzt und den Blasphemisten zu Boden gerungen hat, wird er von einem jugendlichen Mob bespuckt und getreten. "Ich sagte ja – fast alle", insistiert Christiansen. Als ich aufstehen will, um beherzt dazwischenzugehen, schiebt er mich mit sanftem Druck ins Polster zurück. "Strafe muss sein!". Sjakkmatt.

 

Patric Hemgesberg

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Lieber Jörg Metes (5.1.1959–16.6.2024),

Lieber Jörg Metes (5.1.1959–16.6.2024),

Du warst der jüngste TITANIC-Chefredakteur aller Zeiten. Du warst der Einzige, der jemals eine klare Vorstellung davon hatte, wie das ideale Heft aussehen musste, und hast immer sehr darunter gelitten, dass sich Deine Utopie nur unzureichend umsetzen ließ. Aus Mangel an Zeit und an Mitarbeiter/innen, die bereit waren, sich Nächte um die Ohren zu schlagen, nur um die perfekte Titelunterzeile oder das richtige Satzzeichen am Ende des Beitrags auf Seite 34 zu finden.

Legendär der Beginn Deiner satirischen Tätigkeit, als Du Dich keineswegs über einen Abdruck Deiner Einsendung freutest, sondern Robert Gernhardt und Bernd Eilert dafür beschimpftest, dass sie minimale Änderungen an Deinem Text vorgenommen hatten. Das wurde als Bewerbungsschreiben zur Kenntnis genommen, und Du warst eingestellt. Unter Deiner Regentschaft begann die Blütezeit des Fotoromans, Manfred Deix, Walter Moers und Michael Sowa wurden ins Blatt gehievt, und manch einer erinnert sich noch mit Tränen in den Augen daran, wie er mal mit Dir eine Rudi-Carrell-Puppe vor dem iranischen Konsulat verbrannt hat.

Nach TITANIC hast Du viele, die ihr Glück weder fassen konnten noch verdient hatten, mit Spitzenwitzen versorgt und dem ersten deutschen Late-Night-Gastgeber Thomas Gottschalk humortechnisch auf die Sprünge geholfen. Und dass River Café, eine deutsche Talkshow, die live aus New York kam, nur drei Folgen erlebte, lag bestimmt nicht an Deinen Texten. Auf Spiegel online hieltest Du als ratloser Auslandskorrespondent E. Bewarzer Dein Kinn in die Kamera, und gemeinsam mit Tex Rubinowitz hast Du das Genre des Listenbuches vielleicht sogar erfunden, auf jeden Fall aber end- und mustergültig definiert, und zwar unter dem Titel: »Die sexuellen Phantasien der Kohlmeisen«. Und diese eine Geschichte, wo ein Psychiater in ein Möbelhaus geht, um eine neue Couch zu kaufen, und der Verkäufer probeliegen muss, wo stand die noch mal? Ach, in der TITANIC? Sollte eigentlich in jedem Lesebuch zu finden sein!

Uns ist natürlich bewusst, dass Du auch diesen Brief, wie so viele andere, lieber selber geschrieben und redigiert hättest – aber umständehalber mussten wir das diesmal leider selbst übernehmen.

In Liebe, Deine Titanic

 Mmmh, Futterparadies Frankfurt a. M.!

Du spielst in einem Feinschmecker-Ranking, das die Dichte der Michelin-Sterne-Restaurants großer Städte verglichen hat, international ganz oben mit: »Laut einer Studie des renommierten Gourmet-Magazins Chef’s Pencil teilen sich in der hessischen Metropole 77 307 Einwohner ein Sterne-Restaurant.«

Aber, mal ehrlich, Frankfurt: Sind das dann überhaupt noch echte Gourmet-Tempel für uns anspruchsvolle Genießer/innen? Wird dort wirklich noch köstlichste Haute Cuisine der allerersten Kajüte serviert?

Uns klingt das nämlich viel eher nach monströsen Werkskantinen mit übelster Massenabfertigung!

Rümpft blasiert die Nase: die Kombüsenbesatzung der Titanic

 Wenn, Sepp Müller (CDU),

Bundeskanzler Olaf Scholz, wie Sie ihm vorwerfen, in einem »Paralleluniversum« lebt – wer hat dann seinen Platz in den Bundestagsdebatten, den Haushaltsstreitgesprächen der Ampelkoalition, beim ZDF-Sommerinterview usw. eingenommen?

Fragt die Fringe-Division der Titanic

 Deine Fans, Taylor Swift,

Deine Fans, Taylor Swift,

sind bekannt dafür, Dir restlos ergeben zu sein. Sie machen alle, die auch nur die leiseste Kritik an Dir äußern, erbarmungslos nieder und nennen sich bedingt originell »Swifties«. So weit ist das alles gelernt und bekannt. Was uns aber besorgt, ist, dass sie nun auch noch geschafft haben, dass eine der deutschen Stationen Deiner Eras-Tour (Gelsenkirchen) ähnlich einfallslos in »Swiftkirchen« umbenannt wird. Mit Unterstützung der dortigen Bürgermeisterin und allem Drum und Dran. Da fragen wir uns schon: Wie soll das weitergehen? Wird bald alles, was Du berührst, nach Dir benannt? Heißen nach Deiner Abreise die Swiffer-Staubtücher »Swiffties«, 50-Euro-Scheine »Sfifties«, Fische »Sfischties«, Schwimmhallen »Swimmties«, Restaurants »Swubway« bzw. »SwiftDonald’s«, die Wildecker Herzbuben »Swildecker Herzbuben«, Albärt »Swiftbärt« und die Modekette Tom Tailor »Swift Tailor«?

Wenn das so ist, dann traut sich auf keinen Fall, etwas dagegen zu sagen:

Deine swanatische Tayltanic

 Kleiner Tipp, liebe Eltern!

Wenn Eure Kinder mal wieder nicht draußen spielen wollen, zeigt ihnen doch einfach diese Schlagzeile von Spektrum der Wissenschaft: »Immer mehr Lachgas in der Atmosphäre«. Die wird sie sicher aus dem Haus locken.

Gern geschehen!

Eure Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Der kästnerlesende Kniebeuger

Es gibt nichts Gutes
Außer man Glutes.

Sebastian Maschuw

 Zeitsprung

Dem Premierenpublikum von Stanley Kubricks »2001: Odyssee im Weltraum« wird der Film 1968 ziemlich futuristisch II vorgekommen sein.

Daniel Sibbe

 Krasse Segregation

Wer bestimmten Gruppen zugehört, wird auf dem Wohnungsmarkt strukturell diskriminiert. Viele Alleinstehende suchen händeringend nach einer Drei- oder Vierzimmerwohnung, müssen aber feststellen: Für sie ist dieses Land ein gnadenloser Apartmentstaat, vor allem in den Großstädten!

Mark-Stefan Tietze

 Lifehack von unbekannt

Ein Mann, der mir im Zug gegenüber saß, griff in seine Tasche und holte einen Apfel heraus. Zu meinem Entsetzen zerriss er ihn mit bloßen Händen sauber in zwei Hälften und aß anschließend beide Hälften auf. Ich war schockiert ob dieser martialischen wie überflüssigen Handlung. Meinen empörten Blick missdeutete der Mann als Interesse und begann, mir die Technik des Apfelzerreißens zu erklären. Ich tat desinteressiert, folgte zu Hause aber seiner Anleitung und zerriss meinen ersten Apfel! Seitdem zerreiße ich fast alles: Kohlrabi, Kokosnüsse, anderer Leute Bluetoothboxen im Park, lästige Straßentauben, schwer zu öffnende Schmuckschatullen. Vielen Dank an den Mann im Zug, dafür, dass er mein Leben von Grund auf verbessert hat.

Clemens Kaltenbrunn

 Der kästnerlesende Bläser

Es gibt nichts Gutes
außer: Ich tut’ es.

Frank Jakubzik

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster