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Che Gue-Lindner?

Berufsbayer Markus Söder kritisierte jüngst die FDP. Sie trage "linke Politik" mit und zwischen ihr und den Grünen bestehe "kein Unterschied" mehr. Wie linkslinks sind die Liberalen? Das sagen die FDP-Jugendorganisation "FDJ", der liberale Arbeitskreis "KoLiBri" und Christian Lindners bester Freund – der freie Markt.    

Zeitenwende auf allen Ebenen. Nichts ist mehr wie früher. Könnte mittlerweile sogar Markus Söder einmal recht haben? Trägt die FDP im Ampel-Erfolgsrausch "linke Politik" mit? Gibt es gar linke Zellen in der FDP? Fragen, die sich niemand stellt. Wir gehen der Sache trotzdem nach. Erste Station: die neu gegründete FDP-Jugendorganisation "FDJ".
"Fonds-schaft!" lautet ihr offizieller Gruß. "Damit möchten wir mit jugendlicher Leichtigkeit und frech wie Business-Punks hinausposaunen: Wir Jungen, die Early Adopter des Alters, wollen frei sein wie der Markt, wirtschaften, Kapital steigern, Werte abschöpfen – kurz: leben!" so Arne Händler (21), Organisator des FDP-FDJ-Sommercamps, das seine Glamping-Zelte im Foyer der Börse Frankfurt aufgeschlagen hat.    

 

"Die Welt gehört den Junganlegern!"  

Die Kritik, die FDP drifte nach links, findet Händler lächerlicher als die Forderung nach einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer. "Wir haben selbst schon erlebt, dass uns linkes Gedankengut vorgeworfen wird, etwa aufgrund unseres scheinbar einheitlichen Outfits." Tatsächlich tragen alle Camp-Teilnehmer:innen blaue Hemden. "Keine Sorge: Das ist keine Gleichmacherei. In der FDP-FDJ ist jedes blaue Hemd ein maßgeschneidertes Designer-Einzelstück oder zumindest von Lacoste."
Im glanzvollen Börsen-Foyer haben einige bereits ihre Zelte aufgebaut. Digitale Lagerfeuer erstrahlen auf iPhone-Bildschirmen. Darum sitzen junge Menschen mit Gitarren-förmigen Bluetooth-Boxen und stimmen Protestsongs an – gegen die Einführung einer Finanztransaktionssteuer.  
"Die Welt gehört den Junganlegern und Juniorpartnern!" steht kämpferisch auf einem Transparent, das über dem Champagner-Kühlschrank angebracht wurde.
Als Arne Händler noch ein paar lobende Worte über das "freshe Mindset" und "Out-of-the-box-Denken" Christian Lindners verliert, brechen wir unsere Reportage-Zelte ab. Hier findet man vieles, aber keine linke FDP.  

 

Im WG-Jacuzzi  

Eine typische Student:innen-WG in einer Villa in der Münchner Vorstadt. Lange Haare werden nach hinten gegelt. Wir befinden uns im Hauptquartier des Arbeitskreises "KoLiBri" ("Kommunistische Lindner Briefings"). "Hahahahaha, hahaha, haha", Evelyn von Grundbesitzersbergen (25) reagiert amüsiert auf unsere Frage nach linken Zellen in der FDP. Die Nachfrage, warum sie den AK dann "kommunistisch" nannte, beantwortet sie weiterhin erheitert: "Hahahahaha, hahaha, haha … Das Einzige, das bei uns rot ist, ist unser Bordeaux-Vorrat. Wir haben uns bloß 'kommunistisch' genannt, weil es mit 'kapitalistisch' nicht 'KoLiBri', sondern viel weniger schön, nämlich 'KaLiBri', hieße. Da waren wir einfach flexibel wie ein guter Arbeitnehmer!"
Über einem Champagner-Kühlschrank prangt ein Plakat von Christian Lindner im Che-Guevara-Stil. Zwei mal wöchentlich trifft man sich im WG-Jacuzzi zum After-Business-School-Chill-out und bespricht politische Themen. Neben den von einem Catering-Service bereitgestellten Summer-Rolls werden auch radikale Ideen gewälzt. "Ein paar Bitcoin-Investoren in der Runde haben den 'Schwarzen Blockchain' gegründet. Da kann ich nur sagen: Anarchie pur! Gegen Tempolimits, gegen Steuererhöhungen, gegen Sozialstaatsgewalt, für gestärkte Hemdkragen. Wollt ihr einen Zug?" Evelyn bietet uns ihren hoch dosierten Antioxidantien-Smoothie an. Wir sagen nicht nein.  

 

Raubbau an den Produktivkräften  

Alles dreht sich. Wir sehen fluoreszierende Farben – vor allem ein leuchtendes Gelb. Plötzlich erscheint er höchstpersönlich: der freie Markt. "Hey! Ich mache mir Sorgen um die Liquidität eurer Reportage." Er reicht uns seine helfende Invisible Hand. "Kommt mit!" Wir sitzen auf einmal im Epizentrum des Kapitalismus neben einem Champagner-Kühlschrank. Der freie Markt nimmt auf einem steigenden Börsenkurs Platz. "Wir wissen doch alle, dass Söders Aussagen nicht ernst zu nehmen sind. Warum widmet ihr dem einen ganzen Artikel? Ist das nicht Raubbau an euren Produktivkräften?"
Wir bejahen kleinlaut und sagen dem freien Markt, dass wir nun aber längst auf die verlangte Zeichenanzahl für den Artikel gekommen seien und uns jetzt verabschieden würden. "Na klar, Zeit ist Geld!" Mit einem kurzen Kursschock befördert er uns zurück in unser Büro.
Ist die FDP also wirklich nach links gewandert? Am Ende unserer Spurensuche möchten wir diese Frage mit einem Evelyn-von-Grundbesitzersbergen-Zitat beantworten: „Hahahahaha, hahaha, haha!“

Jürgen Miedl

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Cafe Extrablatt (Bockenheimer Warte, Frankfurt)!

»… von früh bis Bier!« bewirbst Du auf zwei großflächigen Fassadentafeln einen Besuch in Deinen nahe unserer Redaktion gelegenen Gasträumlichkeiten. Geöffnet hast Du unter der Woche zwischen 8:00 und 0:00 bzw. 01:00 (freitags) Uhr. Bier allerdings wird – so interpretieren wir Deinen Slogan – bei Dir erst spät, äh, was denn überhaupt: angeboten, ausgeschenkt? Und was verstehst Du eigentlich unter spät? Spät in der Nacht, spät am Abend, am Spätnachmittag oder spätmorgens? Müssen wir bei Dir in der Früh (zur Frühschicht, am frühen Mittag, vor vier?) gar auf ein Bier verzichten?

Jetzt können wir in der Redaktion von früh bis Bier an nichts anderes mehr denken. Aber zum Glück gibt es ja die Flaschenpost!

Prost! Titanic

 Mahlzeit, Erling Haaland!

Mahlzeit, Erling Haaland!

Zur Fußballeuropameisterschaft der Herren machte erneut die Schlagzeile die Runde, dass Sie Ihren sportlichen Erfolg Ihrer Ernährung verdankten, die vor allem aus Kuhherzen und -lebern und einem »Getränk aus Milch, Grünkohl und Spinat« besteht.

»Würg!« mögen die meisten denken, wenn sie das hören. Doch kann ein Fußballer von Weltrang wie Sie sich gewiss einen persönlichen Spitzenkoch leisten, der die nötige Variation in den Speiseplan bringt: morgens Porridge aus Baby-Kuhherzen in Grünkohl-Spinat-Milch, mittags Burger aus einem Kuhleber-Patty und zwei Kuhherzenhälften und Spinat-Grünkohl-Eiscreme zum Nachtisch, abends Eintopf aus Kuhherzen, Kuhleber, Spi… na ja, Sie wissen schon!

Bon appétit wünscht Titanic

 Lieber Jörg Metes (5.1.1959–16.6.2024),

Lieber Jörg Metes (5.1.1959–16.6.2024),

Du warst der jüngste TITANIC-Chefredakteur aller Zeiten. Du warst der Einzige, der jemals eine klare Vorstellung davon hatte, wie das ideale Heft aussehen musste, und hast immer sehr darunter gelitten, dass sich Deine Utopie nur unzureichend umsetzen ließ. Aus Mangel an Zeit und an Mitarbeiter/innen, die bereit waren, sich Nächte um die Ohren zu schlagen, nur um die perfekte Titelunterzeile oder das richtige Satzzeichen am Ende des Beitrags auf Seite 34 zu finden.

Legendär der Beginn Deiner satirischen Tätigkeit, als Du Dich keineswegs über einen Abdruck Deiner Einsendung freutest, sondern Robert Gernhardt und Bernd Eilert dafür beschimpftest, dass sie minimale Änderungen an Deinem Text vorgenommen hatten. Das wurde als Bewerbungsschreiben zur Kenntnis genommen, und Du warst eingestellt. Unter Deiner Regentschaft begann die Blütezeit des Fotoromans, Manfred Deix, Walter Moers und Michael Sowa wurden ins Blatt gehievt, und manch einer erinnert sich noch mit Tränen in den Augen daran, wie er mal mit Dir eine Rudi-Carrell-Puppe vor dem iranischen Konsulat verbrannt hat.

Nach TITANIC hast Du viele, die ihr Glück weder fassen konnten noch verdient hatten, mit Spitzenwitzen versorgt und dem ersten deutschen Late-Night-Gastgeber Thomas Gottschalk humortechnisch auf die Sprünge geholfen. Und dass River Café, eine deutsche Talkshow, die live aus New York kam, nur drei Folgen erlebte, lag bestimmt nicht an Deinen Texten. Auf Spiegel online hieltest Du als ratloser Auslandskorrespondent E. Bewarzer Dein Kinn in die Kamera, und gemeinsam mit Tex Rubinowitz hast Du das Genre des Listenbuches vielleicht sogar erfunden, auf jeden Fall aber end- und mustergültig definiert, und zwar unter dem Titel: »Die sexuellen Phantasien der Kohlmeisen«. Und diese eine Geschichte, wo ein Psychiater in ein Möbelhaus geht, um eine neue Couch zu kaufen, und der Verkäufer probeliegen muss, wo stand die noch mal? Ach, in der TITANIC? Sollte eigentlich in jedem Lesebuch zu finden sein!

Uns ist natürlich bewusst, dass Du auch diesen Brief, wie so viele andere, lieber selber geschrieben und redigiert hättest – aber umständehalber mussten wir das diesmal leider selbst übernehmen.

In Liebe, Deine Titanic

 Kleiner Tipp, liebe Eltern!

Wenn Eure Kinder mal wieder nicht draußen spielen wollen, zeigt ihnen doch einfach diese Schlagzeile von Spektrum der Wissenschaft: »Immer mehr Lachgas in der Atmosphäre«. Die wird sie sicher aus dem Haus locken.

Gern geschehen!

Eure Titanic

 Oha, »Siegessäule«!

Als queeres und »Berlins meistgelesenes Stadtmagazin« interviewtest Du anlässlich der Ausstellung »Sex. Jüdische Positionen« im Jüdischen Museum Berlin die Museumsleiterin und die Kuratorin und behelligtest die beiden unter anderem mit dieser Frage: »Linke, queere Aktivist*innen werfen dem Staat Israel vor, eine liberale Haltung gegenüber Homosexualität zu benutzen, um arabische und muslimische Menschen zu dämonisieren. Diese Aktivist*innen würden Ihnen wahrscheinlich Pinkwashing mit der Ausstellung unterstellen.«

Nun ist das Jüdische Museum Berlin weder eine Außenstelle des Staates Israel, noch muss man als Journalist/in irgendwelchen »Aktivist*innen« ihre antisemitischen Klischees, dass letztlich doch alle Jüdinnen und Juden dieser Welt unter einer Decke stecken, im Interview nachbeten. So können wir uns aber schon mal Deine nächsten Interviewfragen ausmalen: »Frau Pastorin Müller, Sie bieten einen Gottesdienst zum Christopher Street Day an. Betreiben Sie damit Pinkwashing für den Vatikanstaat?« oder »Hallo Jungs, ihr engagiert euch in einem schwulen Verein für American Football. Betreibt ihr damit nicht Pinkwashing für Donald Trump?«

Wird diese Artikel allerdings nicht mehr lesen: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Claims texten, die im Kopf bleiben

Ist »Preissturz bei Treppenliften« wirklich eine gute Catchphrase?

Miriam Wurster

 Reifeprozess

Musste feststellen, dass ich zum einen langsam vergesslich werde und mir zum anderen Gedanken über die Endlichkeit allen Lebens mache. Vor meiner Abreise in den Urlaub vergaß ich zum Beispiel, dass noch Bananen in meiner Obstschale liegen, und dann dachte ich zwei Wochen darüber nach, wie lange es wohl dauert, bis die Nachbarn wegen des Geruchs und der Fliegen aus meiner Wohnung die Kripo alarmieren.

Loreen Bauer

 Krasse Segregation

Wer bestimmten Gruppen zugehört, wird auf dem Wohnungsmarkt strukturell diskriminiert. Viele Alleinstehende suchen händeringend nach einer Drei- oder Vierzimmerwohnung, müssen aber feststellen: Für sie ist dieses Land ein gnadenloser Apartmentstaat, vor allem in den Großstädten!

Mark-Stefan Tietze

 Dialog auf Augenhöhe

Zu meinen Aufgaben als Marketingexperte in einem modernen Dienstleistungsunternehmen gehört es unter anderem, unzufriedene Kunden zu beschwichtigen. Vor kurzem beschwerte sich einer von ihnen darüber, dass wir in unseren Texten immer dieselben Bausteine verwenden. Die Mail ließ mich ganz irritiert zurück. Ein Glück, dass wir für genau solche Anfragen gleich fertige Antworten haben.

Andreas Maier

 Liebesgedicht

Du bist das Ästchen,
ich bin der Stamm.
Du bist der Golo,
ich Thomas Mann.
Du bist Borkum,
ich bin Hawaii.
Du bist die Wolke,
ich bin gleich drei.
Du bist das Würmchen,
ich bin das Watt.
Du bist die Klinke,
ich bin die Stadt.
Du bist das Blättchen,
ich jetzt der Ast.
Sei still und freu dich,
dass du mich hast.

Ella Carina Werner

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster