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Martin Weidauer: "Das ist Rassismus gegen Weise" – Interview mit einem Schamanen

Trommeln, Heilen, Dreadlocks: Besserverdienenden-Hobbys werden als kulturelle Aneignung gebrandmarkt. Mir fehlt in der Debatte die Betroffenenperspektive. Deshalb fahre ich nach Baden-Württemberg, um mich mit einem waschechten Schamanen zu treffen.

Die Zugfahrt ist nicht nur wegen meiner Haremshose komfortabel. Für diese wichtige Story hat mir der Verlag ein Erste-Klasse-Ticket spendiert. Ich verschlinge die aktuelle DB MOBIL-Ausgabe, dann bin ich schon in Stuttgart, wo mich mein Gesprächspartner (barfuß) erwartet. Im Porsche Cayenne werden wir die dreißig Minuten bis nach Böblingen zurücklegen, in die "Hauptstadt der Bewegung" (A. Hitler).  

TITANIC: Nett, dass Sie mich hier abholen.  

Sky: Triggerwarnung: Ich fahre spritsparend. Übrigens ist Kalle Sky ein Künstlername, ich heiße Karl-Heinz Sky.  

Er zeigt mir unaufgefordert seinen Ausweis, dann geht er in die Vollen.  

Sky: Als ich das mit Fridays for Future und dieser Musikerin gelesen habe, bekam ich es mit der Angst zu tun. Sie ist ein erleuchtetes Wesen, das ist Rassismus gegen Weise. In Deutschland – mit dieser Geschichte, diesem Zivilisationsbruch!  

Kalle schüttelt demonstrativ den Kopf, seine Dreads wackeln anmutig.  

TITANIC (schlaumeiernd): Sie meinen den Holocaust, nicht wahr?  

Sky: Hä? Selbstredend spreche ich über die Verfolgung der Druiden und Kräuterfrauen des Waldes während der Inquisition! Ich betrachte dieses Auto als geschützten Raum, in dem ich achtsam präsent sein möchte. Bleib also bitte in Deiner inneren Mitte. Es ging alles vor zehn Jahren in Italien los. Als wir auf den Ätna wanderten, hat es klick gemacht. Meine Ex-Frau trat auf eine alte Cola-Dose. Ich schaffte ehedem beim Daimler und dachte: Moment, bei uns reesche se sich uff, wir sollen ein ökologisches Unternehmen werden und dieser scheiß Berg spuckt Gift und Galle? Die grüne Lüge, mehr sage ich nicht.  

Einen Moment denke ich, Herr Sky sagt wirklich nichts mehr. Weit gefehlt! Wenn er sich aufregt, wird sein schwäbischer Zungenschlag ohrenfällig.  

Sky: Mir häbbe damalsch gege Stuggard 21 demonschdrierd. Un? Was hänsch gebrach? Nix!  

TITANIC (interessiert): Und der Vulkan? Kam Lava raus? Spannend!  

Sky: Ich habe flink gekündigt und mein Leben umgekrempelt. Die Ausbildung zum schamanischen Heiler hat das Universum bezahlt. Scherz! Ich habe horrende Schulden. Aber Geld ist etwas Materielles und bedeutet mir nichts mehr. Du solltest Dir einen Entstörstift für den Barcode auf Deiner Wasserflasche besorgen, zum Beispiel bei mir.  

Ich verstehe nur Bahnhof, obschon wir im Auto sitzen. Vielleicht erweitert sich mein Bewusstsein hernach tatsächlich.  

Sky: Deine transformative Reise beginnt gerade erst. Es gibt in dieser Dimension viel energetische Arbeit zu tun. Ich bin seinerzeit durch eine Erleuchtung zum Medium aufgestiegen, habe Kontakte in die Anderswelt. Manchmal ist es bürokratisch! Mein Eurythmie-Diplom habe ich klassisch per Webinar erworben. Und unter uns: Keramik-Engel, Energiesteine, Selbstgestricktes – dagegen lässt sich keine fundierte Kritik vorbringen. Die Ahnen segnen meine Werke.  

TITANIC (der Neutralität verpflichtet): Manche Menschen halten das für Hokuspokus.  

Sky (mit Nachdruck): Miteinander statt Spaltung! Homöopathie ist Nonsens. Aber bei Schamanismus und germanischer Heilkunde ist die Wirksamkeit wissenschaftlich belegt. Ich als alte Seele merke allerdings an Deiner Aura, dass Du negativ schwingst. Manchmal hilft ein Witz. Kennst Du den schwäbischen Heiratsantrag? Des is mei Häusle. Des is mei Mudder. Jeden Sonntag gibt's Spätzle. Überlegsch dir's halt!  

TITANIC (mit gequältem Lächeln): Den schreibe ich auf.  

In dem SUV riecht es nach Kuhmist. Die Fenster lassen sich nicht öffnen.  

Sky: Warum behandelt ein Land seine Leistungsträger so? In Indien würde es das nicht geben. Unsere Existenzgrundlage bröckelt. Was darf man denn noch? Beim Asiaten mit Stäbchen essen? Wohl eher nicht, oder?  

TITANIC (ehrlich): Ich kann das gar nicht.  

Sky: In einem früheren Leben war ich eine Kreuzotter in Tibet. Lass uns kurz in die wertvolle Stille gehen. Ommm.  

Er zündet ein Räucherstäbchen an und gongt die Klangschale, als wir an der Ampel warten. Nach einer Minute ertönt der zweite Gong, vorher bereits das Hupen der Fahrerin hinter uns.  

Sky (schreiend): Die Alte hat wohl noch nie das Wort ganzheitlich gehört? Achtsamkeit, gottverdammte Scheiße! Es gibt verschiedene innere Urtypen! Und Archetypen! Dregg! Bluadige Hennaköpf! Saggradie!  

TITANIC: Wissen Sie, was ein guter Krimi für Sie wäre? Kommissar Schamanski.  

Der Interviewte reagiert nicht auf den Kalauer. Als ich eine Chakren-Behandlung mit spiritueller Reinigung für 2999,99 € ablehne, weil nur Barzahlung möglich ist, dreht Karl-Heinz Sky um und fährt mich zum Böblinger Bahnhof. Die Einladung zum Jahreskreisfest widerruft er im Nachgang per Einschreiben, in welchem er warnt: "Passen Sie auf! Mit Spiritualität wird viel Schindluder getrieben." Hätte er besser aufgepasst, wäre er jetzt nicht um ein Heilkunde-E-Book auf CD-ROM ärmer. Wohlan! Mit diesem Herrschaftswissen im Gepäck mache ich mich auf den Weg zum Autodidaktik-Retreat nach Sizilien. Mantraartig flüstere ich mir zu: "Wo man geben will, muss man nehmen."

Martin Weidauer

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Briefe an die Leser

 Hi, Daniel Bayen!

Sie sind sehr jung und waren mit Ihrer Firma für Vintage-Klamotten namens Strike vorübergehend sehr erfolgreich. Die ist jetzt pleite, machte aber zeitweise 2,9 Millionen Euro Umsatz. Der Bedarf war so groß, dass Correctiv-Recherchen zufolge sogar massenhaft Neuware zwischen die Secondhand-Bekleidung gemischt wurde. Auch Sie räumten demnach ein, gefälschte Ware geordert zu haben. Allerdings, so behaupten Sie, nur, um Ihren »Mitarbeitern zu zeigen, wie man gefälschte Ware identifiziert und aussortiert«.

Aber Bayen, Ihre Expertise besteht doch darin, neue Sachen auf alt zu trimmen. Also versuchen Sie bitte nicht, uns solche uralten Tricks zu verkaufen!

Recycelt Witze immer nach allen Regeln der Kunst: Titanic

 Cafe Extrablatt (Bockenheimer Warte, Frankfurt)!

»… von früh bis Bier!« bewirbst Du auf zwei großflächigen Fassadentafeln einen Besuch in Deinen nahe unserer Redaktion gelegenen Gasträumlichkeiten. Geöffnet hast Du unter der Woche zwischen 8:00 und 0:00 bzw. 01:00 (freitags) Uhr. Bier allerdings wird – so interpretieren wir Deinen Slogan – bei Dir erst spät, äh, was denn überhaupt: angeboten, ausgeschenkt? Und was verstehst Du eigentlich unter spät? Spät in der Nacht, spät am Abend, am Spätnachmittag oder spätmorgens? Müssen wir bei Dir in der Früh (zur Frühschicht, am frühen Mittag, vor vier?) gar auf ein Bier verzichten?

Jetzt können wir in der Redaktion von früh bis Bier an nichts anderes mehr denken. Aber zum Glück gibt es ja die Flaschenpost!

Prost! Titanic

 Du wiederum, »Spiegel«,

bleibst in der NBA, der Basketball-Profiliga der Männer in den USA, am Ball und berichtest über die Vertragsverlängerung des Superstars LeBron James. »Neuer Lakers-Vertrag – LeBron James verzichtet offenbar auf Spitzengehalt«, vermeldest Du aufgeregt.

Entsetzt, Spiegel, müssen wir feststellen, dass unsere Vorstellung von einem guten Einkommen offenbar um einiges weiter von der Deiner Redakteur/innen entfernt ist als bislang gedacht. Andere Angebote hin oder her: 93 Millionen Euro für zwei Jahre Bällewerfen hätten wir jetzt schon unter »Spitzengehalt« eingeordnet. Reichtum ist wohl tatsächlich eine Frage der Perspektive.

Arm, aber sexy: Titanic

 Lieber Fritz Merz,

im Podcast »Hotel Matze« sagst Du, dass Du in Deutschland große Chancen bekommen hättest und etwas zurückgeben wolltest. Jawollo! Wir haben da direkt mal ein bisschen für Dich gebrainstormt: Wie wär’s mit Deinem Privatjet, dem ausgeliehenen vierten Star-Wars-Film oder dem Parteivorsitz? Das wäre doch ein guter Anfang!

Wartet schon ganz ungeduldig: Titanic

 Gemischte Gefühle, Tiefkühlkosthersteller »Biopolar«,

kamen in uns auf, als wir nach dem Einkauf Deinen Firmennamen auf der Kühltüte lasen. Nun kann es ja sein, dass wir als notorisch depressive Satiriker/innen immer gleich an die kühlen Seiten des Lebens denken, aber die Marktforschungsergebnisse würden uns interessieren, die suggerieren, dass Dein Name positive und appetitanregende Assoziationen in der Kundschaft hervorruft!

Deine Flutschfinger von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Beim Aufräumen in der Küche

Zu mir selbst: Nicht nur Roger Willemsen fehlt. Auch der Korkenzieher.

Uwe Becker

 Unübliche Gentrifizierung

Zu Beginn war ich sehr irritiert, als mich der Vermieter kurz vor meinem Auszug aufforderte, die Bohr- und Dübellöcher in den Wänden auf keinen Fall zu füllen bzw. zu schließen. Erst recht, als er mich zusätzlich darum bat, weitere Löcher zu bohren. Spätestens, als ein paar Tage darauf Handwerkerinnen begannen, kiloweise Holzschnitzel und Tannenzapfen auf meinen Böden zu verteilen, wurde mir jedoch klar: Aus meiner Wohnung wird ein Insektenhotel!

Ronnie Zumbühl

 Dialog auf Augenhöhe

Zu meinen Aufgaben als Marketingexperte in einem modernen Dienstleistungsunternehmen gehört es unter anderem, unzufriedene Kunden zu beschwichtigen. Vor kurzem beschwerte sich einer von ihnen darüber, dass wir in unseren Texten immer dieselben Bausteine verwenden. Die Mail ließ mich ganz irritiert zurück. Ein Glück, dass wir für genau solche Anfragen gleich fertige Antworten haben.

Andreas Maier

 Feuchte Träume

Träumen norddeutsche Comedians eigentlich davon, es irgendwann mal auf die ganz große Buhne zu schaffen?

Karl Franz

 Liebesgedicht

Du bist das Ästchen,
ich bin der Stamm.
Du bist der Golo,
ich Thomas Mann.
Du bist Borkum,
ich bin Hawaii.
Du bist die Wolke,
ich bin gleich drei.
Du bist das Würmchen,
ich bin das Watt.
Du bist die Klinke,
ich bin die Stadt.
Du bist das Blättchen,
ich jetzt der Ast.
Sei still und freu dich,
dass du mich hast.

Ella Carina Werner

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster