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Silvesterleugner auf dem Vormarsch

Es gibt Ereignisse im Dezember, die sind so sicher wie das Amen in der Kirche: Weihnachten, Silvester und das Amen in der Kirche. Zumindest gab es bislang keinen Grund daran zu zweifeln. Doch es mehrt sich die Zahl derer, die Silvester für eine von den Mainstreammedien erfundene Propagandafeier halten. Eine Recherche.

Der erste Google-Treffer führt mich zu Björn Tørgensen. "Ich glaube nicht an den Jahreswechsel", erklärt er in einem hunderttausendfach geklickten YouTube-Video auf seinem Kanal "Silvesterfrei". Jahre hält er für ein widernatürliches, von geheimen Machteliten ersonnenes Kontrollinstrument, um die Welt einer Diktatur zu unterwerfen, einer Diktatur der Zeit. "Wir haben es selbst in der Hand, da mitzumachen und an Silvester mit den ganzen Idioten anzustoßen oder denen da oben einen fetten Mittelfinger zu zeigen und früh ins Bett zu gehen!" appelliert Tørgensen emphatisch an seine Follower. Wer sich fürs Anstoßen entscheide, warnt er, werde viel zu spät ein schmerzhaft böses Erwachen haben.

Der YouTuber ist einer der Wortführer der Silvesterleugner, die im Zuge des gesteigerten Bedarfs an Geheimwissen während der Pandemie von kaum einem Dutzend eingeschworener Individualisten zu einer heterogenen Szene mit tausenden von Anhängern gewachsen ist. Industriemechaniker befinden sich ebenso darunter wie Geistheiler, Sozialpädagogen, Anthroposophen, Fußballprofis, Scientology-Gläubige, Schauspieler, Rechtsextreme, Bratschenspieler, Schamanen, Hanfaktivisten, Klimawandelleugner, Kobolde, Impfgegner, Boomer, Homöopathen, Ideologiekritiker, Antisemiten, Israelkritiker, Holocaustleugner, FDP-Mitglieder, Flat Earther, Grüne, Heilpraktiker und Hippies. "Ab und zu sieht man auf den Demonstrationen auch ein paar Esoteriker oder Neonazis. Für unsere Gemeinschaft sind sie jedoch nicht repräsentativ", sagt Demo-Organisator Martin Heidegger, der in Wirklichkeit Heinrich Himmler heißt, jedoch nicht so genannt werden möchte, um nicht für einen rechten Esoteriker gehalten zu werden. Mit seiner schmalen Statur, dem braunen Anzug und dem akkurat frisierten Bürstenbart wirkt Heidegger auf den ersten Blick wie ein ganz normaler Puffgänger. Spricht er jedoch, wird schnell deutlich, dass er anderen Kram im Kopf hat als sündiges Rotlicht: "Dass die Mainstream-Zeitrechnung fake ist, wird bereits offenbar durch die Existenz der Tatsache, dass in anderen Kulturen ganz andere Zyklen zeiten", doziert er im Stil eines Professors. "Die Vorsokratiker sonnenwendeten alle vier Jahre zu Ehren von Käpt’n Odysseus. In China terminiert der sogenannte Frühling den sogenannten Jahreswechsel. Die Mayas haben mir nicht zurückgeschrieben und über die Juden darf man in Deutschland ja nichts sagen, weil man sonst gleich als Antisemit in die rechte Ecke gestellt wird."

Der heutigen Medienlandschaft wirft Heidegger vor, die Wahrheit über Sein und Zeit gezielt zu unterdrücken. Nicht einmal empirisch lasse sich eine exakte Fragmentierung des phänomenalen Zeitstrahls in einzelne Jahre rechtfertigen, da sich die Raumposition des Planeten nur in Relation zum umgebenden Universum bestimmen lasse und somit an die Intersubjektivität des erdbewohnenden Daseins gebunden sei. "Die Vorstellung, dass die Erde gleich einem Raumschiff um die Sonne kreist und wieder und wieder an exakt demselben Punkt vorbeifliegt, ist idiotisch", fasst Heidegger zusammen. "Genau dieses Bild habe ich jedoch kürzlich erst im Focus gesehen." Tatsächlich bestreiten auch Experten nicht, dass die Einteilung des Jahres in 365 Tage nicht ganz mit Erdumlaufbahn und -rotation kompatibel sei. "Alle vier Jahre müssen wir einen zusätzlichen Tag im Februar anhängen, damit die Sache aufgeht", erklärt Prof. Dr. Erklärbärin von der Max-und-Moritz-Universität in München. "Ich halte den gregorianischen Kalender trotzdem für eine sinnvolle Einrichtung. Das ist meine Überzeugung als Privatperson, nicht als Forscherin. Als Forscherin fehlen mir für eine eigene Meinung die nötigen Mittel."

Björn Tørgensen lebt auf einem abgelegenen Hof in Mecklenburg-Vorpommern. Ich bin mit ihm zum Tee verabredet, auf ein Datum konnten wir uns nicht einigen, weil er jegliche Zeitmessung für ein Werk des Teufels hält. Das Land hier ist weit, die Gedanken schweifen ganz von selbst umher, entfernen sich und fallen hinter dem Horizont in die Tiefe. Irgendwo mäht ein Schlafschaf. "Ich bin kein Verrückter!" grüßt Tørgensen mit vorgehaltener Kamera, als ich auf seinem Hof umherirre, und spannt den Schlagbolzen seines Colts.
"Parole?"
"Es gibt keinen Jahreswechsel", blöke ich demütig.
Tørgensens Vorsicht ist berechtigt, er bekommt im Netz viel Spott und Drohungen unter seine Videos kommentiert. "Ich will keine historischen Vergleiche ziehen, aber wir hatten in Deutschland schon mal so eine Situation", raunt der Vlogger mit zugehaltenem Mikrofon. Als wir nach den Anfängen seines ungewöhnlichen Weltbilds fragen, seufzt er tief in die Bong. "Natürlich habe ich früher wie alle Kinder an den Silvestermann geglaubt, der die Böller bringt. Irgendwann wurde mir klar, dass er eine Erfindung von Pepsi-Cola ist", resümiert Tørgensen. "Am Jahreswechsel habe ich trotzdem nie gezweifelt, bis mein bester Freund Dieter nicht mehr mit mir feiern wollte. Als ich nach dem Grund fragte, schickte Dieter mir den Link zu einer russischen Website mit lauter YouTube-Videos. Da fiel auch bei mir der Groschen: Wenn ich nicht mitziehe, setze ich meine einzige Freundschaft aufs Spiel. Also habe ich interessiert getan und mich ein bisschen in die Materie eingebingt."

Den Kontakt zu Dieter hat er inzwischen abgebrochen, seit dieser auf einer Silvesterparty mit Gregorianern gesehen wurde und sogar Raketen gezündet hat. "Mit den sogeannten Silvesterraketen wird jedes Mal ein winziger Satellit in die Erdumlaufbahn geschossen", erklärt Tørgensen fachkundig. "Nach und nach wird so ein weltumspannendes Netz totaler Überwachung installiert." Den Verzicht auf Feuerwerk und Böllerverbote hält er ebenso wie sein Szenefreund Heidegger für das Verschleierungsmaneuver einer Finanzelite aus einflussreichen Spekulanten von der Ostküste. Als Gegenentwurf zur oktroyierten Weltregierungszeit hat Herr Heidegger einen alternativen Kalender entwickelt. "Statt in Jahren zu altern lebendigen wir in Quararen", erläutert er. "Ein Quarar besteht aus 1461 Nächten, das entspricht nach dem Zwangskalender des Mainstreams 48 Monaten und einem Tag." Tage, Wochen und Monate seien jedoch ebenfalls Konstrukte der Strippenzieher im Hintergrund. "In Wirklichkeit gibt es keine Zeiteinheiten", konstatiert Heidegger. "Nächte gibt es eigentlich auch nicht, an dem Problem arbeiten ich noch."

"Wir müssen ganz von vorn beginnen", ist auch Björn Tørgensen überzeugt. "Am Anfang des Lügenkalenders von der Wallstreet steht mit Jesus die Geburt eines, naja, ich bin nicht rechts oder so, aber denken Sie mal darüber nach." Bevor wir uns verabschieden überreicht uns Tørgensen noch eine Casio-Baby-G aus dem 11. Jahrhundert, die er auf einem Mittelaltermarkt am Stand seiner Oma gekauft hat. "Sehen Sie mal", sagt er. "Sie tickt in Quararen. Jedenfalls wenn man eine Batterie einlegt. Leider existieren keine mehr aus dem 11. Jahrhundert." Dass seine Großmutter ihm eine Fälschung verhökert hat, kann Björn Tørgensen sich nicht vorstellen: "Vom Enkeltrick habe ich schon gehört, vom Omatrick noch nie!" Die Silvesterleugner scharen derweil weitere Anhänger um sich. Für sie ist 2020 noch immer nicht zu Ende, das letzte Jahr ihres Lebens.

Valentin Witt

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Weiter so, uruguayischer Künstler Pablo Atchugarry!

Eine angeblich von Ihnen geschaffene Bronzeskulptur im englischen Cambridge soll an Prinz Philip erinnern, der dort von 1977 bis 2011 Kanzler der Universität war. Allerdings wird das Kunstwerk, das im Auftrag eines reichen Bauträgers angefertigt wurde, von vielen als verunglückt empfunden und zieht seit nunmehr zehn Jahren Spott auf sich.

Dass Sie mittlerweile die Urheberschaft leugnen, um Ihr Renommee als Künstler zu schützen, ist zwar verständlich, aber aus unserer Sicht völlig unnötig. Wenn sich das Konzept durchsetzt, lästige Promis, die uns über Jahrzehnte viel Zeit, Geld und Nerven gekostet haben, mit langlebigen Schrott-Monumenten zu schmähen, werden Sie sich vor Aufträgen bald kaum noch retten können. Und das Beste: Weil andere Großkopferte sich mit ihren Eskapaden zurückhalten würden, um nicht von Ihnen verewigt zu werden, sorgten Sie auch noch für Ruhe und gesellschaftlichen Frieden.

Hofft, dass dieser Vorschlag einen Stein ins Rollen bringt: Titanic

 Ganz schön unentspannt, Giorgia Meloni!

Ganz schön unentspannt, Giorgia Meloni!

Nachdem Sie eine Klage wegen Rufschädigung eingereicht haben, wird nun voraussichtlich ein Prozess gegen den britischen Rockstar Brian Molko eingeleitet. Dieser hatte Sie bei einem Konzert seiner Band Placebo in Turin als Nazi und Faschistin bezeichnet.

Wir finden, da könnten Sie sich mal etwas lockermachen. Wer soll denn bitte noch durchblicken, ob Sie gerade »Post-«, »Proto-« oder »Feelgood-« als Präfix vor »Faschistin« bevorzugen? Und: Wegen solcher Empflichkeiten gleich vor Gericht zu gehen, kostet die Justiz so viel wertvolle Zeit. Die könnte sie doch auch nutzen, um Seenotretter/innen dingfest zu machen oder kritische Presse auszuschalten. Haben Sie darüber schon mal nachgedacht, Sie Snowflake?

Schlägt ganz gelassen vor: Titanic

 Warum, Internet?

Täglich ermöglichst Du Meldungen wie diese: »›Problematisch‹: Autofahrern droht Spritpreis-Hammer – ADAC beobachtet Teuer-Trend« (infranken.de).

Warum greifst Du da nicht ein? Du kennst doch jene Unsichtbar-Hand, die alles zum Kapitalismus-Besten regelt? Du weißt doch selbst davon zu berichten, dass Millionen Auto-Süchtige mit Dauer-Brummbrumm in ihren Monster-Karren Städte und Länder terrorisieren und zum Klima-Garaus beitragen? Und eine Lobby-Organisation für Immer-Mehr-Verbrauch Höher-Preise erst verursacht?

Wo genau ist eigentlich das Verständlich-Problem?

Rätselt Deine alte Skeptisch-Tante Titanic

 Ganz schön kontrovers, James Smith,

was Du als Mitglied der britischen Band Yard Act da im Interview mit laut.de vom Stapel gelassen hast. Das zu Werbezwecken geteilte Zitat »Ich feiere nicht jedes Cure-Album« hat uns jedenfalls so aufgewühlt, dass wir gar nicht erst weitergelesen haben.

Wir mögen uns nicht ausmalen, zu was für heftigen Aussagen Du Dich noch hast hinreißen lassen!

Findet, dass Provokation auch ihre Grenzen haben muss: Titanic

 Ach, Scheuer-Andi,

wie der Spiegel meldet, wird niemand für Sie in den Bundestag nachrücken. Da scheinen die Fußstapfen wohl einfach zu groß zu sein.

Die Besten gehen immer zu früh …

Weiß Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Gute Nachricht:

Letzte Woche in der Therapie einen riesigen Durchbruch gehabt. Schlechte Nachricht: Blinddarm.

Laura Brinkmann

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

 Spielregeln

Am Ende einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Partie fragt der demente Herr, ob er erst eine Sechs würfeln muss, wenn er zum Klo will.

Miriam Wurster

 In Würde altern

Früher hätte mich der riesige Pickel mitten auf meinem Hals stark gestört. Heute trage ich den wohl niedlichsten ausgeprägten Adamsapfel, den die Welt je gesehen hat, mit großem Stolz ein paar Tage vor mir her.

Ronnie Zumbühl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg