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Bei den Schleimschleudern des Marmarameers

Es ist eine ökologische Katastrophe wie sie selbst in Andreas Scheuers Kopf kaum größer ist: Das türkische Marmarameer zwischen Schwarzem Meer und Ägäis ist derartig voll von Schleim, dass bereits 60 Prozent der ursprünglich beheimateten Arten verschwunden sind – es gilt inzwischen als totes Meer. Woher kommt der Schleim, wo geht er hin? Statt weiter aus der Ferne im Trüben zu fischen, wollen wir vor Ort im Trüben fischen. Eine Schleimspurensuche

Träge wälzen Fluten ans Meeresufer von Istanbul, bleiben an den Steinen kleben und ziehen lange Fäden. Kinder, die im Wasser gespielt haben, laufen in dicken Schleimschuhen den Strand hoch und werden von der Brandung zurück in die stinkende Giftbrühe gezogen, immer und immer wieder. Interessiert schauen die Eltern dem Treiben zu. Sie wohnen urban und sind heute ans Meer gefahren, um dem dichten Smog der Stadt zu entkommen. Von der Meerverschleimung haben sie in den Nachrichten gehört. Nachdem im Sommer ein Teil des Schleims abgesaugt wurde, sei das Baden nun wieder sicher, hieß es, der Schleim nicht mehr als eine kleine Gewässerbronchitis.

Nicht alle sehen die Umweltkatastrophe so unkritisch. In einer Bubbleteabar am Hafen treffen wir Ahmed Emre, er will sich vordrängeln. Wie Emre bald erwähnt, ist er Professor für Bio und Latein an der hiesigen Fachhochschule. Neulich sei er mit dem Kajak aufs Meer hinaus, um sich den Schleimkram persönlich anzuschauen, berichtet er. Was er dort gesehen habe, könne er nicht mehr vergessen, weil er alles dokumentiert habe. „Die Artenvielfalt, wie sie im Marmarameer zu Zeiten Konstantins existierte, existiert nun nicht mehr“, konstatiert Emre. Die verbliebenen Tierarten gehörten allesamt zu den Schleimfischen und den Wasserschnecken. „Eine natürliche Dezimierung des Artenreichtums durch Überfischung, wie sie in küstennahen Biotopen typisch ist, wird durch die Biobiversität unmöglich“, sagt Emre. Starke Wasserverschmutzung führe zu extremer Algenvermehrung. Diese Algen würden nun das Meer vollschleimen. „Schuld ist wieder einmal der Mensch durch seinen Lebenswandel. Diesen Schleim haben wir uns selbst eingebrockt, nun müssen alle beim Auslöffeln helfen. Für eine schleimfreie Zukunft im Marmarameer brauchen wir jedoch ein neues Rezeptbuch und größere Löffel“, mahnt Mahmud Emre. Dann erzählen wir ihm von unserer Reportage und einem dringenden Termin mit dem Wissenschaftler Prof. Muhammer Öztürk vom regierungsnahen Seemannsgarninstitut, der uns bei der Einreise „angeboten“ wurde und den wir nun wahrnehmen müssten. In Wirklichkeit wollen wir Mr. Geltungsdrang bloß loswerden. Wir sind erst am Abend verabredet.

Der Treffpunkt liegt im Industriegebiet. Auf dem Weg dorthin entdecken wir ein Gebäude, aus dem ein riesiges Rohr Schleimfontänen ins Meer schießt. Eine Internetrecherche ergibt unzweifelhaft, dass hier die türkische Pornoindustrie pulsiert. So erklären sich natürlich auch die ständigen Stöhnlaute aus allen Fensteröffnungen und der seltsame Porno-Look der Leute. Sind wir hier auf die Meerschleimquelle gestoßen? Der Wünschelrutentest ist uneindeutig. Wir begehren Einlass, werden an der Hauptpforte aber zurückgewiesen. Erst nach endlosem Hin und Her und der Zahlung einer kleinen „Servicepauschale“ erklärt man sich schließlich bereit, uns durch die Hintertür hereinzulassen, sofern wir auch dort genug schmieren würden. Nicht einmal ausgedacht könnte die Symbolik dieses Zutritts unangenehmer sein. Beklommen schieben wir uns durch die engen Gänge des Verwaltungstraktes.

Im Pressebüro begrüßt uns ein braungelockter Mittvierziger mit Pilotenbrille und Oberlippenbart, trotz Corona ohne Gummihandschuh und mit leicht glitschigem Händedruck. Er heiße Dr. Long, lieber lasse er sich allerdings bei seinem Künstlernamen Farty McFartboy rufen, was er denn für uns tun könne. Wir seien die Klempner, scherzen wir, und wollten eine Wasserleitung reparieren. Für Geschleime fehlt leider die Zeit, wir kommen direkt zur Sache: Welcher Schleim da draußen ins Meer gefeuert werde, wollen wir wissen. „Hier werden zwar täglich etliche Hektoliter diverser schleimiger Flüssigkeiten abgepumpt, im Meer landen sie jedoch selten“, beschwichtigt Farty. „Auch wenn es hier manchmal schmutzig zugeht: Schleimmeerschleim wird hier nicht im Meer entsorgt, darauf gebe ich Ihnen mein Wort!“ Das Abspritzrohr am Ufer diene lediglich der Ausleitung harmloser Chemikalien aus der angegliederten Sextoyproduktion. Verdammt! Aus dem greifbar nahen investigativjournalistischen Coup wird wohl vorerst nichts. Unbefriedigt verlassen wir das Pornogelände.

Prof. Öztürk erwartet uns in einem Lokal, das übersetzt soviel wie „Schleimschenke“ bedeutet. Wir sitzen noch nicht, da beginnt er schon mit seinem Vortrag: „Die genaue Entstehung der Schleimschwemme ist derzeit undurchsichtig und wird unter Forschern weiter lebhaft diskutiert. Zwar gelten Algen als schleimende Kraft der Verschmutzung, Kenner der zähflüssigen Materie halten diese Theorie jedoch nicht für hieb- und stichfest.“ Ökologische Krisen dieser Größenordnung könnten nicht monokausal erklärt werden. „Ich jedenfalls glaube nicht an die Algenhypothese,“ sagt Öztürk. „Als Professor im Bereich Finance sehe ich die Ökologie ökonomisch als Produkt unterschiedlicher Wirtschaftsinteressen. Ich frage mich: Cui bono? Hat da womöglich ein Todfeind seine Finger im Spiel?“

Eine Verschwörung des Auslandes sei die wahrscheinlichste Hypothese zur Erklärung der Umweltzerstörung „Welcher selbsternannte Staat unweit der Türkei ist denn mit einem toten Meer gestraft? Na? Klingelt’s? Könnte es sein, dass ‚sie‘ uns aus Neid und purer Bösartigkeit das schöne Marmarameer nicht gönnen und deshalb vor den Toren unserer glorreichen Schwerindustrie das Wasser mit toxischen Mucinen vollpumpen?“ fragt Öztürk und erweckt den Eindruck, die Antwort bereits zu kennen. An eindeutigen Beweisen werde derzeit gearbeitet, bis zur Veröffentlichung wolle man sich bedeckt halten und den 1948 gegründeten Mittelmeerstaat nicht vorverurteilen. „Trotzdem müssen wir derzeit leider davon ausgehen, dass hier der Teufel mit I am Werk ist, das ist auch die Überzeugung Erdoğans.“ Für den Fall, dass wir diese nicht teilen, notiert er uns die Nummer der deutschen Botschaft. Doch ehe wir seinen antisemitischen Märchen etwas entgegnen können, zerfließt Öztürk zu Schleim und verschwindet im Waschbecken. Es scheint, als sei er gar nicht recht an der Wahrheit interessiert.

Wir haben genug vom Schleim, es ist höchste Eisenbahn für den Rückflug! Ein letztes Mal rasten wir an der Küste. Eine Schleimskulptur erinnert hier an Zusammenstoß und Untergang zweier Frachter – der eine mit Speisestärke, der andere mit batteriebetriebenen Tauchsiedern beladen. Durch das Unglück entstand eine gigantische Menge Schleim im Marmeladenmeer. Damals machte man aus der Not eine Tugend und holte die Dreharbeiten des Films „Flubber“ mit Robbie Williams an den Ort des Unglücks. Doch inzwischen ist Robbie Williams tot, und ein zweiter Teil ist nicht in Sicht (von Flubber, nicht von Williams). Wohin also mit dem ganzen Schleim? Womöglich gibt es Hoffnung, dann könnte das Marmarameer schon bald Gold- statt Schleimgrube sein. Gerüchten zufolge hat nämlich die deutsche Bundesregierung angeboten, den Schleimbestand aufzukaufen, um ihn als Geheimwaffe einzusetzen, wenn Verhandlungen mit Interessenvertretern der Wirtschaft feststecken.

Valentin Witt

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Kleiner Tipp, liebe Eltern!

Wenn Eure Kinder mal wieder nicht draußen spielen wollen, zeigt ihnen doch einfach diese Schlagzeile von Spektrum der Wissenschaft: »Immer mehr Lachgas in der Atmosphäre«. Die wird sie sicher aus dem Haus locken.

Gern geschehen!

Eure Titanic

 Hello, Herzogin Kate!

Hello, Herzogin Kate!

Ihr erster öffentlicher Auftritt seit Bekanntmachung Ihrer Krebserkrankung wurde von der Yellow Press mit geistreichen Überschriften wie »It’s just Kate to see you again« oder »Kate to have you back« bedacht.

Und bei solchen Wortspielen darf unsereins natürlich nicht fehlen! Was halten Sie von »Das Kate uns am Arsch vorbei«, »Danach Kate kein Hahn« oder »Das interessiert uns einen feuchten Katericht«?

Wie immer genervt vom royalen Kateöse: Titanic

 Du wiederum, »Spiegel«,

bleibst in der NBA, der Basketball-Profiliga der Männer in den USA, am Ball und berichtest über die Vertragsverlängerung des Superstars LeBron James. »Neuer Lakers-Vertrag – LeBron James verzichtet offenbar auf Spitzengehalt«, vermeldest Du aufgeregt.

Entsetzt, Spiegel, müssen wir feststellen, dass unsere Vorstellung von einem guten Einkommen offenbar um einiges weiter von der Deiner Redakteur/innen entfernt ist als bislang gedacht. Andere Angebote hin oder her: 93 Millionen Euro für zwei Jahre Bällewerfen hätten wir jetzt schon unter »Spitzengehalt« eingeordnet. Reichtum ist wohl tatsächlich eine Frage der Perspektive.

Arm, aber sexy: Titanic

 Ach, welt.de!

Die Firma Samyang stellt offenbar recht pikante Instant-Ramen her. So pikant, dass Dänemark diese jetzt wegen Gesundheitsbedenken vom Markt genommen hat. Und was machst Du? Statt wie gewohnt gegen Verbotskultur und Ernährungsdiktatur zu hetzen, denunzierst Du Samyang beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, wo Du fast schon hämisch nachfragst, ob das Produkt vielleicht auch hierzulande verboten werden könne.

Das Amt sekundiert dann auch sogleich bei der Chilifeindlichkeit und zählt als angebliche »Vergiftungssymptome« auf: »brennendes Gefühl im (oberen) Magen-Darm-Trakt, Sodbrennen, Reflux bis hin zu Übelkeit, Erbrechen und Schmerzen im Bauch- und Brustraum. Bei hohen Aufnahmemengen können zudem Kreislaufbeschwerden auftreten – beispielsweise Kaltschweißigkeit, Blutdruckveränderungen und Schwindel«. Hallo? Neun von zehn dieser »Nebenwirkungen« sind doch der erwünschte Effekt einer ordentlich scharfen Suppe! Erbrechen müssen wir höchstens bei so viel Hetze!

Feurig grüßt Titanic

 Lieber Fritz Merz,

im Podcast »Hotel Matze« sagst Du, dass Du in Deutschland große Chancen bekommen hättest und etwas zurückgeben wolltest. Jawollo! Wir haben da direkt mal ein bisschen für Dich gebrainstormt: Wie wär’s mit Deinem Privatjet, dem ausgeliehenen vierten Star-Wars-Film oder dem Parteivorsitz? Das wäre doch ein guter Anfang!

Wartet schon ganz ungeduldig: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Der kästnerlesende Kniebeuger

Es gibt nichts Gutes
Außer man Glutes.

Sebastian Maschuw

 Lifehack von unbekannt

Ein Mann, der mir im Zug gegenüber saß, griff in seine Tasche und holte einen Apfel heraus. Zu meinem Entsetzen zerriss er ihn mit bloßen Händen sauber in zwei Hälften und aß anschließend beide Hälften auf. Ich war schockiert ob dieser martialischen wie überflüssigen Handlung. Meinen empörten Blick missdeutete der Mann als Interesse und begann, mir die Technik des Apfelzerreißens zu erklären. Ich tat desinteressiert, folgte zu Hause aber seiner Anleitung und zerriss meinen ersten Apfel! Seitdem zerreiße ich fast alles: Kohlrabi, Kokosnüsse, anderer Leute Bluetoothboxen im Park, lästige Straßentauben, schwer zu öffnende Schmuckschatullen. Vielen Dank an den Mann im Zug, dafür, dass er mein Leben von Grund auf verbessert hat.

Clemens Kaltenbrunn

 Dialog auf Augenhöhe

Zu meinen Aufgaben als Marketingexperte in einem modernen Dienstleistungsunternehmen gehört es unter anderem, unzufriedene Kunden zu beschwichtigen. Vor kurzem beschwerte sich einer von ihnen darüber, dass wir in unseren Texten immer dieselben Bausteine verwenden. Die Mail ließ mich ganz irritiert zurück. Ein Glück, dass wir für genau solche Anfragen gleich fertige Antworten haben.

Andreas Maier

 Unübliche Gentrifizierung

Zu Beginn war ich sehr irritiert, als mich der Vermieter kurz vor meinem Auszug aufforderte, die Bohr- und Dübellöcher in den Wänden auf keinen Fall zu füllen bzw. zu schließen. Erst recht, als er mich zusätzlich darum bat, weitere Löcher zu bohren. Spätestens, als ein paar Tage darauf Handwerkerinnen begannen, kiloweise Holzschnitzel und Tannenzapfen auf meinen Böden zu verteilen, wurde mir jedoch klar: Aus meiner Wohnung wird ein Insektenhotel!

Ronnie Zumbühl

 Reifeprozess

Musste feststellen, dass ich zum einen langsam vergesslich werde und mir zum anderen Gedanken über die Endlichkeit allen Lebens mache. Vor meiner Abreise in den Urlaub vergaß ich zum Beispiel, dass noch Bananen in meiner Obstschale liegen, und dann dachte ich zwei Wochen darüber nach, wie lange es wohl dauert, bis die Nachbarn wegen des Geruchs und der Fliegen aus meiner Wohnung die Kripo alarmieren.

Loreen Bauer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster