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"TikTok-Mordfälle würden wir nicht mal mit der Greifzange anfassen"
In Nordrhein-Westfalen rollen Polizei-Pensionäre ungelöste Verbrechen aus den letzten Jahrzehnten noch einmal auf. TITANIC hat einen von ihnen in seinem Bungalow besucht.
Konzentriert sitzt Walter Jerich in seinem Ohrensessel und fährt mit der Lupe über eine vergilbte Druckseite. Den Teller mit einer halb aufgegessenen Rindsroulade schiebt er an den Rand seines Kirschbaumholzschreibtischs. Sie ist kalt, ebenso wie der fast 40 Jahre alte Fall, in dem der 94jährige gerade ermittelt. Der Solinger Rollschuhdiscomörder wurde trotz Dutzender Zeugen nie gefasst.
Eine Datenbank des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen listet über 1000 ungeklärte Tötungsdelikte aus den letzten 50 Jahren auf. Jerich ist einer von 28 pensionierten Ermittlern, die das Land beauftragt hat, Akten- und Sargdeckel noch einmal zu lüften. Die "Chef-Oldfiler", wie sie polizeiintern genannt werden, seien perfekt geeignet, um in den Cold Cases noch einmal Fährte aufzunehmen. "Eine Spürnase bleibt eine Spürnase, auch wenn sie nicht mehr so gut riechen kann und grausige Funde eigentlich nur noch aus dem Gemüsefach kennt", meint NRW-Innenminister Herbert Reul. Er hat das Projekt ins Leben gerufen. "Heiß wie Essen auf Rädern" seien die Polizei-Pensionäre auf den Job, so Reul. Auch Jerich sagte sofort zu. Seitdem wälzt er fast jeden Tag Akten, die holzvertäfelten Wände seines Kellerbüros sind voll mit Phantombildern. Die könne er noch ziemlich gut zeichnen, trotz Parkinson, sagt er. Nur eine Uhr kriege er irgendwie nicht mehr hin. Das brauche er für den Job aber auch nicht.
Kriminalfälle löse er einfach lieber als Sudoku. Außerdem seien echte Fälle das anspruchsvollste Gedächtnistraining. Beim "Tatort" oder diesen Crime-Magazinen kenne er immer schon nach wenigen Minuten den Täter. Vor allem die ganz alten Datenbank-Einträge hätten es ihm angetan, insbesondere sogenannte Dino-Delikte, Straftaten, die es nicht mehr gibt. Zum Beispiel Asbest-Morde aus den 70ern, bei denen der Tod erst 30 bis 40 Jahre später eintritt. Oder die Tötung mithilfe elektrischer Brotmesser, welche in den 60er-Jahren beliebt war. "So was hat ja heutzutage niemand mehr", winkt Jerich ab und greift nach dem Kaffeekranz auf seiner Untertasse. Auch Verbrechen, die früher noch keine waren, wie z.B. der Femizid in der Ehe, der noch bis 1959 straffrei blieb, wenn er im Affekt passierte, zählen zu seinen Favoriten.
Es klingelt an der Tür. Die nächste Leiche oder doch der ambulante Pflegedienst? Draußen steht sein ehemaliger Vorgesetzter Kriminalhauptkommissar Hans-Georg Lüneborg im beigen Trenchcoat und gleichfarbigen Gesundheitssandalen in Begleitung seiner Tochter. Lüneborg lebt mittlerweile im Fritz-Haarmann-Seniorenstift ein paar Straßen weiter. Jeden Mittwoch um drei treffen sich die beiden, um den Stand der Ermittlungen zu besprechen. Vor ein paar Monaten hatten sie sich an einem Fall so richtig festgebissen. "Und das ohne Haftcreme", scherzt Lüneborg und wirft sich eine Dörrpflaume in den Mund. Da sind sie auf eigene Faust in die JVA Duisburg gefahren, um Vernehmungen durchzuführen. Eine Spur führte die beiden in den Gefängnisgeriatrietrakt "Bad Harzburg", in dem zwei Tatverdächtige, 87 und 89 Jahre alt, einsitzen. Jerich wollte herausfinden, ob die beiden unter einer Heizdecke stecken. In solchen Fällen ließen ihnen die jüngeren Kollegen aber auch so gerne mal den Vortritt – wegen ihrer Verhörmethoden. Die seien "alte Schule", ein Alleinstellungsmerkmal. Ihre Spezialität ist der Schlafentzug. Das falle ihnen besonders leicht, sie seien sowieso immer lange wach und stünden früh auf. Allerdings funktioniere die Methode auch nur bei jungen Verdächtigen.
Vereinzelt käme es auch vor, dass sie mit der Ermittlung in anderen andere Strafsachen, z.B. Haustürbetrug, beauftragt würden. Auch hier profitierten sie von ihrer jahrelangen Erfahrung. Vieles sei am Ende doch ganz anders, als man nach dem ersten Eindruck meine, krächzt Lüneborg verschwörerisch. Vor kurzem gab es einen Fall, da öffnete eine ältere Dame nichtsahnend die Tür. Dann wurde ihr eine kostspielige Teppichreinigung aufgedrängt. Ein paar Wochen später kamen die Teppiche porentief rein zurück. Die Spuren der Leiche, die die Seniorin darin eingerollt gehabt hatte, waren nahezu verloren. Das Wiederaufrollen von Teppich und Fall gestaltete sich denkbar schwierig.
Ab und zu arbeiten sie aber auch mit jungen Kollegen zusammen, insbesondere dann, wenn klassische Delikte unter Einbeziehung neuer Technologien erweitert werden, z.B. wenn Kriminelle Bewegungsdaten stehlen und dann einen Bankautomaten genau in dem Moment per Fernzünder sprengen, wenn die Person dort Geld abheben will. "Zur falschen Zeit am falschen Ort", habe es früher in solchen Fällen oft geheißen. Heute hätten sowohl Täter als auch Ermittler viel mehr Möglichkeiten. Noch in den 1990er Jahren habe man sich oft mit Rufmord zufriedengeben müssen, heute könne jeder, der sich ein bisschen auskenne, einen Mord im Darknet beauftragen.
Zwar ist die Mordstatistik seit Jahren rückläufig, eine gewisse Verrohung der Gesellschaft wollen die beiden Senioren-Ermittler trotzdem festgestellt haben. Damals sei es bei den Morden noch um etwas gegangen: Geld, Blutrache, Zeugenbeseitigung, während heute vor allem junge Leute jeden zufällig gefilmten oder eigens dafür in Auftrag gegebenen Mord für ein paar Klicks bei TikTok ausschlachten würden. Zum Glück sei er in der komfortablen Situation, sich mit so etwas nicht beschäftigen zu müssen. Fälle wie diese würde er, so Jerich, "nicht mit der Greifzange anfassen".
Julia Mateus