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Meine Existenz ist bedroht!

Ein Zwischenruf von Mark-Stefan Tietze

Heute geht es hier mal wieder um alles. Nämlich um die Existenz, aber gerne auch "die nackte" (also irgendwie geile) "Existenz" an sich. Im Augenblick, in den aktuellen Nachwehen der derzeitigen Starkregen- und Hochwasservorfälle, doch erst recht in Folge der auslaufenden und willkürlich wiedereingesetzten Lockdown-Regelungen zur Eindämmung der (wiederanziehenden) Pandemie, steht viel "Existenz auf dem Spiel". Wenn nicht gar durch die heiklen Corona-Notverordnungen und -gesetze insbesondere zur Strangulierung der Gastronomie bereits zuhauf "Existenzen bedroht, zerstört und vernichtet wurden".

Es geht also, landauf, landab, um des Menschen "Existenz". Die vielbeklagte "Existenzvernichtung" (und damit meinen wir ausdrücklich nicht die Hunderten von Unglücklichen, die tatsächlich ihr Leben verloren haben oder ihre physische Unversehrtheit eingebüßt) sieht hierzulande meist so aus, dass Menschen fassungslos auf ihre verwüsteten Häuser blicken und stöhnend auf ihren Restaurantterrassen in Flussnähe aufräumen. Man merkt dann schnell: Der Mensch wird hier als Eigenheimbesitzer und selbständiger Gastronom gedacht.

"Existenz bedroht, Existenz zerstört, Existenz vernichtet"

Da stehen Männer in Camp-David-Shirts und Wellensteyn-Jacken vor ihren beschädigten Immobilien, begutachten durchfeuchtetes Mobiliar und stammeln fassungslos, sie hätten "alles verloren", stünden "buchstäblich vor dem Nichts". Wobei eigentlich nichts dagegen zu sagen ist, dass die Betroffenen ihre Lage subjektiv als total dramatisch wahrnehmen und dementsprechend übertreiben und sich der Rhetorik des Katastrophenfilms unterwerfen. Jeder von uns würde dies tun, und so tun es alle.

Irgendwelche Leute steigen dann in die Kanalisation, die plötzlich zum System der "Lebensadern unserer Gesellschaft" aufgewertet wird, und unsere Gesellschaft, fasziniert von sich selbst, begreift dann erst, wie voraussetzungsreich und prinzipiell instabil sie ist, und erschauert. Man sollte bloß in Zeiten, in denen die Grenzen zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem zu verschwimmen drohen, in denen schlichte Migrationsbewegungen von vielen bereits im ideologischen Frame des "Großen Bevölkerungsaustauschs" wahrgenommen werden, ein bisschen auf die Worte und ihre Bedeutung achten.

Da stehen dann also Leute, deren millionenschwere Uferrestaurantterrasse mit Schlamm bedeckt wurde, klagen über "Umsatzeinbußen" und "Versicherungsschäden", fahren mit Motorbötchen durch die überfluteten Gassen ihrer Städtchen und ringen die Hände über die Belastung ihrer Bankkonten, die sie in den Bankrott führen könnte. Gewiss ist das alles sehr betrüblich, aber bedroht ist hier doch lediglich eine berufliche Existenz, und das ja wahrscheinlich nur für einen gewissen Zeitraum und nicht einmal für immer – was mir für eine anständige Existenzvernichtung jedoch Voraussetzung zu sein scheint.

"Existenz = BERUFLICHE", "Vorsicht: metaphorisch gemeint", "Warnung: übertrieben"

Es ist aber, ebenfalls meiner Ansicht nach, kein feiner Zug, sich an das unbestreitbare Unglück der Menschen, die tatsächlich ihre Existenz, nämlich ihr Leben verloren haben, zum Zwecke der Dramatisierung oder Profilierung dranzuhängen, auch wenn man denen dabei beim Schlammschippen zuschaut und ein betroffenes Gesicht macht. Diese Art von Existentialismus will ja nicht, im Sinne Sartres, die "Bürde der Verantwortung", die mit der Freiheit kommt, auf möglichst viele Schultern verteilen, sondern lediglich Mitgefühl für die Opfer des krisengeschüttelten Wirtschaftsgeschehens herausschlagen. Aber nicht zum edlen Selbstzweck, sondern um unseren – im FDP-Sinne – unbedingten Willen zur Eigenverantwortung zu stärken.

Dass diese Leute, die in den Livekommentaren der sensationsgeilen Medienmenschen gerade noch um "ihre Existenz ringen", nun aber zum Ende des Beitrags plötzlich stöhnen: "Da haben wir noch mal Glück gehabt ...", und alsdann "die Ärmel hochkrempeln" und "mit Zuversicht und Mut in die Zukunft schauen" und dazu von ebenjenen Reportern "ganz ganz fest die Daumen gedrückt bekommen für die nächsten Monate", sollte uns dann letztlich doch hoffnungsfroh stimmen. Und um weitere Verwechslungen auf den Ebenen von Sinn und Weltanschauung zu vermeiden, sollten für die Zukunft im Fernsehen einige Vorkehrungen getroffen werden.

Wenn jemand einfach seines Job, seines Einkommens oder seines Eigentums verlustiggegangen ist und also höchstens seine berufliche Existenz für einen Moment verlorengegangen glaubt und trotzdem über die "Vernichtung seiner Existenz" schwadroniert, möge man jedes Mal, so es technisch möglich ist, unten im TV-Bild möglichst in Laufschrift einblenden: "Existenz = BERUFLICHE" oder "Vorsicht: metaphorisch gemeint" oder "Warnung: übertrieben (Realitätsgehalt: unter 20 %)".

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Verehrte Joyce Carol Oates,

da Sie seit den Sechzigern beinah im Jahrestakt neue Bücher veröffentlichen, die auch noch in zahlreiche Sprachen übersetzt werden, kommen Sie vermutlich nicht dazu, jeden Verlagstext persönlich abzusegnen. Vielleicht können Sie uns dennoch mit ein paar Deutungsangeboten aushelfen, denn uns will ums Verrecken nicht einfallen, was der deutsche Ecco-Verlag im Sinn hatte, als er Ihren neuen Roman wie folgt bewarb: »›Babysitter‹ ist ein niederschmetternd beeindruckendes Buch, ein schonungsloses Porträt des Amerikas der oberen Mittelschicht sowie ein entlarvender Blick auf die etablierten Rollen der Frau. Oates gelingt es, all dies zu einem unglaublichen Pageturner zu formen. In den späten 1970ern treffen in Detroit und seinen Vorstädten verschiedene Leben aufeinander«, darunter »eine rätselhafte Figur an der Peripherie der Elite Detroits, der bisher jeglicher Vergeltung entkam«.

Bitte helfen Sie uns, Joyce Carol Oates – wer genau ist ›der Figur‹, dem es die elitären Peripherien angetan haben? Tragen die Leben beim Aufeinandertreffen Helme? Wie müssen wir uns ein Porträt vorstellen, das zugleich ein Blick ist? Wird das wehtun, wenn uns Ihr Buch erst niederschmettert, um dann noch Eindrücke auf uns zu hinterlassen? Und wie ist es Ihnen gelungen, aus dem unappetitlich plattgedrückten Matsch zu guter Letzt noch einen »Pageturner« zu formen?

Wartet lieber aufs nächste Buch: Titanic

 Ganz schön kontrovers, James Smith,

was Du als Mitglied der britischen Band Yard Act da im Interview mit laut.de vom Stapel gelassen hast. Das zu Werbezwecken geteilte Zitat »Ich feiere nicht jedes Cure-Album« hat uns jedenfalls so aufgewühlt, dass wir gar nicht erst weitergelesen haben.

Wir mögen uns nicht ausmalen, zu was für heftigen Aussagen Du Dich noch hast hinreißen lassen!

Findet, dass Provokation auch ihre Grenzen haben muss: Titanic

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

 Clever, »Brigitte«!

Du lockst mit der Überschrift »Fünf typische Probleme intelligenter Menschen«, und wir sind blöd genug, um draufzuklicken. Wir lernen, dass klug ist: wer mehr denkt, als er spricht, wer sich ungeschickt im Smalltalk anstellt, wer sich im Job schnell langweilt, wer sich mit Entscheidungen schwertut, wer bei Streit den Kürzeren zieht und wer ständig von Selbstzweifeln geplagt wird.

Frustriert stellen wir fest, dass eigentlich nichts von alledem auf uns zutrifft. Und als die Schwachköpfe, die wir nun einmal sind, trauen wir uns fast gar nicht, Dich, liebe Brigitte, zu fragen: Waren das jetzt nicht insgesamt sechs Probleme?

Ungezählte Grüße von Deiner Titanic

 Hoppla, Berliner Gefängnischefs!

Drei von Euch haben laut Tagesspiegel wegen eines Fehlers der schwarz-roten Regierungskoalition statt einer Gehaltserhöhung weniger Geld bekommen. Aber der Ausbruch von Geldnöten soll durch einen Nachtragshaushalt verhindert werden. Da ja die Freundschaft bekanntlich beim Geld endet: Habt Ihr drei beim Blick auf Eure Kontoauszüge mal kurz über eine Ersatzfreiheitsstrafe für die nachgedacht, die das verbrochen haben?

Wollte diese Idee nur mal in den Raum stellen: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

 Tödliche Pilzgerichte (1/1)

Gefühlte Champignons.

Lukas Haberland

 Back to Metal

Wer billig kauft, kauft dreimal: Gerade ist mir beim zweiten Sparschäler innerhalb von 14 Tagen die bewegliche Klinge aus ihrer Plastikaufhängung gebrochen. Wer Sparschäler aus Kunststoff kauft, spart also am falschen Ende, nämlich am oberen!

Mark-Stefan Tietze

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

Vermischtes

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Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg