Artikel
In anderthalb Stunden von der Wiege bis zur Bahre
Auf Stippvisite in Deutschlands jüngster und ältester Gemeinde.
Die schleswig-holsteinische Ortschaft Kirchspiel Garding gilt den Zahlen des Statistischen Bundesamtes zufolge als Gemeinde mit dem bundesweit jüngsten Altersdurchschnitt – für die Einwohner*innen des 277-Seelchen-Kaffs das Paradies. Erna Klein (Klein Erna genannt) ist eine von ihnen. "Voll toll" findet sie es hier auf der Halbinsel Eiderstedt im Kreis Nordfriesland. Die Siebenjährige betreibt in ihrem Kinderzimmer den gut sortierten Kaufmannsladen des Dorfes. Bei täglich wechselnden Öffnungszeiten bietet sie ihrer Stammkundschaft - Püppi, Einhornmädchen Fleckenschweif und Herrn Brumm – nach Lust und Laune zahlreiche Marken-Miniaturen an. Familienbande wird bei den Kleins groß geschrieben. Das lernt Erna bereits in der zweiten Klasse. Logistisch unterstützt wird sie in ihrem Kleingewerbe manchmal von ihrem jüngeren Bruder Hänschen, Siku-Fuhrparkbetreiber und superstolzer Besitzer der gefragten, weil einzigen Autorennstrecke mit Doppellooping und Steilkurve in ganz Kirchspiel Garding. Auch er will niemals weg von zu Hause, wo er bei seiner Teeniemama und seinem Kindsvater sowie Familienhund Welpi groß wird.
Der lebendige Ort befindet sich im steten Wachstum. Die kommunale Infrastruktur ist komplett auf die elementaren Bedürfnisse der hiesigen Bevölkerung zugeschnitten. Kirchspiel Garding verfügt über ein gut ausgebautes Verkehrsnetz mit Spielstraßen und Dreiradwegen in altersgerechter Bauteppichoptik. Im Ortskern befinden sich die Kinderpost sowie mehrere Süßwarengeschäfte des täglichen Bedarfs. Von dort aus sind es nur wenige Krabbelminuten bis zum Vorschulzentrum. Aufgrund der frühkindlichen Bildung wie aus dem Bilderbuch ist die lokale Arbeitslosenquote märchenhaft gering. Viele Einheimische gehen ihrem Traumberuf als Astronaut, Lokomotivführer oder Prinzessin nach. Für die allgemeine Zufriedenheit aller Kirchspiel Gardinger*innen sorgt die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens gemäß der Taschengeldtabelle 2021.
Die erste Mannschaft des FC Kirchspiel Garding mit Trainerlegende Hauke (2. v. l.)
Immer wieder mal gerät die heile Zwergenwelt aber auch in Unordnung. Tränchen fließen, als jüngst Gerüchte über Kinderarmut die Runde machen. In einer Kita ist von zwei Mädchen noch vor dem Mittagessen die Puppenküche kurzerhand in eine Suppenküche umfunktioniert worden. Zudem planen laut Wahrheit kund tuendem Kindermund dort ein paar frühreife Früchtchen, am neu gestalteten Lego-Duplo-Bahnhof der U3-Jährigen einen Babystrich zu etablieren. Doch darüber wird in Kirchspiel Garding besser geschwiegen, sonst geht es daheim ohne Nachtisch und Sandmännchen direkt ins Bett.
Während es in der Eiderstedter Marsch vor lauter Adrenochrom nur so duftet, müffelt es rund 100 Kilometer und 90 Bobby-Car-Minuten weiter östlich nach Tod und Verwesung. Nieby, ebenfalls in Schleswig-Holstein, ist mit seinen 130, nein: jetzt 129 Uralteingesessenen Deutschlands betagteste Ansiedlung. Boom und Boomer sind längst Geschichte. Heute zeugen nur noch einige einsame Ruinen von der Vergangenheit. Erna Klein (Kleins Erna genannt) ist eine von ihnen. "Famos" fand sie es hier an der Ostsee im Kreis Schleswig-Flensburg. Die Hundertsiebenjährige betrieb als junges Frauenzimmer den gut sortierten Tante-Emma-Laden des Dorfes. Familienbande wurde bei den Kleins in Sütterlin groß geschrieben. Das hatte Erna bereits in der zweiten Volksschulklasse gelernt. Logistisch unterstützt wurde sie in ihrem Kleingewerbe manchmal von ihrem älteren Bruder Hans (†), Pferdefuhrwerkbetreiber und bollestolzer Besitzer des gefragten, weil einzigen Automobils mit Doppelsitzbank und Handkurbel in ganz Nieby. Auch er wollte niemals weg von zu Hause, wo er bei seiner Frau Mama und seinem Herrn Vater sowie Familienschildkröte Morla begraben wurde.
Niebyer Spezialität: Radieschen von unten
Ein für das Gemeinwohl gewinnbringender Generationenaustausch mit der Kirchspiel Gardinger Jugend hat bislang leider nicht stattfinden können. Zu sehr treibt die verbliebenen 129, Entschuldigung: 128 Niebyer*innen die Sorge um, beim eigenständigen Verlassen ihrer Pflegebetten endgültig auf der Strecke zu bleiben. Aber auch bereits mehrere von Kirchspiel Garding aus gestartete Familienausflüge sind nie in Nieby angekommen. Keine zwei Minuten nach Fahrtantritt haben alle Elterntaxis, vom permanenten "Ist es noch weit?"-, "Wann sind wir endlich da?"- und "Ich muss mal!"-Gekrähes ihrer Brut völlig entnervt, stets wieder kehrt gemacht.
Daniel Sibbe