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Die neue Impffreiheit

Feiern, feixen, freidrehen: Bald sollen Geimpfte mehr machen dürfen als gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger. Auf Geimpfte warten Privilegien, die ihnen ein Leben lang verwehrt waren. Was Sie jetzt wissen müssen.

Nicht nur in politischen Hinterzimmern wird eifrig diskutiert, wie man Geimpften danken kann für ihren Beitrag zur Herdenimmunität. Ab den Sechzigern setzte man auf Kombipräparate und integrierte die Belohnung gleich in die Vakzination, getreu der Devise "Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam". Der bittere Impfstoff sickerte flugs in den auf einem Silberlöffel dargebotenen glitzernden Zuckerwürfel, und jedes Kind machte artig "Ahh". Heute sind die Ansprüche gestiegen und die Impflinge zudem bedeutend älter als die Kinder der Sechziger. Und sie haben nicht mehr so viel Zeit wie einst. Deshalb nun die Forderung nach Freiheiten für Geimpfte. Um es gleich vorweg zu sagen: Fernsehen, solange sie mögen, gehört nicht dazu. Die meisten haben sich das schon vor der Impfung herausgenommen, was den späten Erfolg von Markus Lanz und seinem Sidekick Karl Lauterbach erklärt.

"Mehr Freiheiten wagen!" ist das Motto von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht. Damit steht sie in guter sozialdemokratischer Tradition. Geimpften wird fortan die Freiheit zugestanden, bei Rot über die Ampel zu gehen. Auch das Betreten von Rasenflächen in öffentlichen Grünanlagen soll möglich werden sowie das ungestrafte Füttern von Tieren im Zoo, außerdem von wildlebenden Tauben, Ratten und Waschbären. Darüber hinaus darf, wer geimpft ist, Altglas auch während der Mittagsruhe und nach 22 Uhr in die entsprechenden Container einwerfen. Dieses muss jedoch farblich korrekt getrennt sein. Dass die Ausgangssperre für Geimpfte nicht gelten soll, ist bereits nach dem letzten Impfgipfel durchgesickert wie einst das Vakzin in den Zucker. Faktisch bedeutet das eine Befreiung von der Nachtruhe. Um die über ein Jahr lang erzwungene Lärmunterdrückung zu kompensieren, dürfen beispielsweise Kegelklubs aus allen Teilen des Landes die ganze Nacht über juchzend in Berlin vor dem Café Kranzler abhängen – vorausgesetzt, sämtliche Mitglieder sind voll durchgeimpft.

Wer zweimal in den Oberarm gepiekst worden ist, darf außerdem wieder in Bussen und Bahnen rauchen. Wie aus Kreisen zu hören ist, wurde zudem diskutiert, dies für über Achtzigjährige zur Pflicht zu machen. Das ist wieder vom Tisch. Interessierte können allerdings einen Zuschuss aus der Bundestabakreserve beantragen. "Der wird unbürokratisch gewährt", verspricht Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Fürderhin erlaubt sein soll, mit dem Stuhl zu kippeln, Baustellen zu betreten, unbegrenzt lange zu telefonieren, ohne Zähneputzen ins Bett zu gehen, Kartoffeln mit dem Messer zu schneiden sowie das Aufbehalten von Hüten in Innenräumen. Die Entbehrungen des Coronajahres waren hart und die Spritze hat auch wehgetan. Endlich dürfen wieder Enkelkinder abgeküsst und ihnen Schokoladenflecken von der Wange geputzt werden – mit garantiert Covid-19-freier Spucke. 

Zum Ausgleich empfiehlt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder "Familienimpfungen". "Wir brauchen auch Betriebsimpfungen", fügt er hinzu. Wohl, um endlich die Weihnachtsfeier 2020 nachholen zu können. "Seit dem Wegfall des jährlichen rituellen Austauschs von Körperflüssigkeiten im Kollegium ist das Betriebsklima nicht mehr das gleiche wie bisher", sagt er. Viele Chefs stellten eine Distanzierung von einst engen Mitarbeiterinnen fest.
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer bereitet währenddessen Vorteile für immunisierte Urlauberinnen und Urlauber vor: "Endlich können geimpfte Deutsche wieder im Ausland ihre kulturelle Überlegenheit vorführen, wenn sie etwa an den Stränden von Antalya oder Alicante zu zehnt aus einem Eimer trinken", verspricht er. Die ihnen hinterher wischenden Einheimischen könnten ganz unbesorgt sein. 

"Der Auswurf vakzinierter Deutscher ist garantiert coronafrei!" Dafür bürgt Jens Spahn persönlich. Allerdings ist aus dem Bundeskanzleramt zu vernehmen, dass sich im Fall einer zu einem Superspreaderevent mutierenden teutonischen Sangriasause Angela Merkel nicht entschuldigen werde. Das solle gefälligst ihre Nachfolgerin im Amt tun. Oder irgendjemand aus Bayern. Dabei können wir den strammen Granden dieses stolzen Bergvolks nicht dankbar genug sein. So ist Markus Söder ein besonderes Schmankerl zu verdanken: Jeder und jedem Geimpften steht einmal täglich der bitter verdiente Zuckerwürfel zu, gratis abholbar in der Apotheke des Vertrauens. Der Kanzlerkandidat der Herzen verspricht: "Endlich können wir es wieder ordentlich krachen lassen." Zumindest zwischen den Zähnen.


Thilo Bock

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Really, Winona Ryder?

Really, Winona Ryder?

In einem Interview mit der Los Angeles Times monierten Sie, dass einige Ihrer jungen Schauspielerkolleg/innen sich zu wenig für Filme interessierten. Das Erste, was sie wissen wollten, sei, wie lange der Film dauere.

Wer hätte gedacht, Ryder, dass Sie als Kind aus der Glanzzeit des Fernsehkonsums einmal die Nase rümpfen würden, weil junge Menschen möglichst wenig vor der Glotze sitzen und sich stattdessen lieber bewegen wollen? Davon abgesehen: Sind Sie sicher, dass sich die Abneigung gegen Cineastisches und das Verlangen, bereits beim Vorspann die Flucht zu ergreifen, nicht nur auf Werke beziehen, in denen Sie mitspielen?

Fragt sich Ihre Filmconnaisseuse Titanic

 Gott sei dank, »Focus«!

Du schreibst: »Fleischkonsum sinkt, Mitarbeiter fehlen. Fachkräftemangel trifft die Wursttheke«. Aber sieh es doch mal positiv, lieber Focus: Es wäre doch viel schlimmer, wenn aufgrund des hohen Fleischkonsums die Mitarbeiter/innen verschwinden würden …

Grüße aus der Fleet Street schickt Titanic

 Sie wiederum, André Berghegger,

haben als Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes nach dem Einsturz der Dresdner Carolabrücke eine »Investitionsoffensive für die Infrastruktur« gefordert, da viele Brücken in Deutschland marode seien. Diese Sanierung könnten jedoch Städte und Gemeinden »aus eigener Kraft kaum tragen«, ergänzten Sie. Mit anderen Worten: Es braucht eine Art Brückenfinanzierung?

Fragt Ihre Expertin für mehr oder weniger tragende Pointen Titanic

 Huch, Wolodymyr Selenskyj!

Laut Spiegel wollen Sie »überraschend nach Deutschland reisen«. Verständlich, Flugzeug oder Zug werden auf Dauer ja auch langweilig. Interessiert, ob Sie stattdessen einen Tunnel graben, mit einem Zeppelin fliegen oder doch per Faltkanu heranschippern, wünschen Ihnen in jedem Fall eine gute Reise

Ihre Travelguides von Titanic

 Njamm, REWE!

Da lief uns ja das Wasser im Mund zusammen, als wir in einer Deiner Filialen mit dieser Werbung beschallt wurden: »Der Sommer schmeckt nach Heinz«. Mmmh! Nach welchem denn? Heinz Rühmann? Heinz Erhardt? Heinz Rudolf Kunze? Oder gar Karl-Heinz Rummenigge? Worauf wir danach aber komischerweise gar keinen Appetit mehr hatten, war Ketchup.

Im Anschluss an diesen Brief haben wir gleich noch ein paar weitere Erledigungen zu machen und freuen uns schon auf Durchsagen wie »Der Herbst schmeckt nach Stuhl« bei Ikea, »Der Herbst schmeckt nach Eicheln« im Gartencenter, »Der Herbst schmeckt nach getrockneten Ochsenschwänzen« im Tierfutterhandel oder »Der Herbst schmeckt nach Linoleum« im Baumarkt!

Deine Heinzelmäuse von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Reality-TV

Bei der Fernsehserie »Die Nanny« gibt es diese eine Szene, in der die Mutter der Nanny, Sylvia Fine, in einem Pariser Restaurant mit dem Kellner kommunizieren will. Da sie kein Französisch spricht, nutzt sie zum Austausch ausschließlich den Text des französischen Kinderliedes »Frère Jacques«: Mit »Frère Jacques« ruft sie den Kellner, mit »Ding-ding-dong« fordert sie einen neuen Kaffee und so weiter. In der Serie klappte das sehr gut, und als Kind fand ich es auch ausgesprochen lustig, war mir allerdings sicher, dass das in der Realität nie funktionieren würde – bis es mir selbst gelang. Das kam so: Im Fitnessstudio wartete ein junger Mann am Tresen vergeblich auf einen Trainer. Vergeblich, weil er die im Tresen eingelassene Klingel nicht betätigt hatte. Nun hatte ich ihn während des Trainings Französisch sprechen hören, sprach allerdings selbst keines. Da ich aber der Einzige war, der sein vergebliches Warten bemerkte, ging ich schließlich hin, zeigte auf die Klingel und sagte »Sonnez les matines! Sonnez les matines!« Er verstand sofort und klingelte ausgiebig. Kurz darauf erschien der Trainer und ließ ihn hinaus. Da soll noch mal einer sagen, Fernsehen würde im Leben nicht helfen.

Karl Franz

 Quo vadis, Fortschritt?

Unfassbar: Nach so vielen Jahren des Horrorfilms gruseln sich die Leute noch vor der Nosferatu-Spinne. Wann taucht in unseren Breiten endlich die Slasher- oder Zombie-Spinne auf?!

Mark-Stefan Tietze

 Obacht!

Die Ankündigung von Mautgebühren ist furchterregend, aber so richtig Gänsehaut bekomme ich immer erst, wenn bei Google Maps als »Warnhinweis« auftaucht: »Diese Route verläuft durch Österreich.«

Norbert Behr

 Mitläuferin? Ganz im Gegenteil!

Meine Oma fuhr im Widerstand Motorrad.

Andreas Maria Lugauer

 Jeder kennt ihn

Die Romantrilogie auf der Geburtstagsfeier, das Raclettegerät auf der Taufe, die Gartenfräse zur Beerdigung: Ich bin der Typ in deinem Bekanntenkreis, der dir geliehene Sachen in den unmöglichsten Situationen zurückgibt.

Leo Riegel

Vermischtes

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Das schreiben die anderen

  • 03.10.: Der MDR kramt bei der Debatte, ob Ostdeutschland in den Medien schlechtgeredet wird, die Zonen-Gaby wieder hervor.
  • 26.09.:

    Noch-Grünenchefin Ricarda Lang retweetet "ihren" Onlinecartoon vom 25.09.

  • 18.09.: TITANIC-Zeichnerin Hilke Raddatz ("Briefe an die Leser") ist mit dem Wilhelm-Busch-Preis geehrt worden. Die SZLZ und der NDR berichten.
  • 12.09.:

    "Heute detoxe ich im Manager-Retreat im Taunus": TITANIC-Chefredakteurin Julia Mateus im Interview mit dem Medieninsider.

  • 29.08.:

    Die FR erwähnt den "Björnout"-Startcartoon vom 28.08.

Titanic unterwegs
23.10.2024 Karlsruhe, Tollhaus Max Goldt
23.10.2024 Berlin, Walthers Buchladen Katharina Greve
24.10.2024 Stuttgart, Im Wizemann Max Goldt
25.10.2024 Potsdam, Waschhaus-Arena Thomas Gsella