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Besuch beim Marmeladendoktor

Der Spiegel-Artikel über Winfried Stöcker – ein Multimillionär, der eigenhändig ein Corona-Antigen entwickelt und sich selbst gespritzt hat und außerdem ein augenfälliger Rassist ist – beginnt mit diesem Satz: "Das Geheimnis seiner Marmeladen, sagt Winfried Stöcker, sei ein Rotationsverdampfer." Ferner heißt es da: "Zur Verkostung legt Stöcker Volkslieder auf, seine Frau serviert Thymiankekse und Birnenkuchen." Mmmhmm, schmaggofatz, das klingt gut. Klar, dass TITANIC da ebenfalls bei Stöcker vorbeischaut.

Ein grauhaariger Rentner steht in Rentnerklamotten im Türrahmen und winkt rentnermäßig. Ohne Maske empfängt uns der 74jährige Winfried Stöcker und brüllt ausspuckend in unser Gesicht: "Ich bin immun!" – "Und wir sind TITANIC. Sehr erfreut." Der Immune stellt uns seine Katze vor: "Das ist Erdbeerchen", fiept der Greis und streicht dem Tier über die Wirbelsäule. Erdbeerchen rennt davon. Deutschlands zweitwichtigstes Nachrichtenmagazin war jüngst bei Stöcker zu Gast. Lesen konnten wir den Artikel, weil die besagte Spiegel-Ausgabe kostenlos als ePaper erhältlich ist: "Haben Sie eine fehlerhafte SPIEGEL-Ausgabe erhalten?", fragte das Hamburger Blatt seine Abonnent:innen: "Vereinzelt sind Fehldrucke der SPIEGEL-Ausgabe 6/2021 in den Handel gelangt – wir bitten um Entschuldigung für Ihre Umstände, wenn Sie betroffen sind. Hier erhalten Sie unkompliziert ein PDF als Ersatz." Unkompliziert haben auch wir uns diesen "Ersatz" beschafft.

Stöcker hat anno 2017 sein Unternehmen "Euroimmun" an ein paar windige Amerikaner für 1,2 Milliarden Euro verscherbelt. Er könnte die Marmelade auch einfach im Laden kaufen, das könnte er sich locker leisten. Aber Stöcker, der zufälligerweise 1999 Professor der Medizinischen Tongji-Hochschule in Wuhan war (Wikipedia), macht seine Marmeladen selbst. Immer wieder ist er in der Vergangenheit aufgefallen: "Ausländer", sagte Stöcker etwa der Sächsischen Zeitung, würde er "am liebsten zurück in ihre Heimat schicken". Türken hätten seiner Auffassung nach "kein Recht, sich in Deutschland festzusetzen und darauf hinzuarbeiten, uns zu verdrängen, darauf läuft es hinaus, wenn nicht gegengesteuert wird". Flüchtlinge bezeichnete er als "reisefreudige Afrikaner" und verwendete dabei freilich rassistische Begriffe. Und jungen Frauen in der Filmbranche riet er, "zurückhaltender gekleidet und weniger provozierend zum Casting zu gehen, dass die armen Regisseure auf dem Pfad der Tugend bleiben". Stöckers Anwalt ist laut Spiegel übrigens der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, aber das haben Sie sich sicher schon gedacht.

"Sie sind wahrscheinlich hier, um über meine selbstgemachte Coronaimpfung zu berichten", mutmaßt Stöcker, nachdem wir uns an seinen Küchentisch gesetzt haben. "Was?", entfährt es uns, ehe wir uns besinnen: "Ach, Coronaimpfung, ja klar, die Leserinnen und Leser können gar nicht genug kriegen von diesem Thema." Stöcker nickt selbstsicher und wischt sich einen Tropfen Marmelade aus den buschigen Augenbrauen. "Rotationsverdampfer … Zentrifuge … Spike-Protein … Drosten … Streeck … Neutralisationstest", erklärt der pensionierte Arzt, während seine Frau eine geheimnisvolle Dose auf den Tisch stellt. Sollen wir jetzt geimpft werden? Befinden sich darinnen Spritze und Wirkstoff? Mehr als 60 Freiwillige haben sich Stöckers Antigen bereits verabreichen lassen. Aus den Lautsprechern der Musikanlage singt der NDR-Chor "Von den blauen Bergen kommen wir". Stöcker öffnet die Dose mit großer Geste. 

Es ist schon erstaunlich, was hier in Groß Grönau bei Lübeck passiert ist. Während die ganze Welt danach sucht, hat man es hier in Deutschlands Norden gefunden: Das perfekte Thymiankeksrezept. Gierig greifen wir nach dem ersten Mal gleich wieder in die Dose, die Backwaren sind eine Wucht. "Selbstversuch … Freiwillige … keine Genehmigung", führt Stöcker weiter aus. "Ist das überhaupt legal?" fragen wir schmatzend: "Diese Kekse schmecken wirklich verboten gut!" Stöckers Frau antwortet leider nicht, stattdessen plappert ihr Mann einfach weiter: "Patentrecht … Innovationsbüro ... Pharmafirmen … Strafanzeige", erzählt er weiter, derweil uns das feine Besteck vorgelegt wird. Gleich gibt es Kuchen. "Ermittlungsverfahren … klinische Prüfung … Landeskriminalamt", so Stöcker, der jetzt langsam emotionaler wird. Die analytische Kühle ist gewichen. Mit Tränen in den Augen beißen wir in den aufgetischten Birnenkuchen. Guter Gott!

Stöcker spricht jetzt immer lauter: "Fruchtsaft … Rotationsverdampfer ... Katzenurin", sagt er und zeigt auf Erdbeerchen. Wir verschlucken uns am siebten Stück Birnenkuchen, Stöckers Frau klopft uns auf den Rücken. "Wie bitte?" Stöcker wirkt irritiert: "Das Geheimnis meiner Marmeladen ist nicht der Rotationsverdampfer, wie der Spiegel geschrieben hat. Sondern Katzenurin", wiederholt Stöcker sachlich und setzt Erdbeerchen auf seinen Schoß, die sich kurz darauf in seinem Oberschenkel festbeißt: "Es klingt erstmal kontraintuitiv, aber damit spüle ich den Rotationsverdampfer immer ab. Dieses Aroma macht den Pfiff aus!" Wir verschlucken uns schon wieder, mittlerweile sind wir beim neunten Kuchenstück. Stöckers Frau rettet uns mit dem Heimlich-Manöver. "Wir lagen vor Madagaskar" läuft im Radio.

Der Appetit ist vergangen, zum ersten Mal an diesem Nachmittag legen wir die Gabel aus der Hand. Stöcker bemerkt das und fixiert uns mit einem argwöhnischen Wissenschaftlerblick. Seine Brillengläser reflektieren die Lampe, die er irgendwann zwischen Kuchenstück vier und fünf angeschaltet haben muss. "Ganz schön spät geworden", murmeln wir in die Stille hinein. Gerade als wir aufstehen und uns verabschieden wollen, greift der Mediziner in seine Hosentasche und bedeutet uns mit der anderen Hand, dass wir sitzen bleiben sollen. Er zückt ein kleines Gefäß und schiebt es langsam über den Tisch zu uns. Ist das jetzt die Impfe? Stöcker schüttelt den Kopf. "Quitte", sagt er. Wir übergeben uns über den gesamten Wohnzimmertisch. Stöcker greift zu seinem Rotationsverdampfer und jagt uns damit zur Tür hinaus. "Ich bin immun!" brüllt der Opa uns noch einmal nach.

Cornelius W.M. Oettle

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Grüß Gott, Businesspäpstin Diana zur Löwen!

Du verkaufst seit Neuestem einen »Anxiety Ring«, dessen »bewegliche Perlen« beim Stressabbau helfen sollen. Mal abgesehen davon, dass das einfach nur das hundertste Fummelspielzeug ist, kommen uns von ihren Nutzer/innen glorifizierte und zur Seelenerleichterung eingesetzte bewegliche Perlen an einer Kette verdächtig bekannt vor.

Ist für Dich natürlich super, denn auch wenn Du Deinen treuen Fans skrupellos das Geld aus der Tasche ziehst, in die Hölle kommst Du zumindest für diese Aktion sicher nicht.

Auch wenn dafür betet:

Deine Titanic

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

 Ganz schön kontrovers, James Smith,

was Du als Mitglied der britischen Band Yard Act da im Interview mit laut.de vom Stapel gelassen hast. Das zu Werbezwecken geteilte Zitat »Ich feiere nicht jedes Cure-Album« hat uns jedenfalls so aufgewühlt, dass wir gar nicht erst weitergelesen haben.

Wir mögen uns nicht ausmalen, zu was für heftigen Aussagen Du Dich noch hast hinreißen lassen!

Findet, dass Provokation auch ihre Grenzen haben muss: Titanic

 Hej, Gifflar!

Du bist das Zimtgebäck eines schwedischen Backwarenherstellers und möchtest mit einer Plakatkampagne den deutschen Markt aufrollen. Doch so sehr wir es begrüßen, wenn nicht mehr allein Köttbullar, Surströmming und Ikeas Hotdogs die schwedische Küche repräsentieren, so tief bedauern wir, dass Du mit Deinem Slogan alte Klischees reproduzierst: »Eine Schnecke voll Glück«? Willst Du denn für alle Ewigkeiten dem Stereotyp der schwedischen Langsamkeit hinterherkriechen? Als regierten dort immer noch Sozialdemokraten, Volvo und Schwedenpornos?

Damit wirst Du nie der Lieblingssnack der Metropolenjugend!

Sagen Dir Deine Zimt- und Zuckerschnecken von Titanic

 Verehrte Joyce Carol Oates,

da Sie seit den Sechzigern beinah im Jahrestakt neue Bücher veröffentlichen, die auch noch in zahlreiche Sprachen übersetzt werden, kommen Sie vermutlich nicht dazu, jeden Verlagstext persönlich abzusegnen. Vielleicht können Sie uns dennoch mit ein paar Deutungsangeboten aushelfen, denn uns will ums Verrecken nicht einfallen, was der deutsche Ecco-Verlag im Sinn hatte, als er Ihren neuen Roman wie folgt bewarb: »›Babysitter‹ ist ein niederschmetternd beeindruckendes Buch, ein schonungsloses Porträt des Amerikas der oberen Mittelschicht sowie ein entlarvender Blick auf die etablierten Rollen der Frau. Oates gelingt es, all dies zu einem unglaublichen Pageturner zu formen. In den späten 1970ern treffen in Detroit und seinen Vorstädten verschiedene Leben aufeinander«, darunter »eine rätselhafte Figur an der Peripherie der Elite Detroits, der bisher jeglicher Vergeltung entkam«.

Bitte helfen Sie uns, Joyce Carol Oates – wer genau ist ›der Figur‹, dem es die elitären Peripherien angetan haben? Tragen die Leben beim Aufeinandertreffen Helme? Wie müssen wir uns ein Porträt vorstellen, das zugleich ein Blick ist? Wird das wehtun, wenn uns Ihr Buch erst niederschmettert, um dann noch Eindrücke auf uns zu hinterlassen? Und wie ist es Ihnen gelungen, aus dem unappetitlich plattgedrückten Matsch zu guter Letzt noch einen »Pageturner« zu formen?

Wartet lieber aufs nächste Buch: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 Vom Feeling her

Es hat keinen Sinn, vor seinen Gefühlen wegzulaufen. Man muss sich schon auch mal hinter einem Baum verstecken und warten, dass die das nicht merken und an einem vorbeiziehen, sonst bringt das ja alles nichts.

Loreen Bauer

 Gute Nachricht:

Letzte Woche in der Therapie einen riesigen Durchbruch gehabt. Schlechte Nachricht: Blinddarm.

Laura Brinkmann

 In Würde altern

Früher hätte mich der riesige Pickel mitten auf meinem Hals stark gestört. Heute trage ich den wohl niedlichsten ausgeprägten Adamsapfel, den die Welt je gesehen hat, mit großem Stolz ein paar Tage vor mir her.

Ronnie Zumbühl

 Spielregeln

Am Ende einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Partie fragt der demente Herr, ob er erst eine Sechs würfeln muss, wenn er zum Klo will.

Miriam Wurster

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
01.05.2024 Berlin, 1.-Mai-Fest der PARTEI Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
02.05.2024 Dresden, Schauburg Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
03.05.2024 Mettingen, Schultenhof Thomas Gsella
03.05.2024 Stuttgart, Im Wizemann Martin Sonneborn mit Sibylle Berg