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Amerikas Stunde Null

Es war eine Wahl für die Geschichtsbücher. Fast eine Woche herrschte Ausnahmezustand in den USA, nun kehrt langsam der Pandemiealltag wieder ein. Joe Biden wird Präsident, das amerikanische Volk hat gesprochen. Doch seine Zunge ist so gespalten wie das Land selbst. Äußerlich scheint alles beim Alten: weiße Vorortsiedlung hier, schwarzes Ghetto da; Milliardäre fliegen für einen Pancake quer durch die Staaten, jeder zehnte Pancake ist gratis und wird den Angestellten vom Gehalt abgezogen. Doch in den Köpfen und Herzen des Landes tobt ein Nuklearkrieg der Überzeugungen. Kann der Machtwechsel im Weißen Haus endlich Frieden bringen? Ein Streifzug durch die Seelen einer extrem entzweiten Nation.

Der Mittlere Westen der USA. Hier gibt es nichts, nicht einmal Corona. Nur weite Felder mit Mais, viel Mais. Gentechnisch verändertem Mais mit Maiskörnern groß wie Fußbälle. Alle paar Meilen wächst ein Baum in den Himmel, ganz so als wollte er sagen: „Ich bin ein Baum, ich wachse hier in den Himmel. Wenigstens versuche ich es. Zwanzig Meter wären geschafft. Wählt Trump, ihr Motherfucker!“ Neben so einem Baum steht manchmal ein Haus, davor ein Pick-up. Der nächste Nachbar kann 500 Kilometer weit entfernt leben oder 50 oder auch nur zehn Meter. Dann gibt es vielleicht auch einen kleinen Shop mit den wichtigsten Produkten des alltäglichen Bedarfs, möglicherweise sogar einen Saloon, noch ein paar Häuser, eine Bank, eine Shoppingmeile, Wolkenkratzer, einen Vergnügungspark mit Wasserrutsche, bewaffnete Gangs, Drogensüchtige und einen betrunkenen Sheriff, der den ganzen Tag im Saloon abhängt und gelegentlich mit dem Revolver ein paar Blechbüchsen in der Luft tanzen lässt. In so einem Haus lebt Steven McWhite. Südstaatenfahne auf dem Kopf, Cowboyhut im Vorgarten, zwanzig geladene Sturmgewehre stets griffbereit zwischen den Zähnen, überzeugter Anhänger der Demokraten. „Ich bin ein Beispiel dafür, dass Äußerlichkeiten trügen können“, sagt er, bevor wir uns verabschieden und nach Florida reisen, um eine andere Person zu interviewen, die es auch nicht wirklich gibt.

Kelly Family hat einen bescheuerten Namen und war 2020 siegreich in ihrem Wahlkreis, oder wie das in den USA eben heißt. Nun wird sie als erste Alligatorin ihrer Stadt für die Republikaner in den Senat einziehen, um Politik gegen ihre eigene Familie zu machen – allesamt Anhänger Joe Bidens. Mit Demokraten spricht sie nicht. „Ich bin ein Beispiel dafür, was in den USA schief läuft“, sagt sie und hastet den Korridor ihrer Südstaatenvilla hinunter. Tatsächlich, ihre beiden linken Beine sind verkürzt, der Torso beim Laufen stark schräg. Das war nicht immer so. Alte Fotografien an der Wand zeigen sie bei ihrer Einschulung, nach der Führerscheinprüfung, nach der bestandenen Führerscheinprüfung, beim Grillen mit den Nachbarn, beim Grillen ihrer Nachbarn, einen halben Demokraten im Maul. Auf den Bildern wirken ihre Läufe noch gleich lang. „Letztes Jahr habe ich mir dann zwei Beine kürzen lassen, um überall deutlich zu machen, dass die Rechten den Linken überlegen sind“, erklärt Kelly und bietet Trockenfleisch aus ihren entfernten Schenkeln zum Knabbern an. Es schmeckt tot – so tot wie es die amerikanische Linke ist.

Diese Art politischer Bodymodification wird in den USA derzeit immer beliebter. Sie ist ein Symbol dessen, was Trump in diesem Land angerichtet hat – und dass die Spaltung der Gesellschaft auch nach seiner Präsidentschaft bestehen bleibt, psychisch, physisch, am Frühstückstisch. Es scheint, als müsse jeder sich für eine Seite entscheiden: Demokrat oder Republikaner? Biden oder Trump? Kapitalismus oder noch mehr Kapitalismus? Fressen oder Fresse halten? Grautöne verschwinden im Blau-Rot des Kontinents, Meinungspluralität gibt es nur noch auf dem Papier. Im nachbarschaftlichen Streit am Gartenzaun sind die Positionen oft unversöhnlich, werden nicht selten mit Waffengewalt ausdiskutiert. Was fehlt, sind Menschen, die vermitteln.

Menschen wie Ronald Nolle. Als er auf Twitter von einem Mann namens Bill Joe liest, der 2016 Hillary Clinton gewählt hatte, dieses Jahr seine Stimme aber Donald Trump gab, macht Nolle sich sofort auf den Weg. Nolle ist Reporter für ein großes deutsches Medienhaus, seinen richtigen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Auch deshalb, weil seine Artikel so schlecht sind. Die Adresse des Wechselwählers, so hatten Nachforschungen bei Google ergeben, liegt irgendwo im Bundesstaat Kentucky Fried Chicken, direkt neben einem Softdrinkautomaten. Nolle hat Glück, das Grundstück des Gesuchten ist schon aus der Ferne an den zahlreichen europäischen Journalisten zu erkennen, die Bill Joe für ein Interview gewinnen wollen. Einige klettern aufs Dach und versuchen über den Kamin ins Haus zu gelangen. Ab und an erscheint Bill Joe am Fenster, feuert mit einer Schrotflinte wahllos in die Menge – vergebens, die Medienmeute wächst und wächst. „HALLO, ROLAND NELLES VOM SPIEGEL HIER“, brüllt Nolle zum Fenster hinauf. „DIE USA IST EINE GESPALTENE NATION, HERR JOE. WIRD PRÄSIDENT BIDEN VERSÖHNUNG …“ Gerade noch kann Nolle in einen Krater hechten, wenig später detonieren zwei Handgranaten in unmittelbarer Nähe. Gliedmaßen und Eingeweide regnen herab, Nolle wischt sich Blut und Scheiße aus dem Gesicht. „In diesem Land herrscht Krieg“, röchelt er bitter. „Die Gesellschaft ist tief gespalten! Auf der einen Seite Coca Cola, auf der anderen Pepsi; hier Burger King, dort Mezzo Mix; die einen gucken Fox News die anderen in die Röhre …“ Einem Präsident Biden, hofft Nolle, möge gelingen, die sozialen Gräben zu heilen, das Land zuzuschütten, innenpolitische Gegner mit Aids zu vergiften. „Viele Leute denken heute in Gegensätzen“, erklärt Nolle. „Als wäre die Konstruktion von Gegensätzen der billigste journalistische Trick, um Aufmerksamkeit zu generieren. ENTWEDER Nike ODER Adidas, ENTWEDER Black Lives Matter ODER White Supremacy – ich frage mich: Warum nicht beides?“ Ronald Nolle möchte, dass die Menschen in den USA wieder aufeinander zugehen. Dann kann er sie befragen und eine fetzige Reportage daraus machen.

Noch ist es für die Vereinigten Staaten nicht zu spät. Im Mittleren Westen geht die Sonne unter, Steven McWhite grillt Tofuwürstchen über seinem Toaster. In Florida telefoniert Kelly Family das erste Mal seit zehn Jahren mit ihrer Family-Family. Sie sagt ihnen, dass sie sie alle hasst und umbringen wird. Bill Joe hat inzwischen kapituliert und beantwortet die Fragen der Journalisten. Wie sich herausstellt, wurde er Opfer einer Verwechslung. Besagter Tweet entstammte einer russischen Troll-Fabrik. Im Mittleren Westen geht die Sonne wieder auf. Elefantengroße Hamster fressen die Maisfelder kahl.

 

Valentin Witt

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hallo, faz.net!

»Seit dem Rückzug von Manfred Lamy«, behauptest Du, »zeigt der Trend bei dem Unternehmen aus Heidelberg nach unten. Jetzt verkaufen seine Kinder die Traditionsmarke für Füller und andere Schreibutensilien.« Aber, faz.net: Haben die Lamy-Kinder nicht gerade davon schon mehr als genug?

Schreibt dazu lieber nichts mehr: Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

 Genau einen Tag, Husqvarna Group (Stockholm),

nachdem das ungarische Parlament dem Nato-Beitritt Schwedens zugestimmt hatte, mussten wir was auf heise.de lesen? Dass auf Deinen Rasenmähern der »Forest & Garden Division« nach einem Software-Update nun der alte Egoshooter »Doom« gespielt werden kann!

Anders gesagt: Deine Divisionen marodieren ab sofort nicht nur lautstark mit Rasenmähern, Traktoren, Motorsägen, Motorsensen, Trennschleifern, Rasentrimmern, Laubbläsern und Vertikutierern durch unsere Gärten, sondern zusätzlich mit Sturmgewehren, Raketenwerfern und Granaten.

Falls das eine Demonstration der Stärke des neuen Bündnispartners sein soll, na schön. Aber bitte liefere schnell ein weiteres Software-Update mit einer funktionierenden Freund-Feind-Erkennung nach!

Hisst die weiße Fahne: Titanic

 Also wirklich, »Spiegel«!

Bei kleinen Rechtschreibfehlern drücken wir ja ein Auge zu, aber wenn Du schreibst: »Der selbst ernannte Anarchokapitalist Javier Milei übt eine seltsame Faszination auf deutsche Liberale aus. Dabei macht der Rechtspopulist keinen Hehl daraus, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, obwohl es korrekt heißen müsste: »Weil der Rechtspopulist keinen Hehl daraus macht, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, müssen wir es doch anmerken.

Fasziniert von so viel Naivität gegenüber deutschen Liberalen zeigt sich

Deine Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg