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"Zu Hause bleiben ist keine Lösung"

Einbruch in der Einbruchsbranche: Der Lockdown hat fatale Konsequenzen für Delinquenten aller Art – nicht nur finanzielle.

Heute, Montag, der 20. Juli, geht das Leben endlich weiter, wenn auch vorsichtig, Schritt für Schritt. Heute ist Roland Kerbels erster Arbeitstag, seit über vier Monaten. Der frisch rasierte 43jährige rutscht auf seinem Küchenstuhl hin und her. Der Geruch fremder Hausflure, das Knarzen alter Dielen, das Adrenalin ... voller Vorfreude zieht an seinen knochigen Langfingern, bis sie knacken. Roland Kerbel ist Wohnungseinbrecher, seit siebzehn Jahren, spezialisiert auf höhere Stockwerke und Fassadenkletterei im Raum Uelzen. Das Geschäft lief super, jahrelang. Cash Money ohne Ende, Schampusbäder in fremden Appartements. Von Totalausräumung in den Skiferien über Vormittagsdelikte bis zu spontanen Gelegenheitstaten war alles dabei. Und noch Anfang März, als sich halb Uelzen in Ischgl verlustierte, hat Kerbel fortgeschafft, was ging. “Reingehen, einstecken, rausgehen”, verrät er seine Methode. “Ich bin eben ein Erfolgsmensch”, lächelt er.

Gangsta-Rap vs. Dieb Purple

Dann kam der 13. März. Corona. Kerbels Lächeln erstirbt. Die Leute machten keine Skiferien mehr, fuhren nicht mehr zur Arbeit. Hockten wochen-, gar monatelang daheim, auf ihrem Geld, ihrem Schmuck, ihren elektronischen Geräten. Roland Kerbel konnte nicht mehr arbeiten gehen. Anfangs hat er es noch versucht, um 21 Uhr, während die Bürgerschickeria den Krisenhelfern vom Balkon applaudierte, doch nach drei Wochen tat auch das keiner mehr. Nicht mal vereinsamte Omis machten mehr die Tür auf, wollten ihre “Enkel“ sehen: “Jungchen, komm nächstes Jahr wieder!” riefen sie durch die Tür. Auch bei Telefonanrufen (“Omma, ich brauch' Hilfe, ich hab' Corona!”) legten sie vor Schreck (“Das ist ja widerlich!”) rasch auf. Lediglich kleinere Einstiege in Wochenendhäuschen und dauerparkende Autos waren noch drin, aber Kaffeebecherhalter und Tote-Hosen-CDs aus dem Handschuhfach konnten das Finanzloch nicht stopfen.

Auch Kerbel musste zu Hause bleiben, bei Frau, Kind und Dalmatiner, in seinem Reihenhaus am Uelzener Stadtrand. Verdammt zum Nichtstun. Däumchen statt krumme Dinger drehen. Um im Training zu bleiben, kletterte er täglich das eigene Regenfallrohr rauf und runter, räumte den Schmuckkasten seiner Frau aus, und am Abend wieder ein. Die Rücklagen schrumpften, Kerbels Liquiditätsdecke wurde dünner. Zornig fuchtelt er mit einer Brechstange durch die Luft: “Aber die Kosten liefen ja weiter!” Von den Leasing-Gebühren für das Gangsterauto – ein schmucker lackschwarzer Citroën Traction Avant, Baujahr 1954 – bis zum Zeitschriften-Abo “Mopsen & Mausen”. 

Kerbel zeigt seinen Werkzeugkeller. “Meine Räuberhöhle”, sagt er schmunzelnd. Zärtlich streicht er über einen Stechbeitel, schärft einen Schraubenzieher am Schleifstein nach. An Haken hängen 27 verschiedene Dietriche, Arbeitsmittel eines Einbrechers. „Einbrecher?“ Kerbel verzieht das Gesicht. Er mag das Wort nicht, es klingt so primitiv, so brachial. Delinquent, Invasor, Housebreaker, das ist seine Kragenweite. Kerbel hasst Klischees. "Und jetzt sagen Sie nicht, alle Einbrecher hören Gangsta-Rap! Ich jedenfalls höre lieber Dieb Purple oder Klau’s und Klau’s."

Staatshilfen? Fehlanzeige

Ob er Soforthilfe bekam? Kerbel lacht ein trauriges, heiseres Lachen. “Der Job ist halt nicht systemrelevant”, mosert er. Er selber sieht das etwas anders. "Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?" zitiert er Dieter Degowski, eins seiner großen Vorbilder neben Al Capone und Räuber Hotzenplotz. “Die Politiker tun gar nichts für uns”, ereifert er sich, “nicht mal Wirtschaftskriminelle wie Friedrich Merz!” Natürlich hat er Anträge ausgefüllt, angerufen bei einer KfW-Bank im Darknet – niemand gab Direkthilfe. "Indirekthilfe, wie eine frühe Aufhebung der Reisewarnungen, wären ja auch schon was gewesen."

Bis zu 25 000 Einbrecher gibt es in Deutschland: Strauchdiebe, Geldschrankknacker, Spitzbuben aller Art. Viele Kollegen resignierten in der Krise, auch psychisch: Das Gefühl, keinen Platz mehr in der Gesellschaft zu haben, nicht mehr gefürchtet zu sein, sitzt tief. Kerbel gab nicht auf. Er versuchte, eine Demo anzuleiern, startete eine Online-Petition. Er sagt, er wurde durch den Lockdown richtig politisiert. Jetzt gelte es, irgendwas aushebeln, "wenn nicht Fenster, dann eben gesellschaftliche Strukturen".

Mundschutz ist im Einbruchsgewerbe seit langem gang und gäbe

Raus aus der Krise

Doch endlich geht es aufwärts, sprich, wieder die Hausfassaden hinauf. Ein Drittel der Bevölkerung ist derzeit im Sommerurlaub, kein schlechtes Timing. Doch Kerbel lässt es sachte angehen, will erst mal wieder klein einsteigen, an diesem Abend bei der eigenen Schwiegermutter zwei Straßen weiter. Seit den Grenzöffnungen ist es auch wieder möglich, Diebesgut ins Ausland zu verticken, vor allem ins Hehlerparadies Nr. 1: Schweden. Oder weiter gen Osten: "Grad gestohlen, schon bei den Mongolen", kann er wieder lachen. Aber wer weiß, wie lange? Eine zweite Covid-19-Welle würde er beruflich nicht überleben. Dann gelte es, sich umzuorientieren, umzuschulen auf Menschenhandel oder irgendwas Krankes mit Cum-Ex. Doch jetzt heißt's erst mal Aufbruch. Über seine Strumpfmaske zieht er einen farbenfrohen Mundschutz, um in der Dämmerung nicht aufzufallen. "Bye, bye", ruft er, als wir uns trennen: "Und wünschen Sie mir viel Glück!" Das kann er wohl gebrauchen.

Ella Carina Werner

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

 Boah ey, Natur!

»Mit der Anpflanzung von Bäumen im großen Stil soll das Klima geschützt werden«, schreibt der Spiegel. »Jetzt zeigen drei Wissenschaftlerinnen in einer Studie: Die Projekte können unter Umständen mehr schaden als nützen.« Konkret sei das Ökosystem Savanne von der Aufforstung bedroht. Mal ganz unverblümt gefragt: Kann es sein, liebe Natur, dass man es Dir einfach nicht recht machen kann? Wir Menschen bemühen uns hier wirklich um Dich, Du Diva, und am Ende ist es doch wieder falsch!

Wird mit Dir einfach nicht grün: Titanic

 Nicht zu fassen, »Spiegel TV«!

Als uns der Youtube-Algorithmus Dein Enthüllungsvideo »Rechtsextreme in der Wikingerszene« vorschlug, wären wir fast rückwärts vom Bärenfell gefallen: In der Wikingerszene gibt es wirklich Rechte? Diese mit Runen tätowierten Outdoorenthusiast/innen, die sich am Wochenende einfach mal unter sich auf ihren Mittelaltermärkten treffen, um einer im Nationalsozialismus erdichteten Geschichtsfantasie zu frönen, und die ihre Hakenkreuzketten und -tattoos gar nicht nazimäßig meinen, sondern halt irgendwie so, wie die Nazis gesagt haben, dass Hakenkreuze vor dem Nationalsozialismus benutzt wurden, die sollen wirklich anschlussfähig für Rechte sein? Als Nächstes erzählst Du uns noch, dass Spielplätze von Kindern unterwandert werden, dass auf Wacken ein paar Metalfans gesichtet wurden oder dass in Flugzeugcockpits häufig Pilot/innen anzutreffen sind!

Nur wenn Du versuchst, uns einzureden, dass die Spiegel-Büros von Redakteur/innen unterwandert sind, glauben Dir kein Wort mehr:

Deine Blauzähne von Titanic

 Wie bitte, Extremismusforscher Matthias Quent?

Im Interview mit der Tagesschau vertraten Sie die Meinung, Deutschland habe »viel gelernt im Umgang mit Hanau«. Anlass war der Jahrestag des rassistischen Anschlags dort. Das wüssten wir jetzt aber doch gern genauer: Vertuschung von schrecklichem Polizeiverhalten und institutionellem Rassismus konnte Deutschland doch vorher auch schon ganz gut, oder?

Hat aus Ihren Aussagen leider wenig gelernt: Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg