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Die Rollator-Randalos

Brennende Autos, weinende Polizisten und explodierende McDonalds-Kassen: Stuttgart trauert, immer noch. Nachdem eine Gruppe partysüchtiger Ketamin-Junkies die Innenstadt in Schutt und Asche gelegt hat, ist nichts mehr wie vorher. Jetzt will eine Gruppe rüstiger Ü70er die Straßen des schwäbischen Las Vegas zurückerobern. Eine Reportage.

Es ist 19.01 Uhr, ein lauer Sommerabend irgendwo in Stuttgart. Am Rande eines Spielplatzes versammelt sich eine Gruppe harmlos aussehender Seniorinnen. Ein leichter Duft von Eierlikör weht über die Spielgeräte und vertreibt die letzten spielenden Kinder. Minutenlang sind die Omas ruhig – bis die ersten 17jährigen sich auf den Schaukeln niederlassen und ihre E-Zigaretten anzünden. Ein Knirschen im Sand, ein dumpfer Schlag. Es hat begonnen.

Drei Stunden früher: Gisela Eierle legt ihre Kutte an. Zu lang ist es schon her, das Leder ist etwas steif geworden. "Aber passen tut sie noch", sagt Eierle stolz und blickt hinab an ihrem 85jährigen Körper, mit dem sie noch immer jeden Morgen fünf Kilometer im örtlichen Hallenbad zurücklegt. Sie hat einen Plan – eine Mission, um genauer zu sein. Da sitzt sie, in ihrem mit Teppichen gepolsterten Flur, in voller Montur, mit Rockerkutte und Kampfpuschen, und ruft der Reihe nach ihre alten Kolleginnen an. Wie von allein schnellen die Finger über die Löcher der Wählscheibe und produzieren dabei eine Symphonie, die die Vergangenheit gegenwärtig macht – oder es zumindest versucht, denn nicht jeder Anruf ist von Erfolg gekrönt: "Ist die Hannelore da? … Ach, die lebt nicht mehr? Schade!"

Am Ende kann Gisela Eierle immerhin acht aus der einundzwanzigköpfigen "alten Riege" zusammentrommeln. Sie alle eint ein Ziel: Gute, alte schwäbische Disziplin muss zurückkehren nach Stuttgart, oder wie die Hanswürschtles sagen, Stuggi. "Wenn die Polizei es nicht kann, müssen wir eben für Recht und Ordnung sorgen, zur Not mit Gewalt", erklärt Gisela ihr Projekt. Es soll zurück auf die Straßen gehen, back to the roots. Mit allen Mitteln großmütterlicher Überzeugungskraft will sie den jungen Leuten zeigen, wer in Stuttgart die Stützstrümpfe anhat. Treffpunkt: Der Spielplatz, 19 Uhr, bewaffnet und bereit.

Und so ziehen die Rollator-Mobs seit Tagen durch die Perle Schwabens und knüppeln jeden nieder, der die Kehrwoche verschläft oder sich zu lange nicht bei Oma gemeldet hat. "Am Ende ist es Notwehr", sagt Anne-Marie Blöderle (N. v. d. R. g.), während sie sich einen jungen Mann mit Lippenpiercing über die Knie legt und summend mit dem Teppichklopfer zu Werke geht. Früher waren sie und ihre Freundinnen die jungen Wilden, dann wurden sie brave schwäbische Hausfrauen. Und nun? Nun sind sie gewaltbereite Großmütter, die dich mit ihrer Spätzlepresse verdreschen wollen. "Alles zu seiner Zeit", weiß Renate Schmied-Häberle, die extra für den Anlass eine Sturmhaube gehäkelt hat.

Zeit, sich die Stuttgarter Granny-Szene aus wissenschaftlicher Sicht anzuschauen. Miriam Schmied, deutschlandweit führende Expertin für westschwäbisch-württembergische städtische Großräume, weiß mehr über das Phänomen der prügelnden Großmütter. Dahinter stecke eine perverse Form der Machtausübung, so Schmied, die den Fall Gisela Eierle seit Jahren studiert. Eierle, gemeinsam mit ihren Brühe kochenden Freundinnen, sei eine klassische Schläferin mitsamt voll funktionstüchtiger, stets einsatzbereiter Terrorzelle: "In dem einen Moment laden sie dich zum Nachmittagskuchen ein, im nächsten schütten sie dir 'aus Versehen' heißen Kaffee über den Schoß, weil du nicht genug gegessen hast." Das Potenzial, diese Form privater Aggression auch öffentlich auszuleben, bestehe immer; alles, was es zur Eskalation brauche, sei ein externer Triggerpunkt. Und dieser Triggerpunkt, das war der Stuttgarter "Samstag der Schande".

Zurück bei Gisela Eierle, die gerade ein Graffiti mit dem Schriftzug "Haimadlosr Heggabronzr" an eine Tiefgaragenwand sprüht. Die Straßenkämpfe dauern seit knapp zwei Wochen an. Auch die städtische Jugend hat sich mittlerweile, nach dem ersten Schock, formiert. Zwar sind aus den acht "Rollator-Randalos" inzwischen knapp fünfzig geworden, doch die Stuttgarter Party-Szene ist ungleich größer. Die Rentnerin und ihre Kolleginnen sind allerdings noch längst nicht bereit, aufzugeben. "Sie sind vielleicht mehr, aber wir sind skrupelloser", weiß Gisela, und schmiert ihren Fleischklopfer mit Rattengift ein. Die Polizei hat sich vor einer Woche komplett aus Stuttgart zurückgezogen, alle Wachen sind leer, die in der ganzen Stadt verteilten Streifenwagen dienen als Waffenlager der Seniorinnen, die dort hochpotente, seit zwanzig Jahren in der Sonne gereifte Meerrettichsahne platziert haben. Eine Einschätzung durch die CDC (Centers for Disease Control and Prevention) darüber, ob es sich dabei um biologische Waffen handelt, steht noch aus.

Über Barrikaden aus ausgebrannten E-Rollern kämpfen wir uns hinaus aus der Stadt, die sich inzwischen im Bürgerkriegszustand befindet. Auf den Spielplätzen spielen keine Kinder mehr, Menschen unter dreißig zucken bei jedem lauten Geräusch nervös zusammen. Hier ist es für niemanden mehr sicher, der es sich mit Gisela Eierle verscherzt hat. Fazit: Stuttgarts Straßen sind umkämpft, wohl so sehr wie noch nie. Doch eins wissen alle, die sich auf das wohl gefährlichste Pflaster südlich der Eifel wagen: Wenn Oma dir ein zweites Stück Kuchen anbietet, sage niemals nein.

Antonia Stille

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Verehrte Joyce Carol Oates,

da Sie seit den Sechzigern beinah im Jahrestakt neue Bücher veröffentlichen, die auch noch in zahlreiche Sprachen übersetzt werden, kommen Sie vermutlich nicht dazu, jeden Verlagstext persönlich abzusegnen. Vielleicht können Sie uns dennoch mit ein paar Deutungsangeboten aushelfen, denn uns will ums Verrecken nicht einfallen, was der deutsche Ecco-Verlag im Sinn hatte, als er Ihren neuen Roman wie folgt bewarb: »›Babysitter‹ ist ein niederschmetternd beeindruckendes Buch, ein schonungsloses Porträt des Amerikas der oberen Mittelschicht sowie ein entlarvender Blick auf die etablierten Rollen der Frau. Oates gelingt es, all dies zu einem unglaublichen Pageturner zu formen. In den späten 1970ern treffen in Detroit und seinen Vorstädten verschiedene Leben aufeinander«, darunter »eine rätselhafte Figur an der Peripherie der Elite Detroits, der bisher jeglicher Vergeltung entkam«.

Bitte helfen Sie uns, Joyce Carol Oates – wer genau ist ›der Figur‹, dem es die elitären Peripherien angetan haben? Tragen die Leben beim Aufeinandertreffen Helme? Wie müssen wir uns ein Porträt vorstellen, das zugleich ein Blick ist? Wird das wehtun, wenn uns Ihr Buch erst niederschmettert, um dann noch Eindrücke auf uns zu hinterlassen? Und wie ist es Ihnen gelungen, aus dem unappetitlich plattgedrückten Matsch zu guter Letzt noch einen »Pageturner« zu formen?

Wartet lieber aufs nächste Buch: Titanic

 Vielen Dank, Claudia Schiffer!

Vielen Dank, Claudia Schiffer!

Die Bunte zitiert Sie mit der Aussage: »Um zu überleben, muss man gesund sein, und wenn man am gesündesten ist, sieht man einfach auch am jüngsten aus!« Gut, dass Sie diese Erkenntnis an uns weitergeben!

Geht jetzt zur Sicherheit bei jeder neuen Falte, Cellulitedelle und grauen Strähne zum Arzt:

Ihre greise Redaktion der Titanic

 Clever, »Brigitte«!

Du lockst mit der Überschrift »Fünf typische Probleme intelligenter Menschen«, und wir sind blöd genug, um draufzuklicken. Wir lernen, dass klug ist: wer mehr denkt, als er spricht, wer sich ungeschickt im Smalltalk anstellt, wer sich im Job schnell langweilt, wer sich mit Entscheidungen schwertut, wer bei Streit den Kürzeren zieht und wer ständig von Selbstzweifeln geplagt wird.

Frustriert stellen wir fest, dass eigentlich nichts von alledem auf uns zutrifft. Und als die Schwachköpfe, die wir nun einmal sind, trauen wir uns fast gar nicht, Dich, liebe Brigitte, zu fragen: Waren das jetzt nicht insgesamt sechs Probleme?

Ungezählte Grüße von Deiner Titanic

 Hoppla, Berliner Gefängnischefs!

Drei von Euch haben laut Tagesspiegel wegen eines Fehlers der schwarz-roten Regierungskoalition statt einer Gehaltserhöhung weniger Geld bekommen. Aber der Ausbruch von Geldnöten soll durch einen Nachtragshaushalt verhindert werden. Da ja die Freundschaft bekanntlich beim Geld endet: Habt Ihr drei beim Blick auf Eure Kontoauszüge mal kurz über eine Ersatzfreiheitsstrafe für die nachgedacht, die das verbrochen haben?

Wollte diese Idee nur mal in den Raum stellen: Titanic

 Hej, Gifflar!

Du bist das Zimtgebäck eines schwedischen Backwarenherstellers und möchtest mit einer Plakatkampagne den deutschen Markt aufrollen. Doch so sehr wir es begrüßen, wenn nicht mehr allein Köttbullar, Surströmming und Ikeas Hotdogs die schwedische Küche repräsentieren, so tief bedauern wir, dass Du mit Deinem Slogan alte Klischees reproduzierst: »Eine Schnecke voll Glück«? Willst Du denn für alle Ewigkeiten dem Stereotyp der schwedischen Langsamkeit hinterherkriechen? Als regierten dort immer noch Sozialdemokraten, Volvo und Schwedenpornos?

Damit wirst Du nie der Lieblingssnack der Metropolenjugend!

Sagen Dir Deine Zimt- und Zuckerschnecken von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 100 % Maxx Dad Pow(d)er

Als leidenschaftlicher Kraftsportler wünsche ich mir, dass meine Asche eines Tages in einer dieser riesigen Proteinpulverdosen aufbewahrt wird. Auf dem Kaminsims stehend, soll sie an mich erinnern. Und meinen Nachkommen irgendwann einen köstlichen Shake bieten.

Leo Riegel

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

 Back to Metal

Wer billig kauft, kauft dreimal: Gerade ist mir beim zweiten Sparschäler innerhalb von 14 Tagen die bewegliche Klinge aus ihrer Plastikaufhängung gebrochen. Wer Sparschäler aus Kunststoff kauft, spart also am falschen Ende, nämlich am oberen!

Mark-Stefan Tietze

 Frage an die Brutschmarotzer-Ornithologie

Gibt es Kuckucke, die derart hinterhältig sind, dass sie ihre Eier anderen Kuckucken unterjubeln, damit die dann fremde Eier in fremde Nester legen?

Jürgen Miedl

 Empfehlung für die Generation Burnout

Als eine günstige Methode für Stressabbau kann der Erwerb einer Katzentoilette – auch ohne zugehöriges Tier – mit Streu und Siebschaufel den Betroffenen Abhilfe verschaffen: Durch tägliches Kämmen der Streu beginnt nach wenigen Tagen der entspannende Eintritt des Kat-Zengarteneffekts.

Paulaner

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg