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Bücher-Abzocke: Was Oma und Opa jetzt lesen müssen! (diesen Artikel)
"So werden Rentner mit Büchern abgezockt", enthüllte vor einer Weile die "Bild"-Zeitung (bekannt u.a. für die "Volks-Bibel"). Der gemeine Trick der Betrüger: Die Bücher sind sehr teuer. Und werden an der Haustür feilgeboten - ausgerechnet dort, wo sonst nur seriöse Geschäfte passieren.
Vor allem auf alte Menschen, besonders Frauen über 60, haben es die Buchdrucker, Entschuldigung: die Buchdrücker abgesehen. Alte Frauen sind oft einsam oder immer noch mit hoffnungslos verblödeten Männern verheiratet und finden Trost in verführerisch verzierten, in Kistchen aus getrocknetem Holzschleim verteilten Buchstaben.
Auch Rita Digest (72, Name von der Redaktion veralbert) ist auf Klingelschelme hereingefallen. Nämlich uns. Wir wollen von der alten Dame wissen, ob sie Interesse an teuren Büchern hat und schon mal welche gekauft. Sie wiegelt ab. Ob sie denn gerne liest? Wieder zögert sie, stößt sanft mit der Tür gegen unsere Füße - aber die Lesebrillenmulde nah der Nasenspitze verrät sie. Als sie erfährt, dass wir nur Reporter sind, öffnet sie doch noch den Mund, darauf sogar das Herz und die Stube. Ja, auch sie hat schon unnötig teure Bücher an der Haustür gekauft, gibt sie zu und zeigt uns eine mit Katzengoldschnitt plump prahlende 26teilige Enzyklopädie "Das Alphabet von A bis Z - mit jede Menge Katzenbildchen". Kosten: 3876,87 €. Pro Monat. Sieben Jahre lang. Für den ersten Band.
Das ist viel Geld für Rita Digest. Das weiß sie aus dem dicken Lederband "Ihre Kontoauszüge", der ihr von einem Mann namens "Bankberater" aufgeschwatzt wurde. Die Polizei konnte den Täter bis heute nicht ermitteln, bot der netten Dame aber die "wertig faksimilierte Ermittlungsakte" zum Vorzugsabopreis an. Rita Digest schlug natürlich sofort zu. Und wurde prompt verhaftet.
Menschen, die heute als Senioren gelten, wurden jahrzehntelang in dem Glauben erzogen, das Lesen von Büchern sei wichtig, nicht zuletzt für den sozialen Status. Ihre eigenen Eltern hatten sogar noch Bücher mit der Atemluft eingesogen - bei großen hitzigen Abendveranstaltungen. Und wer nicht später mindestens ein Buch von Günter Grass oder Martin Walser neben (oder besser: vor) Papas "Mein Kampf" gestellt hatte, begab sich direkt ins soziale Abseits. Bücher waren überall, wurden in sogenannten "Zeitungen" ausführlich "besprochen" (was ziemlich unverhohlen ihren Hexencharakter verrät), und damit noch mehr Arglosen schmackhaft gemacht. Der tiefsitzende Glaube an die Macht des Wortes macht sie anfällig für Haustürkäufe. Von Büchern ganz zu schweigen!
Doch ist die Masche der "Zeugen Gutenbergs" (Milieu-Ausdruck) nur der Umschlag des Papierberges im Buchdrücker-Business. Denn alte Menschen gelten überall als besonders anfällig, auch sogenannte "Verlage" dürfen noch immer nahezu unkontrolliert Bücher verkaufen, per Versand, in Buchhandelsketten oder - besonders schmutzig - an Bahnhöfen. Unterstützt wird dieses Treiben von einer Gesellschaft und einem Staat, die das Lesen verherrlichen. "Ach, die Gesellschaft …", seufzt Rita. "Sprechen Sie mich nicht auf die an!"
Ein Blick in die Bestsellerlisten der letzten Jahre verrät, wie skrupellos die Verlage vorgehen. So sollen zum Beispiel mit immer neuen Machwerken eines Scherzarztes namens von Hirschhausen der Generation Krankenhausclown Überlebenschancen vorgegaukelt werden. Mit Abertausenden von Regionalkrimis wird den Alten vorgespielt, dass ihre Einsamkeit nicht an ihrer Unfähigkeit liegt, mit Menschen anderer Generationen zu kommunizieren, sondern an der Mordlust sogenannter "Mörder". Und mit immer neuen Waldliebhabereien (welch Hohn, das auf Baumleichen zu drucken!) wird den Greisen auch noch eine teure Zukunft in "Friedwäldern" angepriesen.
Viele gut verkaufte Titel des Jahrtausends reden auch nicht lange um den heißen Brei (Substanz, mit der Papier hergestellt wird) herum: Ob "Eine teure Geschichte der Menschheit", "Deutschland schafft sich rassistische Bücher an", "The Big Five for Life: Was wirklich zählt im Leben (Geld)", "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand, weil Buchverkäufer an der Tür geklingelt hatten, dann aber doch noch den hundertteiligen 'Barockhaus' bestellte, da er nicht schnell genug weg kam" oder alles von Ferndinand von Gierrach ("Verbrechen", "Schuld"!) - die großen Buchhäuser setzen ganz auf Seniorenabzocke. So sehr, dass jüngst Florian Illies (59) seinen Posten als Rowohlt-Chef aufgeben musste, weil er sich weigerte, erwachsen zu werden.
Rita Digest sitzt vor ihrer riesigen Bücherwand und kann mit dieser Information nichts anfangen. Sie hat Büchern abgeschworen, plant alsbald zu sterben und die Schulden einfach ihren Kindern und Enkelkindern zu hinterlassen. Das entspräche dem Lebensgefühl ihrer Generation. Dann fängt sie spontan an, auf Greta Thunberg zu schimpfen. Ihr Mann eilt aufgebracht dazu und steigt lautstark ein. Vielleicht wollen die beiden noch ein Buch über "den ganzen Scheiß" schreiben. Teuer wird es auf jeden Fall.
Tim Wolff