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Megatrend Linkssein

In Thüringen wurde ein Ministerpräsident mit Stimmen der AfD gewählt und das Land war geschockt. Kritik kam von allen Seiten. Was ist los mit diesem Land, das sonst bekannt ist für HoGeSa, Pegida, Reker, Lübcke, ZPS, Halle, NSU, NSU 2.0, Chemnitz, Hannibal und Nordkreuz, Dieter Nuhr, Combat 18, Hanau, Teuto … (Liste zu lang)? Niklas Hüttner versucht sich zu erinnern.

Mit einem lauten Knall schlagen die großen Türen des Herbert-Wehner-Saals zu, die Redaktionssitzung kann beginnen. "Genosse Ronzheimer, Sie fahren sofort nach Thüringen. Der übliche Katastrophenjournalismus, aber diesmal von links!" Der Mann, der machtbewusst, aber moralisch integer, befiehlt, ist Josef Reichelt, Chefredakteur des Zentralorgans der Linkspartei. Noch vor kurzem trug er einen Dreitagebart zum offensiv aufgeknöpftem Hemd, jetzt hat er sich einen stattlichen Schnauzbart stehen lassen. "In diesen Zeiten ist es wichtig, Haltung zu zeigen. Es ist klar, dass wir seit den neuesten Ereignissen nicht einfach so weitermachen können wie bisher. Dann würde ja noch jemand merken, dass wir diese Tragödie mit herbeigeschrieben haben", erklärt Reichelt.

Die Tragödie ist zu diesem Zeitpunkt gerade zwei Stunden alt und begann im Thüringer Landtag. Mit Stimmen der "Arsch-Nazis" (Reichelt) von der AfD wurde Thomas Kemmerich, Faschingsfreund, Familienvater und V-Mann, zum Ministerpräsident des Freistaates Thüringen gewählt, und das nur, um eine zweite Amtszeit des Linken Bodo Ramelow in diesem Amt zu verhindern. Ein Dammbruch, wie es direkt durch die sonst so unverhohlen jeden rassistischen Quatsch intonierende Republik hallte. Es schien, als ob die Wiederauferstehung der DDR, vor der einige Leute nach der ersten Wahl Ramelows warnten, nun Wirklichkeit würde. Kurz darauf demonstrierten schon Tausende Menschen mit Winkelementen ihre Solidarität mit dem großen Vorsitzenden und verhöhnten Konterrevolutionäre wie Thomas Kemmerich. "Wir verstehen uns als ein Blatt des Volkes. Klar, dass wir uns jetzt an die Seite der Linken stellen. Und unter uns: Wir verkaufen immer weniger Zeitungen, wir brauchen dringend Auflage, da machen wir alles. Das schreiben Sie aber nicht, oder?!" fuchtelt Reichelt.

Auch an anderen Orten überdenken Leute ihre Einstellung. Marvin, 17, ist Schüler an der frisch umbenannten polytechnischen Oberschule Tambach-Dietharz (vorher Kurt-Georg-Kiesinger-Gymnasium). Erst vor kurzem ist er auf diese Schule gewechselt, aber er ist sich sicher, er will seinen neuen Standpunkt klarmachen, er ist Linker. Er trägt ausschließlich Jogginghose, tröstet gemobbte Mitschüler und besetzt in seiner Freizeit Waffenfabriken. "Habe ich alles von der deutschen Spitzenproduktion 'Wir sind die Welle' gelernt! Das ist unser 'Kapital'!" erzählt er stolz und rückt sein blaues Halstuch gerade. Auch seine Familie hat Marvin beschworen, wie er freimütig zugibt. Aber das hätte er eh nicht machen müssen, gibt er an: "Meine Oma wählt schon immer links. Sie gehört zu den über Sechzigjährigen, die bei der Landtagswahl geschlossen antifaschistisch gewählt haben. Außerdem erzählte sie mir, dass sie jetzt aus Solidarität mit den bedrohten und ausgebeuteten Gastarbeitern aus unseren sozialistischen Brüderländern öfter 'beim Fidschi' essen gehen will. Also sobald das mit diesem Corona-Virus etwas ruhiger geworden ist." 

Zurück in Berlin, Herbert-Wehner-Saal. "Ist mir egal, Ulf, ob du willst oder nicht. Du fährst in dieses Ausbildungslager!" schreit Josef Reichelt in sein Smartphone. Er erklärt: "Jetzt ist es wichtig, dass wir unsere Leute auf Linie bringen. Und da nimmt man sich natürlich ein Beispiel an seinen Vorbildern!" Die klaren Ansagen scheinen zu fruchten: Am nächsten Tag erscheint in der ebenfalls umbenannten "Jüngsten Welt" ein Artikel von Chefredakteur Ulf Poschardt. Titel: "Mit dem Trabant ins Ausbildungslager nach Jordanien – Das ist Freiheit!" Doch auch das lässt keine Ruhe einkehren. Reichelt ist nun dauerhaft an seinem Telefon. Gerade versucht er Franz Josef Wagner als Kolumnisten zu ersetzen. Wieder schreit er ins Smartphone: "Der Nazi-Opa hat Feierabend, bringt mir irgendeinen Linken, wenigstens einen Liberalen … Nein! Nicht so einen Liberalen! Was weiß denn ich? Sibylle Berg, Peter Handke, Roger Willemsen, IRGENDEINEN!"

Vier Tage später. FDP-Mann Kemmerich ist immer noch im Amt. In Tambach-Dietharz versucht Marvin seinen Anzug nicht zu beschmutzen, als er seiner Oma den Döner aus der Hand schlägt. Und während Ulf Poschardt gerade zurück aus Jordanien kommt, greift zur gleichen Zeit Chefredakteur Reichelt zum Rasierer, um sich den Schnauzbart zu entfernen. Er nennt sich jetzt wieder Julian. "Es ist mir wichtig, meinen bürgerlichen Namen zu tragen. Ein wichtiges Zeichen, dass wir Bürgerlichen gegen alle Anti-Demokraten von links und (nuschelt undeutlich) zusammenhalten", erklärt er und stellt dem alten Neu-Kollegen Franz Josef Wagner zur Wiedereingewöhnung an die alte Arbeit einen Eimer feinsten Whiskey hin.

Der Rest ist Geschichte.

Niklas Hüttner

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

 Persönlich, Ex-Bundespräsident Joachim Gauck,

nehmen Sie inzwischen offenbar alles. Über den russischen Präsidenten sagten Sie im Spiegel: »Putin war in den Achtzigerjahren die Stütze meiner Unterdrücker.« Meinen Sie, dass der Ex-KGBler Putin und die DDR es wirklich allein auf Sie abgesehen hatten, exklusiv? In dem Gespräch betonten Sie weiter, dass Sie »diesen Typus« Putin »lesen« könnten: »Ich kann deren Herrschaftstechnik nachts auswendig aufsagen«.

Allerdings hielten Sie sich bei dessen Antrittsbesuch im Schloss Bellevue dann »natürlich« doch an die »diplomatischen Gepflogenheiten«, hätten ihm aber »schon zu verstehen gegeben, was ich von ihm halte«. Das hat Putin wahrscheinlich sehr erschreckt. So richtig Wirkung entfaltet hat es aber nicht, wenn wir das richtig lesen können. Wie wär’s also, Gauck, wenn Sie es jetzt noch mal versuchen würden? Lassen Sie andere Rentner/innen mit dem Spiegel reden, schauen Sie persönlich in Moskau vorbei und quatschen Sie Putin total undiplomatisch unter seinen langen Tisch.

Würden als Dank auf die Gepflogenheit verzichten, Ihr Gerede zu kommentieren:

die Diplomat/innen von der Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

 Hey, »Zeit«,

Deine Überschrift »Mit 50 kann man noch genauso fit sein wie mit 20«, die stimmt vor allem, wenn man mit 20 bemerkenswert unfit ist, oder?

Schaut jetzt gelassener in die Zukunft:

Deine Titanic

 Wow, Instagram-Kanal der »ZDF«-Mediathek!

In Deinem gepfefferten Beitrag »5 spicy Fakten über Kim Kardashian« erfahren wir zum Beispiel: »Die 43-Jährige verdient Schätzungen zufolge: Pro Tag über 190 300 US-Dollar« oder »Die 40-Jährige trinkt kaum Alkohol und nimmt keine Drogen«.

Weitergelesen haben wir dann nicht mehr, da wir uns die restlichen Beiträge selbst ausmalen wollten: »Die 35-Jährige wohnt nicht zur Miete, sondern besitzt ein Eigenheim«, »Die 20-Jährige verzichtet bewusst auf Gluten, Laktose und Pfälzer Saumagen« und »Die 3-Jährige nimmt Schätzungen zufolge gerne das Hollandrad, um von der Gartenterrasse zum Poolhaus zu gelangen«.

Stimmt so?

Fragen Dich Deine Low-Society-Reporter/innen von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
18.04.2024 Berlin, Heimathafen Neukölln Max Goldt
18.04.2024 Hamburg, Centralkomitee Ella Carina Werner
19.04.2024 Wuppertal, Börse Hauck & Bauer
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt