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Berlinale 2020 – das werden die Highlights des Kinojahres
TITANIC präsentiert die heimlichen cineastischen Lieblinge von Jury und Publikum. Schon jetzt!

Emoto
Verstörende japanische Parabel auf die Zerrissenheit unserer urbanen Existenz
Handlung: Der japanische Parawissenschaftler und Alternativmediziner Masaru Emoto lebt nach dem Tod seiner Frau in einem vier Quadratmeter kleinen Hotelzimmer in Tokio. Seine Tage bestehen aus Fleiß und Reis. Einziger Lichtblick sind für Emoto die abendlichen Gespräche mit den gekochten Reisresten. Nach anfänglicher Scheu gibt Emoto dem Reis immer mehr Preis und baut eine intime Beziehung zu ihm auf. Dabei hat der Wissenschaftler den Eindruck, dass der Reis auf ihn reagiert, und beginnt ein ungewöhnliches Experiment: Er steckt zwei Reisportionen in luftdicht verschlossene Gläser und beschriftet sie mit "Dr. Parboiled" und "Mr. Reis". Dem lieben Dr. Parboiled bringt Emoto alle erdenklichen Zärtlichkeiten entgegen, über den finsteren Mr. Reis denkt er hingegen nur das Schlechteste. Eines Tages wacht er auf und stellt in einem der beiden Gläser eine sonderbare Veränderung fest …
Fazit: Das intensive Kammerspiel wirft Fragen auf, die wir uns aus gutem Grund nicht stellen: Kann sich auch loser Reis gebeutelt fühlen? Erlebten Menschen mit Sprachfehler das 3. Reis? Und warum kommt der größte Mindfuck immer aus Japan?

Smörebröd
Rabenschwarze Komödie aus Schweden
Handlung: In Büllerbu ist der Teufel los. Seit der marihuana-abhängige Rentner Jasper Strömblad beim Aufbocken eines minderjährigen Spielautomaten erwischt worden ist, muss er auf Befehl der lokalen Gender-Beauftragten in eine multikulturelle Lesben-WG ziehen. Ronja Langstrumpf, Karla vom Dach, Michaela aus Lönneberga und die Schwestern Löwenherz planen jedoch gerade einen Terroranschlag, und zwar ausgerechnet auf das verhasste Gender-Studies-Institut von Büllerbu. Klar, dass sie dem bekifften Opa die Schuld in die Schuhe schieben wollen. Der ist allerdings nur halb so doof, wie er aussieht, und schmiedet mit der pädophilen Baptistenpriesterin Babette einen ganz anderen Plan. Unerwartete Hilfe erhalten die beiden von dem depressiven Tangotänzer Nils Holgersson und seinem querschnittsgelähmten Pudel Hitler (genial: Matthias Schweighöfer).
Fazit: Typisch skandinavisch: Freakige Charaktere, absurde Wendungen und rabenschwarzer Humor. Die trauen sich was, die Schweden!

Nachitschewan – Der Geruch betrunkener Kamele
Liebevolle Komödie aus Aserbaidschan, die augenzwinkernd das Aufeinanderprallen von Tradition und Moderne thematisiert
Handlung: Großvater Ilham ist außer sich. Seine 16jährige Enkelin Almaz will in den örtlichen Billardverein eintreten, dabei ist Billard in Aserbaidschan seit grauer Vorzeit Männersache. Im "Queue und Kugel e.V." wird Kautabak gekaut, Minztee getrunken und über Männerthemen wie Kautabak, Minztee und Kajalstifte geredet. Trotzkopf Almaz setzt sich über familiäre Verbote und gesellschaftliche Regeln hinweg, verkleidet sich als Junge und besiegt schließlich alle Gegner in einer Partie Pool. Alle bis auf Arslan, einen hübschen Hirtenjungen, der als Einziger erkennt, dass Almaz ein Mädchen ist. Gewieft bietet er ihr einen Schwadarawasch – einen hochprozentigen Rachenputzer für Männer an. Frauen, die Schwadarawasch trinken, gelten in Aserbaidschan als Schlampen. Almaz lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern fordert Arslan zu einem Wetttrinken auf. Sie weiß: Männer, die ein Wetttrinken ausschlagen, gelten in Aserbaidschan als schwul. Der Abend gerät aus den Fugen und schon bald ist nichts mehr so, wie es vorher schon nicht war.
Fazit: Diese kleine Kinoperle hat alles, was deutsche Lehrerehepaare und Grünenwähler*innen in Filmen aus möglichst entlegenen und rückständigen Ländern sehen wollen: hölzerne Laiendarsteller, altbackene Dramaturgie und Geschlechterrollen, eine naive Moral und französische Untertitel. Weiteres Plus: Die Kamerafahrten über den grünen Billard-Filz gehören zum Rasantesten, was das aserbaidschanische Kino bis heute zu bieten hat.

Schwarzer – Every truth needs a brave one who speaks it out
Oliver Stones episches BioPic über die berühmte deutsche Frauenrechtlerin
Handlung: Alice Schwarzer (leicht fehl besetzt: Angelina Jolie) wächst unter denkbar ungünstigen Bedingungen auf, nämlich in Wuppertal-Elberfeld. Die erste Einstellung zeigt die kleine Alice, wie sie ein Lagerfeuer zu löschen versucht, indem sie den Rauch wegpustet. Kurz darauf erleben wir den streitbaren Backfisch, wie er in einer Bar mit Jean-Paul-Sartre und Simone de Beauvoir knutscht. Dann geht es Schlag auf Schlag: Alice zieht gegen sadomasochistische Newton-Fotos, Pornofilme, das generische Maskulinum und das Kopftuch der Muselmaninen zu Felde. Schließlich klopft ihr ein weiser Mentor (großartig: Angela Merkel) auf die Schulter und spendiert einen Gratis-Kurs "Geschlechtergerechter Kapitalismus". Alice lernt schnell, erwirtschaftet durch ehrliche Ausbeutung von Frauen Millionen und schafft den Löwenanteil in die Schweiz. Innerlich brennt die einst idealistische Kämpferin dabei immer weiter aus, lässt sich auf eine lieblose Affäre mit Anne Will (stark: Tom Cruise) ein und wird von ihr wegen einer Jüngeren sitzen gelassen. Jetzt ist Alice völlig verbittert und scheinbar am Ende. Doch dann trifft sie eine Illegale, die 25-jährige Fatima …
Fazit: Nicht übel, aber der Aufstieg und Fall und Wiederaufstieg von Männern ist irgendwie generell unterhaltsamer. Plus: Der total authentische Soundtrack von Billie Eilish.

Mais qui – Aber ja
Provozierender Skandalfilm voller Poesie
Handlung: Die 15jährige Amelie verlässt bei Nacht und Nebel den goldenen Käfig ihres bürgerlich-behüteten Elternhauses. Beim Trampen gerät sie an den wortkargen, desillusionierten Marseiller Lastwagenfahrer Marcel (überraschend glaubwürdig: Woody Allen). Marcel steht mit seinen 61 Jahren kurz vor der Pensionierung, darf aber nur mit einer mageren Rente rechnen. Amelie erzählt Marcel von ihrer wunderbaren Welt, er bringt sie außer Atem. Er leckt das Salz von ihrer Haut, sie wird mit ihm ziemlich beste Freunde. In einer der intensivsten Szenen des Films legt sie ihm ihre Katze "La Boum" auf’s heiße Blechdach und er zeigt ihr seinen Asterix.
Fazit: Gekonnt und fernab von Klischees setzt Altmeister Jaques Chabroll-Schuhe das ungleiche Paar in Szene. Anstatt dabei nur auf ästhetisch angedeutete Erotik zu setzen, konzentriert sich Chabroll-Schuhe auch auf lang ausgewalzte Sexszenen und zusammenhangslose Dialoge.

Anselm Neft