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Das I-Wort – Zu Besuch beim israelkritischen Lesekreis
Die linke Bewegung in Deutschland vereint viele verschiedene Strömungen: Kommunisten, Ökos, Olaf Scholz. Auch die Israelkritik ist in der Szene weit verbreitet. Was treibt diese Leute an? Was wollen sie (kein Israel)? Und muss eine Demokratie (Israel) das aushalten? TITANIC hat nachgefragt.
Das Hamburger Schanzenviertel ist ein Eldorado für Linksalternative, Punks und Wohnungsbesitzer, die ihre Mieter mal so richtig durchgentrifizieren wollen. Hier erhebt sich majestätisch wie die Enden von Stalins Schnurrbart die Rote Flora. Ein großes Transparent an ihrer Fassade trägt die Aufschrift "Gegen jeden Antisemitismus". An einem kleineren Haus neben der Flora hängt ebenfalls ein Banner, auf dem steht: "Das sehen wir so ähnlich!"
Die Rote Flora lassen wir heute mal links liegen, wie schon viele ehemalige Aktive. Stattdessen wenden wir uns dem Häuschen zu. Geht man durch die kleine Tür des kleinen Hauses, betritt man: einen Flur. Dieser ist übersät mit Graffiti, die klarmachen, wer hier zu Hause ist: "Nzs rs!", "Eat sexism", "Dreadlocks statt Schläfenlocken!". Auch dem Versammlungsraum sieht man an, dass sich hier die sogenannten Alternativen aus der sogenannten alternativen Szene treffen. An den Wänden hängen Plakate von Rosa Luxemburg neben Bildern von Friedenstauben, die mit "RAF" beschriftete MP5s im Schnabel tragen. Dazwischen sind Parolen wie "ACAB" und "Amerikaner sind häufig ein wenig dumm" gesprüht. In der Ecke steht eine kleine Statue, sie stellt Karl Marx beim Ernstgucken dar.
Simone ist die Gründerin des (Israel)-kritischen Lesekreises, der sich hier regelmäßig trifft, jede Woche eigentlich, außer an Chanukka. "Da machen wir Hausbesuche und versuchen die Leute am Esstisch von den Problemen zu überzeugen. Viele bewerfen uns aber bloß mit Kerzen", seufzt Simone, während sie uns im Raum herumführt. Sie deutet auf ein Transparent auf dem "Der (Israel-)kritische Lesekreis distanziert sich von allen Apartheitsstaaten im Nahen Osten" steht. Das Wort "kritischer" ist in roter Farbe geschrieben, drei Mal unterstrichen und umrahmt von Ausrufezeichen. "Das heißt, dass wir sehr kritische Menschen sind", erklärt Simone uns langsam und deutlich. "Uns ist es sehr wichtig, dass wir vor allem das Kritische an unserer Gruppe betonen. Wir sind kritisch allen gegenüber. Und damit auch Israel." Direkt neben dem Transparent hängt eine Israelflagge. Als wir sie fragend ansehen, erklärt Simone verstimmt: "Die hängt extra falsch rum, das kann man aber halt nicht sehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das absichtlich war, damit die uns unseren Protest vermasseln können", schmollt sie. "Dabei muss das doch so von Tätervolk zu Tätervolk auf Augenhöhe möglich sein!"
Langsam trudeln auch die anderen Aktivistinnen und Aktivisten der Gruppe ein, quatschen ein wenig und zünden ein mitgebrachtes Auto an, damit es gemütlich wird. Der Lesekreis nimmt sich jede Woche ein Werk vor, über das er dann diskutiert. In dieser Sitzung ist es eine Karikatur aus der Süddeutschen Zeitung: Darauf ist Netanjahu zu sehen, wie er sich mit gierig gespreizten Fingern über den Gaza-Streifen beugt. Seine überdimensionale Nase zerdrückt ein Krankenhaus, aus seinem Mund hängen einige Kinderbeinchen. Auf seiner Jacke ist der Davidstern abgebildet, geschickt eingearbeitet in die Hakenkreuzflagge. Auf Netanjahu steht "Netanjahu", die Bildunterschrift lautet "Haben sie denn nichts draus gelernt?" Einer aus der Gruppe, Vorhaut-Matze, meldet sich. Simone wirft ihm den Redepflasterstein zu. "Ich find das Bild sehr gelungen!", meint Matze, "die Israelis behandeln die Palästinenser wirklich so wie die Nazis damals die … ääh, die …" Leider fällt ihm gerade kein passender Vergleich ein. "SPD", hilft Simone ihm. "Die bekommen übrigens keinen eigenen Staat, dabei sind sie wirklich vom Aussterben bedroht". Simone lacht leise, sie verdient sich neben dem Studium auf deutschen Kabarettbühnen etwas dazu.
Dann diskutiert die Gruppe über "Pro" und Contra des "Staates" Israel. Palästinensa (Künstlername) sieht die Integrationsaspekte ihres Aktivismus im Vordergrund: "Wenn die Flüchtlinge beim Karneval die Wagen mit den hakennasigen Pappmaché-Figuren umringt von Geldsäcken sehen, fühlen sie sich gleich wieder wie zu Hause. Die sind ja häufig auf unserer Seite!", ruft sie begeistert. Als sie das hört, zuckt Simone zusammen: "So was kannst du doch nicht einfach sagen! Das heißt Geflüchtete!"
Palästinensa, Matze und Simone engagieren sich auch beim BDS ("Boy, Do I hate the State of Israel"): "Allerdings nur, weil die Wirtschaft global zu schnell wächst und das nicht gut für den Planeten ist! Und gerade Avocados haben eine besonders schlechte Umweltbilanz!"
Im Großen und Ganzen sieht Simone allerdings wenig Zukunft in ihrem Engagement: "Gegen diese Übermacht – ihr wisst schon, wer – kannst du einfach nicht ankämpfen", seufzt sie. "Wenn es ihnen zu viel wird, machen sie vermutlich einfach Siedlungspolitik und verdrängen uns aus dem Haus. Es könnte sogar sein, dass sie uns selbst gegründet haben, um Kritik an ihnen ins Lächerliche zu ziehen", sagt sie und piekt sich mit dem Fingernagel fest ins Auge. Der Lesekreis diskutiert noch etwas, es fallen die Worte "Holocaustkeule", "Der Augstein, der ist ein Guter" und "Amerikaner sind häufig ein wenig dumm". Für das Abschlussritual steht Simone auf, ruft "Gegen die Mauer ums Westjordanland!" und läuft entschlossenen Schrittes gegen die Wand. Die anderen folgen ihr. Karl Marx grinst zufrieden.
Laura Brinkmann