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Volkskrankheit Nullzins – Deutschland spart sich ab

Die Nation ist in Aufruhr: Der Nullzins frisst das Vermögen der Deutschen auf. Tausende Sparerinnen und Sparer stürzen sich von der hohen Kante, auf die sie dereinst ihr Geld gelegt hatten. Ein Beitrag von Sparreporter Cornelius W. M. Oettle.

Als Sparen noch einfach schien, war Simone Schwach 15 Jahre alt und die SED stärkste Partei im Land. Ihre Ferien verbrachte sie mit dem Zählen von Schafen und Kommunismus. Und während ihre Freundinnen Geld für noch schlechtere Zeiten auf ein Bankkonto legten, verschleuderte Simone ihre Penunzen für illegale Schallplatten aus dem Westen. Heute ist Simone reich und streut sich Blattgold auf die Fettbemme, weil sie vor ein paar Jahren im Lotto gewonnen hat.

Ihren Sparerfreundinnen von damals hingegen erging es schlechter: Je mehr sie sparten, desto mehr Geld verloren sie. Heute fiebern sie der Grundrente entgegen. "Simone grüßt uns schon lange nicht mehr", erzählt Simones einstige Weggefährtin Carolin, die uns in ihrer Ein-Zimmer-Wohnung im niedersächsischen Räbke empfängt. Hat das Geld die Freundschaft zerstört? "Nein", meint Carolin, "ich konnte die Alte eigentlich noch nie leiden."

Das Sparschwein ist das Krafttier der Deutschen

Carolins Schicksal entspricht dem Schicksal etlicher deutscher Sparer und Sparerinnen. Wie Rückenschmerzen und Obrigkeitshörigkeit ist auch das Sparen Teil der deutschen DNA. Das Sparschwein ist das Krafttier der Deutschen. An vielen deutschen Bahnhöfen gibt es "Spar"-Supermärkte. Schon als Kind hatte Carolin angefangen, jeden Tag ein Zwei-Mark-Stück in ihre kleine unsichtbare Spardose zu stecken. "Ich habe von klein auf so derbe abgespart, dass ich mir sogar die Spardose gespart habe", erklärt die 58jährige. Bevor sie mit der Sparerei angefangen hatte, hörte sie noch auf ihren Taufnamen Caroline. "Aber das stumme E kann man sich ja sparen", sagt sie und lächelt spärlich. Auch als schließlich das Westgeld und später der Euro kamen, sparte sie eisern weiter. Am Rückspiegel ihres ersten Autos befestigte sie schließlich einen Sparfuchsschwanz.

Unter Sparern ist der Hunger- ein Heldentod

Schon Carolins Großmutter sei Sparerin durch und durch gewesen. Sie zeigt uns Fotos der alten Frau. Kräftig gespart hatte sie offenbar vor allem bei der Auswahl ihres Friseurs, aber laut Carolin wohl auch am Mitgefühl der Enkelin gegenüber. Eines Tages starb sie dann den Hungertod, weil sie sich zu vieles vom Mund abgespart hatte. In Carolins Augen war ihre Oma eine Heldin. 

Heute jedoch haftet dem Sparen nichts Heroisches mehr an. Das Lieblingshobby der Deutschen ist zum Armutsrisiko Nummer eins geworden. Hatte man früher noch Angst vor einem Atomkrieg, vor der Schweinegrippe oder vor Gregor Gysi, so fürchtet man heute nichts so sehr wie den Nullzins. "Der Nullzins frisst das Vermögen der Deutschen auf – Was man jetzt tun muss für sein Geld", schreibt der "Spiegel" alarmierend auf seiner Titelseite. Für Carolin kommt dieser Hinweis zu spät.

"Als ich vor drei Wochen an meine erwähnte unsichtbare Spardose ging", erzählt Carolin, hält inne und holt zwei bis drei Minuten lang Luft: "Weg! Mein ganzes Erspartes! Einfach weg!" Der unerbittliche Nullzins hatte gnadenlos zugeschlagen. "Die Details erspare ich Ihnen", schluchzt Carolin.

Der Nullzins ist die Pest des 21. Jahrhunderts

Während die gesellschaftliche Aufmerksamkeit in der Vergangenheit vergleichsweise kleinen Problemen wie dem Klimawandel zuteilwurde, machte sich in Deutschland still und heimlich der Nullzins breit. Wie viele deutsche Sparbücher vom Nullzins betroffen sind, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. "Im Prinzip alle", sagt der Finanzexperte Sepp Reibach, aber die Dunkelziffer ist vermutlich höher.

Das Perfide an der Volkskrankheit Nullzins: Er unterscheidet nicht zwischen jung oder alt, doof oder schlau, Sparkasse oder Volksbank. Jeden Sparenden kann es treffen. Hat man sich einmal mit Nullzins infiziert, wird man ihn so schnell nicht wieder los. Mit beharrlichem Geiz und beißender Knausrigkeit zusammengehaltenes Geld vermehrt sich dann plötzlich nicht mehr länger von selbst – verrückt!

Carolin kann die Wut darüber nicht zurückhalten: "Während andere eine gute Zeit hatten und ihre Jugend genossen, während sie miteinander im Urlaub rumgebumst und sich in der Kneipe totgesoffen haben, saß ich frierend allein im Dunkeln zuhause und habe gespart. Und jetzt im Alter, nachdem ich mein komplettes Leben versäumt habe, bleibt mir nicht einmal die erhoffte Genugtuung, all diesen Prassern und Bacchanten die Zahlen auf meinem Konto unter die Nase zu reiben!" Was ein Bacchant ist, erklärt Carolin auch auf Nachfrage nicht.

Spare in der Zeit, dann kommst du bald in Not

Doch wie konnte das passieren? Wieso hat niemand die Nullzinsepidemie verhindern können? Es hat etwas mit der EZB, mit Mario Draghi, mit dem Aktien- und Finanzmarkt und bestimmt auch mal wieder mit Wolfgang Schäuble zu tun. Aber das ist sehr abstrakt und kompliziert und so genau will man es auch gar nicht wissen. Eine gefühlige Reportage liest sich da viel besser.

Auch Carolin steigt beim Thema Finanzpolitik nicht durch: "Wenn man zu lange über Geld nachdenkt, kommen einem ganz komische Ideen: Umverteilung, Enteignung und Anarchie und so. Da fange ich lieber wieder an zu sparen", seufzt sie und legt einen Zehn-Euro-Schein auf den Multifunktionstisch im Wohnzimmer. Hier also soll dem Nullzins getrotzt und ein neues Sparguthaben aufgebaut werden. Doch als Carolin kurz vor unserer Verabschiedung auf die Toilette geht und uns allein lässt, ist der Geldschein schon wieder verschwunden.

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Warum, Internet?

Täglich ermöglichst Du Meldungen wie diese: »›Problematisch‹: Autofahrern droht Spritpreis-Hammer – ADAC beobachtet Teuer-Trend« (infranken.de).

Warum greifst Du da nicht ein? Du kennst doch jene Unsichtbar-Hand, die alles zum Kapitalismus-Besten regelt? Du weißt doch selbst davon zu berichten, dass Millionen Auto-Süchtige mit Dauer-Brummbrumm in ihren Monster-Karren Städte und Länder terrorisieren und zum Klima-Garaus beitragen? Und eine Lobby-Organisation für Immer-Mehr-Verbrauch Höher-Preise erst verursacht?

Wo genau ist eigentlich das Verständlich-Problem?

Rätselt Deine alte Skeptisch-Tante Titanic

 Hallihallo, Michael Maar!

In unserem Märzheft 2010 mahnte ein »Brief an die Leser«: »Spannend ist ein Krimi oder ein Sportwettkampf.« Alles andere sei eben nicht »spannend«, der schlimmen dummen Sprachpraxis zum Trotz.

Der Literatur- ist ja immer auch Sprachkritiker, und 14 Jahre später haben Sie im SZ-Feuilleton eine »Warnung vor dem S-Wort« veröffentlicht und per Gastbeitrag »zur inflationären Verwendung eines Wörtchens« Stellung bezogen: »Nein, liebe Radiosprecher und Moderatorinnen. Es ist nicht S, wenn eine Regisseurin ein Bachmann-Stück mit drei Schauspielerinnen besetzt. Eine Diskussionsrunde über postmoderne Lyrik ist nicht S. Ein neu eingespieltes Oboenkonzert aus dem Barock ist nicht S.«

Super-S wird dagegen Ihr nächster fresher Beitrag im Jahr 2038: Das M-Wort ist ja man auch ganz schön dumm!

Massiv grüßt Sie Titanic

 Hoppla, Berliner Gefängnischefs!

Drei von Euch haben laut Tagesspiegel wegen eines Fehlers der schwarz-roten Regierungskoalition statt einer Gehaltserhöhung weniger Geld bekommen. Aber der Ausbruch von Geldnöten soll durch einen Nachtragshaushalt verhindert werden. Da ja die Freundschaft bekanntlich beim Geld endet: Habt Ihr drei beim Blick auf Eure Kontoauszüge mal kurz über eine Ersatzfreiheitsstrafe für die nachgedacht, die das verbrochen haben?

Wollte diese Idee nur mal in den Raum stellen: Titanic

 Hey, »Dyn Sports«!

Bitte für zukünftige Moderationen unbedingt merken: Die Lage eines Basketballers, der nach einem Sturz »alle Viere von sich streckt«, ist alles Mögliche, aber bestimmt nicht »kafkaesk«. Sagst Du das bitte nie wieder?

Fleht Titanic

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Empfehlung für die Generation Burnout

Als eine günstige Methode für Stressabbau kann der Erwerb einer Katzentoilette – auch ohne zugehöriges Tier – mit Streu und Siebschaufel den Betroffenen Abhilfe verschaffen: Durch tägliches Kämmen der Streu beginnt nach wenigen Tagen der entspannende Eintritt des Kat-Zengarteneffekts.

Paulaner

 Spielregeln

Am Ende einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Partie fragt der demente Herr, ob er erst eine Sechs würfeln muss, wenn er zum Klo will.

Miriam Wurster

 Tödliche Pilzgerichte (1/1)

Gefühlte Champignons.

Lukas Haberland

 Back to Metal

Wer billig kauft, kauft dreimal: Gerade ist mir beim zweiten Sparschäler innerhalb von 14 Tagen die bewegliche Klinge aus ihrer Plastikaufhängung gebrochen. Wer Sparschäler aus Kunststoff kauft, spart also am falschen Ende, nämlich am oberen!

Mark-Stefan Tietze

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg