Humorkritik
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Artmanns Anachronismen

"Die Strahlen einer unwirklichen Sonne brannten die letzten Schatten aus den Bäumen, (...) aus südsüdwestlicher Richtung tönte das makabre Blech eines siebzigtausendmal gespielten Trauermarsches, und die winzigen Noten aus angerostetem Metall brummelten durch die Luft." Eine Kulisse, vor der zwei Marineveteranen in voller Montur über einen Großfriedhof schnauben, um ihrem langjährigen Dienst- und Trinkkumpanen die letzte Ehre zu erweisen - und sich dabei hoffnungslos verirren. Bis der vermeintlich Hingeschiedene vor ihnen steht, seinerseits unterwegs zum Begräbnis jener beiden.
Tatsächlich, wir ahnen's schon, hatte ein Witzbold fingierte Trauerkarten verschickt. Eine Schnurre zweieinhalb Seiten lang zu erzählen, in umso anmutigerem Ton, je miserabler die Pointe ausfällt, dieses Verfahren hat Tradition. Nur, daß sich's beim Verfasser diesmal nicht um Roda Roda noch um Fritz Reuter handelt, sondern um H. C. Artmann (1921-2000), einen Autor also, der seit jeher zu den Avantgardisten gezählt wird. Und das nicht zu Unrecht, war Artmann doch Mitglied jener "Wiener Gruppe", in der Oswald Wiener, Konrad Bayer & Co. schon in den fünfziger Jahren Buchstabierübungen trieben, die dann in Form der Jandlschen Lautgedichte populäre Nachfolger finden sollten.
Sein Avantgardisten-Image war es, das dem in Wien geborenen Kosmopoliten zum Großen Österreichischen Staatspreis (1974) verholfen hat wie auch zur Einladung ans Literarische Colloquium Berlin, eine Institution, die damals ganz vom 68er-Stil geprägt war, mit Workshops, Diskussionsrunden und einer eigenen Publikationsreihe. Just in dieser Reihe nun erscheint 1972 Artmanns Bändchen "Von der Wiener Seite", das nichts enthält als 33 altmodisch-folkloristische Feuilletons und Miniaturen wie die oben erwähnte - im damaligen Umfeld muß sich das ausgenommen haben wie ein Mammut am Nacktbadestrand.
Anachronistisch-monströs hat sich auch sein Autor zeitlebens präsentiert: ein Gigant an Bildung und Schnapskonsum, polyglotter Weltgewandtheit und Lethargie, aristokratisch und unangepaßt - auch wenn er den Modecliquen der 60er und 70er Jahre angehörte und so vom seinerzeit reichlichen Segen öffentlicher Fördermittel profitierte. Mit der Berufskrankheit der Wiener Gruppe, der Kleinschreibung, hatte sich auch Artmann infiziert, zwei Jahrzehnte sind seine Texte davon schwer gezeichnet, erst seit 1970 zeigen sie sich von diesem Virus befreit. Gegen's seinerzeitige Sozial- und Friedensgedankengut indessen bleibt er vollkommen resistent, sein genossenschaftliches Engagement beschränkt sich zunehmend auf Sauftouren mit den Kollegen - Belege liefert das phantastisch schlampige Tagebuch "Das Suchen nach dem gestrigen Tag" (1964): Spontan fliegt Artmann für ein Wochenende von Paris nach Berlin, um dort mit O. Jägersberg und F. Tumler zu versumpfen, anschließend mietet er in Malmö ein feuchtes Zimmer mit Außenklo und tagträumt davon, "wie im Kriege leben" und "feine rauhreifüberzogene Jagdflinten durch den Nebel dieser Jahreszeit tragen" zu können.
Als der Publizist André Müller den bereits reiferen Artmann in Salzburg besucht, findet er diesen nicht im mindesten um seine Positionierung in der Literaturgeschichte, doch um so intensiver darum besorgt, ob per Moped noch irgendwo ein getränkeveräußernder Tanzschuppen anzusteuern sei; ohnehin, so Artmann zu Müller, fange er erst zu schreiben an, wenn das Geld partout zuende sei. Ja, schlimmer noch: Sobald der erste Vorschuß eingetroffen war, hat er den Schreibmaschinenkoffer wieder zugeklappt, wie jeder Artmann-Leser feststellen muß. Kaum einer seiner Texte ist übers Stadium eines Provisoriums, einer Werkprobe hinausgekommen.
Regelrecht böse bin ich deshalb den Kulturoffiziellen und Verlegern, die Artmann mit Stipendien und Preisen überhäuft bzw. ihm jedes unfertige Manuskript abgekauft und zum Schmuckdruck aufgemotzt haben. Was offiziell als Literaturförderung daherkam, hat im Falle dieses genialen Faulpelzes geradewegs Literaturverhinderung bewirkt. Einzig die Texte "Von der Wiener Seite" zeigen sich fertig durchgearbeitet - daß sie tatsächlich in einer Zeit drängender Geldnot des Verfassers entstanden seien, erzählen sie selber: etwa, wenn der Ich-Erzähler sein Radio im Pfandhaus versetzt, oder wenn er eine Petroleumlampe vom Schrott holt, weil ihm der Strom abgedreht wurde. Und so ungern ich einen Autor notleiden sehe - Artmanns Texten hätten etwas weniger "Slibovitz" und etwas mehr Petroleumlicht merklich gutgetan.
So aber muß ich mich in der dreibändig "Gesammelten Prosa" (Residenz Verlag) auf die hundert Seiten des erwähnten Werkleins beschränken, wenn ich einen Artmann lesen will, bei dem auch der Schlußsatz noch haltbar ist. Und z. B. so lautet: "Über dem Mödlinger Horizont schwimmt wie ein unendlich ferner, milchiger Mopedscheinwerfer der Abendstern dieses Tages."


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