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Freie Sachsen Hessen

 

Es ist eines der ambitioniertesten politischen Vorhaben der Nachwendezeit: Die Shootingstarpartei "Freie Sachsen" expandiert in die Alten Bundesländer. TITANIC begleitet Spindoctor Dr. Ronny Ficker hinter die Kulissen des Leuchtturmprojekts.  

Frankfurt-Bockenheim, im Erdgeschoss eines unscheinbaren Nachkriegsbaus: Ronny Ficker empfängt mich mit offenen Armen: "Ein Skateboardunfall!" Er wirkt aufgeschlossen. Vielleicht, weil ich mich in der Anfrage als Konkret-Autor ausgegeben habe? Bei Eierschecke und Muckefuck spricht er ruhig über den neuen Landesverband: "Wir sind ein Bollwerk gegen Politikverdrossenheit. Doch die letzte Gemeinderatswahl in Sachsen ließ uns zweifeln: War sie gefälscht?" Ficker macht eine nachdenkliche Kunstpause. "Bei den Montagsspaziergängen ist endlich mal wieder was los. Dieser Zusammenhalt soll auch in Hessen verfangen." Warum gerade Hessen? Der Parteistratege scheint auf diese Frage nur gewartet zu haben: "Die Sachsen sind monarchiemüde. In der Landgrafschaft Hessen-Kassel geht was. 1803 wurde der Landesherr zum Kurfürsten erhoben. Wir wollen das wiederholen. Hessen braucht einen fähigen Führer im Range des Titularkurfürsten dringender denn je. Darüber hinaus gab es in den letzten Jahren starke patriotische Signale aus Volk und Polizei, die es sogar in die ostdeutschen Systemmedien geschafft haben!"  

Donatus Landgraf von Hessen firmiert seit 2013 als Oberhaupt der Familie. Ein Interview lehnt er brüsk ab. Wütend konstatiert er, dass er die Remonarchisierung befürworte und die Aristokratie kaputtgespart werde. Als ich von der Darmstädter Linie des ehemaligen Herrscherhauses keinerlei Reaktion auf meinen Fragenkatalog erhalte, gebe ich diesen Teil der Recherche auf. Adel verpflichtet? Je nun, zu Auskünften jedenfalls nicht.  

Anlässlich des Sommerfests werde ich erneut in die Parteizentrale eingeladen. Frank Rennicke spielt ein Medley seiner größten Hits wie "Mädel, erzähl' vom BDM", "Adi war a g'scheider Bua" und "Gezeugt nach Deutschem Reinheitsgebot". Kinder, die auffällig oft Uwe oder Beate heißen, freuen sich ebenso über die Hüpfburg wie die sportbegeisterten Arminia-Burschenschaftler. Liedermacher Rennicke unterbricht seinen Singsang und weiß mit einem Gedicht zu überraschen: "Freie Sachsen Hessen / Lasst uns trinken, lasst uns essen / Ihr habt es zuerst erkannt / Deutschland, einig Vaterland / Drum lasset die Verbindung wachsen / Königreich Kurhessen-Sachsen." Die Schwibbögen erscheinen im urbanen Ambiente ähnlich deplatziert wie Stephanie Fürniß in ihrer Bergmannstracht. Nach der niederschmetternden Kommunalwahl propagiert die Hundetrainerin aus Nürnberg seit neuestem die sächsische Leitkultur als Exportgut: "Jetzt machen wir rüber! Unsere Treuhand wird Treufaust heißen. Treufaust des Ostens! Wir werden jeden Betrieb zerschmettern, der nicht ausschließlich auf großdeutschem Boden produzieren lässt!" Sie wirkt weniger fanatisch als erwartet. Bevor ich antworten kann, zieht mich Dr. Ficker weg und bedeutet mir, dass nun der Gründungsvorsitzende Martin Kohlmann für mich Zeit habe. Kohlmann ist Stadtrat in Chemnitz, Anwalt und ein (Kohl-)Mann, der Begriffe wie Early Installment Weirdness, Extrameile oder Feedbackloop verwendet, um den aktuellen Zustand der "Freien Sachsen" zu beschreiben. "Im ersten Step gilt es, die Achse Sachsen-Thüringen-Hessen zu stärken. Hierfür habe ich ein All-Hands-on-Deck-Meeting für den Tag der Deutschen Einheit angesetzt." Donatus von Hessen habe bereits seine Teilnahme zugesagt. Martin Kohlmann spricht jetzt leiser, er beugt sich zu mir: "Ich werde in den Adelsstand erhoben." Als ich über diesen vermeintlichen Scherz herzlich lache, verdunkelt sich seine Miene. Er bezeichnet mich als "Bürgi-Nazi mit Privilegienphobie" und verschwindet im VIP-Bereich.  

Als ich gehen will, weil ich zu besoffen bin, spricht mich "Kultbürgermeister" Peter Feldmann an. Seine Erbtante Hilfrida sei stolze Sächsin, er erzählt mir von seiner Faszination für das "widerborstigste Bundesland". Mit einigem Erstaunen muss ich zur Kenntnis nehmen, dass auch dem Frankfurter OB ein Adelstitel versprochen wurde. Erst an diesem Punkt begreife ich die perfide Strategie der "Freien Sachsen Hessen": Verdiente Parteisoldat*innen, hessische Würdenträger*innen und andere Promis sollen mit der Nobilitierung gelockt werden. Ich bekomme es mit der Angst zu tun, obschon ich bekennender Royals-Fan bin. Wird hier die gesundheitliche Schwäche der Queen als blinder Fleck der europäischen Noblesse ausgenutzt? Feldmann schwadroniert in all seiner kleinbürgerlichen Einfältigkeit von der "prophetischen Serie 'Downton Abbey '". Wenn bald der Russe vor der Tür stünde, brauche es fähige Herrscher, die ihn hereinließen. Diesmal beende ich das Gespräch, was einigen Gästen missfällt: Jürgen von der Lippe und Frank Thelen schütteln den Kopf. Frankfurts Polizeipräsident Müller droht mir mit Festnahme, aber Florian Schroeder kann ihn mit einem Impulsvortrag über Hegel (und warum dieser heute hier wäre) ablenken.  

Zum Abschluss stelle ich Spindoctor Ficker noch eine Frage, die mir auf der Seele brennt: Warum wurde nicht der Einfachheit halber "Freie Hessen" als Name gewählt? Der PR-Profi begründet dies recht banal mit der bereits etablierten Marke der "Freien Sachsen" – sein Wissen darüber habe er aus Jung-von-Matt-Webinaren. Als ich mir dann doch noch ein Bier holen will, stellt mir Sahra Wagenknecht, welche ich von einem früheren Treffen persönlich kenne, ein Bein. Sie outet mich als TITANIC-Reporter, woraufhin mich Oskar Lafontaine anspuckt und Martin Hinteregger (FPÖ) vergeblich versucht, mich umzugrätschen. Ich rufe Hinti noch zu, dass er langsam geworden sei und schlendere hernach gemütlich von dannen.  

Martin Weidauer

 

 

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Die Frage, weshalb Joe Biden in seinem hohen Alter noch mal für das Präsidentenamt kandidiert, anstatt sich zur Ruhe zu setzen, kommentieren Sie so: »Warum muss man eigentlich loslassen? Wenn man etwas gerne macht, wenn man für etwas lebt, dann macht man halt weiter, soweit man kann. Ich schreibe meine Bücher, weil es mir Spaß macht und weil ich nicht Golf spielen kann. Und irgendwie muss ich mich ja beschäftigen.«

Daran haben wir, Wickert, natürlich nicht gedacht, dass der sogenannte mächtigste Mann der Welt womöglich einfach keine Lust hat, aufzuhören, auch wenn er vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe ist. Dass ihn das Regieren schlicht bockt und ihm obendrein ein Hobby fehlt. Ja, warum sollte man einem alten Mann diese kleine Freude nehmen wollen!

Greifen Sie hin und wieder doch lieber zum Golfschläger statt zum Mikrofon, rät Titanic

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

 Weiter so, uruguayischer Künstler Pablo Atchugarry!

Eine angeblich von Ihnen geschaffene Bronzeskulptur im englischen Cambridge soll an Prinz Philip erinnern, der dort von 1977 bis 2011 Kanzler der Universität war. Allerdings wird das Kunstwerk, das im Auftrag eines reichen Bauträgers angefertigt wurde, von vielen als verunglückt empfunden und zieht seit nunmehr zehn Jahren Spott auf sich.

Dass Sie mittlerweile die Urheberschaft leugnen, um Ihr Renommee als Künstler zu schützen, ist zwar verständlich, aber aus unserer Sicht völlig unnötig. Wenn sich das Konzept durchsetzt, lästige Promis, die uns über Jahrzehnte viel Zeit, Geld und Nerven gekostet haben, mit langlebigen Schrott-Monumenten zu schmähen, werden Sie sich vor Aufträgen bald kaum noch retten können. Und das Beste: Weil andere Großkopferte sich mit ihren Eskapaden zurückhalten würden, um nicht von Ihnen verewigt zu werden, sorgten Sie auch noch für Ruhe und gesellschaftlichen Frieden.

Hofft, dass dieser Vorschlag einen Stein ins Rollen bringt: Titanic

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

 Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Im andalusischen Sevilla hast Du eine Kontroverse ausgelöst, der Grund: Auf dem Plakat für das Spektakel »Semana Santa« (Karwoche) habest Du zu freizügig ausgesehen, zu erotisch, ja zu hot!

Tja, und wie wir das besagte Motiv anschauen, verschlägt es uns glatt die Sprache. Dieser sehnsüchtige Blick, der kaum bedeckte anmutige Körper! Da können wir nur flehentlich bitten: Jesus, führe uns nicht in Versuchung!

Deine Dir nur schwer widerstehenden Ungläubigen von der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 Gebt ihnen einen Lebenszyklus!

Künstliche Pflanzen täuschen mir immer gekonnter Natürlichkeit vor. Was ihnen da aber noch fehlt, ist die Fähigkeit zu verwelken. Mein Vorschlag: Plastikpflanzen in verschiedenen Welkstadien, damit man sich das Naserümpfen der Gäste erspart und weiterhin nur dafür belächelt wird, dass man alle seine Zöglinge sterben lässt.

Michael Höfler

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
08.05.2024 Wiesbaden, Schlachthof Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
09.05.2024 Zürich, Friedhof Forum Thomas Gsella
09.05.2024 München, Volkstheater Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
10.05.2024 Weil am Rhein, Kulturzentrum Kesselhaus Thomas Gsella