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"Sozialpolitik ist eine Sache für Profis"

Ein absoluter Fixpunkt der Sondierungen von SPD, Grünen und FDP ist die geplante Abschaffung von Hartz IV. TITANIC traf Malte von Landrut (FDP), Staatssekretär in spe im künftigen FDP-Sozialministerium und einer der Architekten des vielbeachteten Bürgergelds, welches die neue Grundsicherung werden soll, zum Interview.

TITANIC: Herr von Landrut, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für uns nehmen.

Landrut (wirkt abwesend und winkt dem Honorarkonsul von Weißrussland): Jaja, sehr gern. Ich bin nur froh, dass Sie keinen Waldspaziergang mit mir machen wollten. Das ist zu kalt!

TITANIC: Nun ja, dass wir uns stattdessen hier im Borchardt treffen, um über Hartz IV zu sprechen, wirkt doch etwas unpassend.

Landrut: Ich möchte einfach mal weg vom Hartz-IV-Schmuddelimage und der Erzählung des prekär beschäftigten Sozialpolitikers etwas entgegensetzen. Das ist so absurd wie Fußballer, die gegen ihren alten Verein nicht jubeln. In diesem Land muss es keinem schlecht gehen!

TITANIC: Wo Sie das gerade ansprechen: Aus der sogenannten Schmuddelecke soll auch die Grundsicherung raus. Das Bürgergeld könnte das System revolutionieren. Wie genau soll das geschehen?

Landrut: Also, zunächst wollen wir die Würde der Betroffenen wiederherstellen, indem wir auf diskriminierende Sprache verzichten. Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel anführen: Die nicht mehr zeitgemäß formulierte "Verminderung der Regelbezüge" wird zukünftig "Anreiz zum Aufraffen (AzA)" heißen. So wird das ALG II eine richtige Nummer Eins!

TITANIC: Aber ist das nicht Augenwischerei, wenn die Sanktionen trotzdem so bestehen bleiben?

Landrut (energisch): Na hören Sie mal! Wollen Sie mir ernsthaft weismachen, dass Sprache heutzutage nicht wichtig ist? Okay, Boomer! Aus welchem Jahrhundert kommen Sie denn? Dann ist es wohl auch Quatsch, wenn wir die "Kosten der Unterkunft" hinkünftig um "Aufwendungen für Townhäuser, Eigentumswohnungen und Wochenendgrundstücke" erweitern? Haben Sie ein generelles Problem mit Diversity?

Bevor wir antworten können, erhält Malte von Landrut eine SMS von Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt, der drei Tische weiter sitzt und ausdruckslos eine Wand anstarrt.

Landrut: Der Ulf wieder! Schreibt "Bitte nicht!". Ich vermute mal, er meint das Tempolimit. Da muss er sich keine Sorgen machen. Ganz einfach, weil man das Klima viel effektiver schützen kann, indem man Leute in Lohn und Brot bringt. Das spart Heizkosten! Eine unbequeme Wahrheit. Aber es ist eben unbequem, vom Couch-Potato zum Top-Performer zu werden. Der Akt des Aufstehens ist ein nachgerade schönes Bild für persönliches Wachstum.

TITANIC: Und wie wollen Sie das mit dem Bürgergeld schaffen?

Landrut: Es ist so einfach: Mit einer zeitgemäßen, schlanken und digitalen Verwaltung! Den Antrag kann man mit dem iPad (ab Jahrgang 2018) stellen. Das entbürokratisiert das angestaubte System gründlich. Ich zum Beispiel habe dermaßen viele Vornamen, da würde Copy & Paste einfach schon ganz pragmatisch weiterhelfen.

TITANIC: Mit Verlaub: Was nützt das jemandem, der mit den Regelsätzen nicht hinkommt?

Landrut: Die Regelsätze anzuheben wäre nichts als Gratismut. Und der Wähler hat ein gutes Gespür für Populismus! Dennoch wird es Erleichterungen geben, und zwar bei der Anrechnung von Vermögen. Wir erachten es als unsozial, wenn ein diversifiziertes Aktienportfolio, Immobilien ab 200 Wohneinheiten, Grundstücke ab drei Hektar, Yachten, Oldtimer oder Privatflugzeuge angerechnet werden. Wir wollen das Bürgergeld nicht zum Büttel der deutschen Neiddebatte verkommen lassen!

TITANIC: Apropos Aktien: Wie kommen Sie als ehemaliger Hedgefonds-Manager eigentlich darauf, Staatssekretär im Sozialministerium werden zu wollen?

Landrut: Ich denke einfach, dass erfolgreiche Menschen eine soziale Verantwortung haben. Man kann von Stützeempfängern nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen. Sozialpolitik ist eine Sache für Profis.

TITANIC (verbissen (in ein Stück Gratisbrot)): Aber was qualifiziert Sie?

Landrut: Meine Erfahrung mit Aktien. Ich denke, viele Hartz-IV-Empfänger haben Angst vor Investments. Da kann ich ganz persönlich Vorbild und helfende Hand zugleich sein! Ich habe auch als einfacher Uni-Abgänger angefangen und mich hochgekämpft. Natürlich passiert sowas nicht ohne Cleverness. Die fehlt vielleicht dem ein oder anderen Hilfebezieher!

TITANIC: Alles in allem sieht es so aus, als ändere sich nur die Bezeichnung der Grundsicherung. Natürlich widersprechen Sie da entschieden.

Landrut: Da kann ich nur zustimmen, also, dass ich da entschieden widerspreche. Das Bürgergeld plagt sich noch mit Kinderkrankheiten rum, aber wir glauben fest an eine Verbesserung für den deutschen Arbeitsmarkt. Natürlich steht die Würde an erster Stelle! Deshalb wird ein Teil der Leistungen an den DAX-Kurs gebunden sein. Und mit diesem Geld darf, übrigens ab einhunderttausend Euro Jahresgewinn sogar anrechnungsfrei, an der Börse spekuliert werden. So verbinden wir das Beste aus zwei Welten.

Landrut bedeutet uns, dass er schnell zum nächsten Termin müsse - in seiner Funktion als Business Angel der NoSleep gGmbH, die sich auf "Parkbänke mit Einzelsitzen zur Steigerung des individualisierten Urbanismus" spezialisiert habe. Das helfe im Übrigen auch, wohnungslose Menschen zu motivieren, nicht mehr wohnungslos zu sein. Der FDP-Shootingstar trinkt seinen 2009er "DOM RUINART BLANC DE BLANCS"-Champagner aus und rennt los, ohne zu bezahlen. Nachdem wir die Rechnung für insgesamt drei Getränke (1.455,99 €) beglichen haben, machen wir uns auf den Weg zum Hauptbahnhof.


Martin Weidauer

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Gute Frage, liebe »Süddeutsche«!

»Warum haben wir so viele Dinge und horten ständig weiter? Und wie wird man diese Gier wieder los?« teast Du Dein Magazin an, dasselbe, das einzig und allein als werbefreundliches Vierfarb-Umfeld für teuren Schnickschnack da ist.

Aber löblich, dass Du dieses für Dich ja heißeste aller Eisen anpackst und im Heft empfiehlst: »Man kann dem Kaufimpuls besser widerstehen, wenn man einen Schritt zurücktritt und sich fragt: Wer will, dass ich das haben will?«

Und das weiß niemand besser als Du und die Impulskundschaft von Titanic

 Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Im andalusischen Sevilla hast Du eine Kontroverse ausgelöst, der Grund: Auf dem Plakat für das Spektakel »Semana Santa« (Karwoche) habest Du zu freizügig ausgesehen, zu erotisch, ja zu hot!

Tja, und wie wir das besagte Motiv anschauen, verschlägt es uns glatt die Sprache. Dieser sehnsüchtige Blick, der kaum bedeckte anmutige Körper! Da können wir nur flehentlich bitten: Jesus, führe uns nicht in Versuchung!

Deine Dir nur schwer widerstehenden Ungläubigen von der Titanic

 Hej, Gifflar!

Du bist das Zimtgebäck eines schwedischen Backwarenherstellers und möchtest mit einer Plakatkampagne den deutschen Markt aufrollen. Doch so sehr wir es begrüßen, wenn nicht mehr allein Köttbullar, Surströmming und Ikeas Hotdogs die schwedische Küche repräsentieren, so tief bedauern wir, dass Du mit Deinem Slogan alte Klischees reproduzierst: »Eine Schnecke voll Glück«? Willst Du denn für alle Ewigkeiten dem Stereotyp der schwedischen Langsamkeit hinterherkriechen? Als regierten dort immer noch Sozialdemokraten, Volvo und Schwedenpornos?

Damit wirst Du nie der Lieblingssnack der Metropolenjugend!

Sagen Dir Deine Zimt- und Zuckerschnecken von Titanic

 Clever, »Brigitte«!

Du lockst mit der Überschrift »Fünf typische Probleme intelligenter Menschen«, und wir sind blöd genug, um draufzuklicken. Wir lernen, dass klug ist: wer mehr denkt, als er spricht, wer sich ungeschickt im Smalltalk anstellt, wer sich im Job schnell langweilt, wer sich mit Entscheidungen schwertut, wer bei Streit den Kürzeren zieht und wer ständig von Selbstzweifeln geplagt wird.

Frustriert stellen wir fest, dass eigentlich nichts von alledem auf uns zutrifft. Und als die Schwachköpfe, die wir nun einmal sind, trauen wir uns fast gar nicht, Dich, liebe Brigitte, zu fragen: Waren das jetzt nicht insgesamt sechs Probleme?

Ungezählte Grüße von Deiner Titanic

 Hallihallo, Michael Maar!

In unserem Märzheft 2010 mahnte ein »Brief an die Leser«: »Spannend ist ein Krimi oder ein Sportwettkampf.« Alles andere sei eben nicht »spannend«, der schlimmen dummen Sprachpraxis zum Trotz.

Der Literatur- ist ja immer auch Sprachkritiker, und 14 Jahre später haben Sie im SZ-Feuilleton eine »Warnung vor dem S-Wort« veröffentlicht und per Gastbeitrag »zur inflationären Verwendung eines Wörtchens« Stellung bezogen: »Nein, liebe Radiosprecher und Moderatorinnen. Es ist nicht S, wenn eine Regisseurin ein Bachmann-Stück mit drei Schauspielerinnen besetzt. Eine Diskussionsrunde über postmoderne Lyrik ist nicht S. Ein neu eingespieltes Oboenkonzert aus dem Barock ist nicht S.«

Super-S wird dagegen Ihr nächster fresher Beitrag im Jahr 2038: Das M-Wort ist ja man auch ganz schön dumm!

Massiv grüßt Sie Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

 100 % Maxx Dad Pow(d)er

Als leidenschaftlicher Kraftsportler wünsche ich mir, dass meine Asche eines Tages in einer dieser riesigen Proteinpulverdosen aufbewahrt wird. Auf dem Kaminsims stehend, soll sie an mich erinnern. Und meinen Nachkommen irgendwann einen köstlichen Shake bieten.

Leo Riegel

 Im Institut für Virologie

Jeder Gang macht krank.

Daniel Sibbe

 Vom Feeling her

Es hat keinen Sinn, vor seinen Gefühlen wegzulaufen. Man muss sich schon auch mal hinter einem Baum verstecken und warten, dass die das nicht merken und an einem vorbeiziehen, sonst bringt das ja alles nichts.

Loreen Bauer

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Neulich musste ich im Traum etwas bei Wikipedia nachschlagen. So ähnlich, wie unter »Trivia« oft Pub-Quiz-Wissen gesammelt wird, gab es da auf jeder Seite einen Abschnitt namens »Calia«, voll mit albernen und offensichtlich ausgedachten Zusatzinformationen. Dank Traum-Latinum wusste ich sofort: Na klar, »Calia« kommt von »Kohl«, das sind alles Verkohl-Facts! Ich wunderte mich noch, wo so ein Quatsch nun wieder herkommt, wusste beim Aufwachen aber gleich, unter welcher Kategorie ich das alles ins Traumtagebuch schreiben konnte.

Alexander Grupe

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg