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Vorwärts immer

Niemand weiß, wer oder was sie ist, aber alle wissen: Sie ist es. Der heiße Scheiß. Der Spaß von morgen. Die Zukunft von Mau-Mau, Counter-Strike und wie die anderen langweiligen Spiele deiner Jugend hießen. Die Rede ist natürlich von Virtual Reality, die sich in den letzten Jahren immer weiter aufgemacht hat, unsere Wohnzimmer zu erobern. Auf dem Messegelände in Nürnberg findet in diesem Jahr zum dritten Mal die VRiends, Deutschlands größte Messe für digitale Kultur, statt. Babsi Ordinaireteur hat nachgeschaut, was hinter dem Hype steckt.

Eine Messe, wie aufregend! Messe, das heißt Menschen kommen zusammen, um sich anzuschauen, was zurzeit für sie noch nicht erreichbar ist, aber es vielleicht irgendwann sein wird. Der Fortschritt in all seinem Prunk ist für einige Sekunden auch scheinbar in Reichweite deiner und meiner Hände, bevor er wieder sorgfältig verpackt und den Leuten, die es sich leisten können, bis direkt an den Büroschreibtisch geschleppt wird, damit sie es wirklich kaufen. Messe heißt auch: Menschen wollen staunen. In der Sonne vor dem Nürnberger Messegelände ist gleich abzusehen, wer die Menschen sind, die von VRiends angesprochen werden: Es sind die Gamer, die sich nicht mit dem sozial isolierten Status ihrer Community abfinden wollen, die – der eigenen Meinung nach – auch etwas besser als andere Gamer sind, die High Society der digital nomads. Hawaiihemden zum Bürojackett, Pferdeschwanz zum weißen Hemd, hochgerollte Socken in neuen Timberlands: Alles ist erlaubt.

Während ich noch eine Zigarette vorm Eingang rauche, komme ich mit zwei von ihnen ins Gespräch. Sven S. und Svenson S. arbeiten im selben Start-up, das sie zusammen mit ihrem Kumpel Svent S. gegründet haben. Kennengelernt haben sie sich während des Studiums, Svenson hat Aqua-Hyper-Informatik studiert, Sven International Business Administration. Ihrer Meinung nach hat VR mit Gaming, wie wir es kennen, sehr wenig zu tun: "Ne, also das kann man so gar nicht sagen. Gaming ist ja eher so eine Art Entertainment, ein Hobby halt. Bei VR geht es um mehr, um halt den Lifestyle, um die Zukunft, um...", "... die Inspiration und die Kraft, sich selbst zu verwirklichen", wie Svenson ergänzt. Der junge Mann kratzt sich verlegen an der Halbglatze. "Also wissen Sie, früher hab ich 'ne Menge Datingsimulatoren gezockt, weil ich, na ja, halt nicht so kann mit… Also auf jeden Fall hat mir das nie was geholfen. Seit ich in meiner Oculus so richtig experiencen kann wie Dating ist, hat sich da auf jeden Fall viel geändert bei mir." Sein Freund fährt fort: "Eben, es geht um Erfahrung, Muskelgedächtnis, all sowas. Da können herkömmliche Endgeräte eigentlich gar nicht mit verglichen werden." "Ja, auf jeden Fall! Ich kriege da eine Datingerfahrung, die ist besser als alles, was es in der Realität geben kann. Also die Fo... äh, die Frauen, die sind so echt, aber gleichzeitig viel besser als so reale Frauen. Ich brauch halt einfach keine von denen mehr, das hätte mir ein Computer nie geben können – VR hat echt mein Leben verändert."

Ein Satz, wie ich ihn an diesem Tag noch öfter hören werde. Eingeschlagen hat die Technologie wie ein Blitz in einem weit entfernten Waldstück. Alle kennen eine, die wen kennt, der mal mit einem zusammen war, der in einer VR-Bar war – und das war voll krass!! Eigentlich sollte es also kein Wunder sein, dass allmählich auch die ersten abgehängten politischen Organisationen die unförmigen Brillen für sich entdecken. Trotzdem bin ich ein bisschen überrascht, als keine hundert Meter den ersten Gang hinunter ausgerechnet Attac mit einem Stand vertreten ist. Betreut wird dieser von Sonja, die zurzeit ein Praktikum bei der renommierten Organisation für Protestparalyse macht. Als ich sie frage, was denn Attac mit virtuellen Realitäten zu tun habe, beginnt sofort ein gut einstudiertes Skript zwischen den Lippen der jungen Kulturwissenschaftlerin hervorzubrechen: "Wir bei Attac wussten schon immer, dass in sich ändernden Zeiten sich auch die Protestformen ändern müssen. Deshalb war uns klar, dass wir nicht länger nur die sozialen Medien unsere Kampagnen bewerben müssen, sondern die Menschen direkt über unsere Endgeräte Teil der Kampagne werden lassen müssen. Dazu haben wir SEA entwickelt – Simulate, Educate, Agitate, das erste Protest-Netzwerk in der VR." 

Die Idee ist ganz einfach: Um den notorisch schlecht besuchten Demonstrationen beizukommen, werden diese nun zu virtuellen Nachbauten realer Orte verlagert. Damit können ganz einfach Menschen von überall auf der Erde an den Protesten teilnehmen. Sonja zeigt auf einen Mann, der in einer kleinen Box hinten sitzt und gerade mit der linken Faust in der Luft wedelt. "Hier, das ist Klaus, der gerade direkt in Beijing gegen die Unterdrückung der Uiguren protestiert." Sie schaut kurz auf einen Bildschirm. "Er ist jetzt schon Level 5, drei Level noch, dann muss der Staat anfangen Konzessionen zu machen." Dabei geht es darum, die Leute zu vernetzen und zu trainieren: "Erfahrungswissen ist heute ganz wichtig! Wir denken, dass wenn die Leute zu Hause auf ihren Sofas merken, wie viel Spaß so ein Protest macht, sie auch wieder motivierter werden, das in der Realität zu machen."

Hierzu ist auch das zweite Feature der Software gedacht: Der digitale Solidaritätsbrief. In einer erschreckend echten Simulation eines studentischen Zimmers schreiben die User einen Brief an virtuelle Dissident*innen, die in der Türkei im Gefängnis sitzen. Die Briefe werden dann vom Programm auf Empathie und Solidarität bewertet und sollen so helfen, die Hemmschwelle zu einem solchen Brief zu senken. Plötzlich scheint bei Klaus etwas nicht in Ordnung zu sein. Der Mann im blauen Attac-Shirt fuchtelt abwehrend mit den Händen, lässt sich dann ganz klein auf den Boden fallen und wimmert. Sonja schaut auf ihren Laptop, dann schüttelt sie den Kopf. "Oje, da wollte wohl wieder jemand Steine werfen. Uns ist sehr wichtig, dass virtuelle Proteste gewaltfrei bleiben, damit wir uns nicht auf das Level unserer Gegner herablassen – wer sich daneben benimmt, kriegt es ganz schnell mit der Polizei zu tun, die hat es auch im Spiel auf sich."

Bald ist es Mittag und Zeit für die große Enthüllung des Tages: Das schwedische Unternehmen Accl8 Solutions stellt seine heiß erwartete Software XanaDo! vor, eine beinahe fotorealistische Darstellung einer Großstadt. "Wir wollten eine Erfahrung schaffen, in der die Menschen sich und ihr Leben wiedererkennen. Deshalb gibt es in XanaDo! alles, was so zum großstädtischen Leben gehört: Kaufhäuser, Cafés, Bankfilialen, Bekleidungsgeschäfte oder Denkmäler", sagt Firmengründer Magnus Malmström, lässig im grauen Rollkragen, von der Bühne. Und tatsächlich: Was da hinter ihm auf der Leinwand passiert, ist täuschend echt: H&M, McDonald's, Footlocker, ein vage gotischer Dom. Es könnte wirklich fast jede europäische Großstadt sein und ist deshalb, so Malmström, auch schnell wandel- und anpassbar. "Es ist wie ein First-Life im Second-Life. Eine völlig neue Art, das Alltägliche zu erfahren!" Besonders spannend ist, wie neue Formen des Gamings ins Spiel integriert werden: Setzt man sich in ein Café, erscheint sofort ein Kellner, der die Bestellung aufnimmt und sonst zum Gehen auffordert. So sollen micro-payment-Anreize geschaffen werden, die zeitgleich die Realität so genau wie möglich imitieren. Auch mit einem Lootbox-Modell zum Beispiel in H&M wird in der Betaphase experimentiert, das neue Klamotten und Accessoires für den virtuell realen Avatar freischalten soll. "Gerade hier sind wir natürlich auf eine enge Zusammenarbeit mit den betreffenden Betrieben angewiesen, aber ich bin da zuversichtlich. There's nothing you can't do when you XanaDo!" wiederholt beseelt der Schwede den Produktslogan, der in dieser Sekunde auch über den Bildschirm schwebt und den Gameplaytrailer beendet.

Nachdenklich und beeindruckt laufe ich durch die Gänge. Es ist wirklich erstaunlich, wie neu das Alte hier wirkt. Und wie aufregend. Ich verspüre Lust einen Breuninger zu betreten, nur virtuell natürlich. Meine Augen streifen über die Stände, können sich nicht satt sehen an den Puzzlegames, Simulationen von Cockpits, Teammeetings und Golfplätzen. Überwältigend, die neue neue Zukunft, die die alte neue Zukunft anno 2011, oder wie diese staubigen Jahre heißen mögen, hinter sich lässt. Eine neue Welt, die es endlich schafft, genau so auszusehen, wie die alte immer sein sollte. Der Wahnsinn! Beglückt eile ich einige Stunden später in Richtung Redaktion, als mein Blick an einer Präsentation hängen bleibt, die ein perfektes Spiegelbild der von Attac zu sein scheint: Ein uniformierter Beamter mit VR-Brille auf dem Kopf schreit immer wieder "Hören Sie auf, sich der Verhaftung zu widersetzen!", während er mit voller Kraft vor sich in den leeren Raum tritt. Hinter ihm auf dem Bildschirm sehe ich eine vermummte Gestalt, die Klaus zum Verwechseln ähnlich sieht, auf dem Boden, das Gesicht – täuschend echt – schmerzverzerrt. Mit geübten Handbewegungen reißt der Beamte den animierten Demonstranten vom Boden und fixiert seine Arme auf dem Rücken, was vom Programm mit 1000 Punkten und einer Fanfare honoriert wird. Spielerisch die Wirklichkeit erfahren – was wie der Traum verschrobener Pädagog*innen klingt, wird auf den Bildschirmen der Messehalle für kurze Zeit bereits wahr. Gedankenverloren schaue ich den Männerkörpern, die sich die Stände entlang schieben, hinterher, bleibe mit den Augen an einem hängen, der eine wirklichkeitsgetreue Simulation einer Messe für digitale Kultur zeigt. Das ist sie also, diese Zukunft.

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ganz schön kontrovers, James Smith,

was Du als Mitglied der britischen Band Yard Act da im Interview mit laut.de vom Stapel gelassen hast. Das zu Werbezwecken geteilte Zitat »Ich feiere nicht jedes Cure-Album« hat uns jedenfalls so aufgewühlt, dass wir gar nicht erst weitergelesen haben.

Wir mögen uns nicht ausmalen, zu was für heftigen Aussagen Du Dich noch hast hinreißen lassen!

Findet, dass Provokation auch ihre Grenzen haben muss: Titanic

 Hä, »Spiegel«?

»Aber gesund machen wird diese Legalisierung niemanden!« schreibst Du in einem Kommentar zum neuen Cannabisgesetz. »Ach, echt nicht?« fragen wir uns da verblüfft. Wir waren bisher fest vom Gegenteil überzeugt. Immerhin haben Kiffer/innen oft sehr gute feinmotorische Fähigkeiten, einen gesunden Appetit und ärgern sich selten. Hinzu kommen die unzähligen Reggaesongs, in denen das Kiffgras als »Healing of the Nation« bezeichnet wird. All dies willst Du nun tatsächlich infrage stellen? Da lieber noch mal ganz in Ruhe drüber nachdenken!

Empfehlen Deine Blättchenfreund/innen von Titanic

 Verehrte Joyce Carol Oates,

da Sie seit den Sechzigern beinah im Jahrestakt neue Bücher veröffentlichen, die auch noch in zahlreiche Sprachen übersetzt werden, kommen Sie vermutlich nicht dazu, jeden Verlagstext persönlich abzusegnen. Vielleicht können Sie uns dennoch mit ein paar Deutungsangeboten aushelfen, denn uns will ums Verrecken nicht einfallen, was der deutsche Ecco-Verlag im Sinn hatte, als er Ihren neuen Roman wie folgt bewarb: »›Babysitter‹ ist ein niederschmetternd beeindruckendes Buch, ein schonungsloses Porträt des Amerikas der oberen Mittelschicht sowie ein entlarvender Blick auf die etablierten Rollen der Frau. Oates gelingt es, all dies zu einem unglaublichen Pageturner zu formen. In den späten 1970ern treffen in Detroit und seinen Vorstädten verschiedene Leben aufeinander«, darunter »eine rätselhafte Figur an der Peripherie der Elite Detroits, der bisher jeglicher Vergeltung entkam«.

Bitte helfen Sie uns, Joyce Carol Oates – wer genau ist ›der Figur‹, dem es die elitären Peripherien angetan haben? Tragen die Leben beim Aufeinandertreffen Helme? Wie müssen wir uns ein Porträt vorstellen, das zugleich ein Blick ist? Wird das wehtun, wenn uns Ihr Buch erst niederschmettert, um dann noch Eindrücke auf uns zu hinterlassen? Und wie ist es Ihnen gelungen, aus dem unappetitlich plattgedrückten Matsch zu guter Letzt noch einen »Pageturner« zu formen?

Wartet lieber aufs nächste Buch: Titanic

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Vom Feeling her

Es hat keinen Sinn, vor seinen Gefühlen wegzulaufen. Man muss sich schon auch mal hinter einem Baum verstecken und warten, dass die das nicht merken und an einem vorbeiziehen, sonst bringt das ja alles nichts.

Loreen Bauer

 Empfehlung für die Generation Burnout

Als eine günstige Methode für Stressabbau kann der Erwerb einer Katzentoilette – auch ohne zugehöriges Tier – mit Streu und Siebschaufel den Betroffenen Abhilfe verschaffen: Durch tägliches Kämmen der Streu beginnt nach wenigen Tagen der entspannende Eintritt des Kat-Zengarteneffekts.

Paulaner

 Back to Metal

Wer billig kauft, kauft dreimal: Gerade ist mir beim zweiten Sparschäler innerhalb von 14 Tagen die bewegliche Klinge aus ihrer Plastikaufhängung gebrochen. Wer Sparschäler aus Kunststoff kauft, spart also am falschen Ende, nämlich am oberen!

Mark-Stefan Tietze

 Mitgehört im Zug

»Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt!« – »Ja, aber das muss es ja nicht bleiben.«

Karl Franz

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg