Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: L'état et moi
„Wer ist wir? Ich nicht!“ – ich zitiere dieses goldene, dieses Poltsche Jahrhundertwort evendöll zu Tode, aber einmal im Jahr, wenn der Einheitsquatsch und -wahnsinn rollt, kann ich es gar nicht vermeiden.
Daß wir nämlich „vereint, aber nicht eins“ wären, wußte bereits im Februar eine nationale „Großstudie“ (Süddeutsche Zeitung), was, wenn man nur ein wenig darüber nachdenken mag, die Frage aufwirft, was diesseits der NSDAP daran erstrebenswert sein soll, als „Volk“ (Reinhard Müller, FAZ) unbedingt „eins“ zu sein. Der Angelsachse versteht das genausowenig; in seiner Sprache ist das, was bei uns „Volk“ ist, schlicht the people, im Plural, und wenn aus vielen eins wird, e pluribus unum, dann mit Blick auf den Verfassungsvertrag, auf den sich geeinigt zu haben das Kollektiv statuiert. In „unserem Land“ (Bild, kostenlose Einheits-Sonderausgabe, „Auflage: 42 Millionen“) ist das Kollektiv, wenn wir in Rechnung stellen, daß der Nationalfeiertag die kollektive Tatsache als solche feiert, dagegen Selbstzweck: Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern und Schwestern. Warum auch immer.
Abgesehen davon, daß derlei pathetisches Nationalgegrunze immer schon eine Lüge ist, weil es sehr große Brüder und sehr kleine Schwestern gibt und die großen Brüder mit den Fabriken die kleinen Schwestern in den Blaumännern zum Stempeln schicken, wenn die Aktionäre das wollen – ganz abgesehen von dieser Binsenwahrheit also: Ist der Wunsch, es sollten alle eins sein, nicht das glatte Gegenteil von Demokratie? Ist er nicht das Gegenteil der Behauptung, das Land sei ab sofort „bunt“? Hat nicht irgendein Soziologe eben irgendwo geschrieben, in Einwandergesellschaften wie den USA lasse man die Einwanderer nach ihrer Fasson selig werden und setze sie nicht unter den stillen Druck, sie müßten eins werden? „Wie WIR wieder WIR wurden“ (Bild): ist das nicht völkische Scheiße, mindestens autoritäre Anmaßung? Und wäre das einig Volk von Deutschen (oder sonstwem) nicht ganz sinnlos, wenn es kein Draußen gäbe, wider welches ein Kollektiv in Stellung gebracht werden kann?
„Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich.“ Hitler, 1938
Ich bin nicht wir. Ich bin nicht eins mit Springer. Ich bin weder eins mit Springers Alexander von Schönburg und der grotesken Lüge, es sei „sehr deutsch …, sich seiner Vergangenheit [zu] stellen, Verantwortung [zu] übernehmen“, noch mit der Unzahl „Prominenter“, die sich wie stets dem allervulgärsten volksgemeinschaftlichen Bedürfnis andient, noch mit Hellmuth Karasek, der in seinem kurz vor Ultimo verfaßten Literaturkanon („25 Bücher auf deutsch, die jeder gelesen haben sollte“) nicht einmal „Buddenbrooks“ richtig schreibt („Die Buddenbrooks“). Ich bin nicht eins mit den kranken Rasern in ihren kranken Panzern, die mich und andere von der Autobahn drängeln, ich bin nicht eins mit dem Pöbel, der, wenn er nicht gerade Panzer fährt, seine Satisfaktionsbedürfnisse „schichtenübergreifend“ (SZ) an wehrlosen Dienstleisterinnen befriedigt: „Fast-Food-Mitarbeiter beschreiben … eine Zunahme der Pöbelei. Eine ehemalige Aushilfskraft eines McDonald's-Restaurants in Donauwörth erzählt, wie Kunden ihre Softdrinks über den Tresen verschütten und brüllen, weil sie mitten in der Nacht kein Eis mehr kaufen können. Die Auszubildende einer Berliner Filiale von Burger King berichtet, Gäste in Warteschlangen würden rasch ausfällig: ,Willste mich verarschen, du Olle.’“ Und ich bin mit niemandem eins, der eine „Nation“ (Focus) benötigt, weil er spinnt oder einen Vorwand braucht, andere für sich springen zu lassen.
Denn – es ist ganz einfach –: Niemand ist „wir“, der kein Faschist ist. Ich wünsche einen individuellen Sonntag.
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