Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Gefahr gebannt
Ist das nun das Gute oder das Schlechte an meinem Beruf, daß es nie aufhört? „Beim G20-Gipfel folgte auf die naive Erwartungshaltung der Politik die untaugliche Taktik der Polizei“, und da hatte ich gestern schon zwei Gründe, nicht weiterzulesen; auch wenn die naive Erwartungshaltung immerhin weniger blödsinnig ist als die hohe Erwartungshaltung, die neulich den Beweis dafür antrat, daß es nicht nur nie aufhört, sondern sogar immer dümmer wird.
Aber daß unsere Liberalen jetzt langsam kritisch werden, weil es in Hamburg wohl nicht 500 halbtote Polizisten gewesen sind, sondern nur 30 erschöpfte; daß sie es für „nicht ausgeschlossen“ halten, „daß es Beweise für Brandsätze und andere gehortete Waffen am Ende nicht gibt und auf den Dächern der Schanze viel weniger Ausnahmezustand herrschte, als die Polizei annahm“ (die SZ bereits am 20.7.), was „im Rückblick ein deutlich weniger dramatisches Licht (…) auf die Gewalt aus den Reihen der Autonomen an jenem Abend“ würfe: geschenkt und egal. Denn genau neben dem Artikel vom Donnerstag war zu erfahren, daß Bayern ein neues „Gefährder“-Gesetz beschlossen hat, das es erlaubt, dunkle Elemente auch mal ein bißchen länger in Schutzhaft zu nehmen: „Bisher galt eine Höchstdauer von zwei Wochen, die nun völlig aufgehoben ist. Alle drei Monate muß die Haft von einem Richter überprüft werden. Theoretisch können Betroffene so jahrelang im Gefängnis sitzen, ohne ein Urteil. (…) Das neue Gesetz bezieht sich aber nicht nur auf mögliche terroristische Anschläge. Es betrifft jeden Bürger. Bisher konnte die Polizei erst tätig werden, wenn eine konkrete oder eine unmittelbar bevorstehende Gefahr drohte. Jetzt aber kann die Polizei Personen schon vorher überwachen oder in Gewahrsam nehmen. Statt einer konkreten Gefahr braucht es zukünftig nur noch eine drohende Gefahr, eine von der CSU-Regierung neu geschaffene Kategorie. Für eine drohende Gefahr muß die Begehung einer Straftat nicht mehr konkret erkennbar sein. Es reicht aus, wenn die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet ist, daß in überschaubarer Zukunft eine Straftat begangen wird. ,Die effizienteste Abwehr von Gefahren ist doch, diese gar nicht entstehen zu lassen’, sagte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann, der schon bald an den Berliner Kabinettstisch wechseln will. Die Ausschreitungen beim G-20-Gipfel in Hamburg hätten gezeigt, daß man nicht zusehen dürfe, bis wirklich etwas passiere. Nicht der Staat bedrohe die Bürgerrechte, sondern ,Extremisten und Chaoten’.“
„Daher meine schärfste Abneigung gegen alle Spezialpolizeien, Sondergesetze, und andere ,zur Abwehr und zur Verteidigung der Verfassung’ nötigen Einrichtungen, Das ist stets von Übel und geht immer schief aus.“ Kurt Tucholsky, 3.12.1935
Zum Spiel gehört, daß Prantl schäumt (wenn auch nicht im Leitartikel, denn so wichtig ist die Sache nicht): „eigentlich unvorstellbar“, „Guantanamo“, „eine Schande für den Rechtsstaat“ und aber im Zweifel weniger Aufmerksamkeit erhält als, sagen wir, „Hörzu Wissen“ (aktuelle Ausgabe): „Wo Deutschland am gefährlichsten ist: Bandenkriege, Verbrecher-Clans, No-Go-Areas – die dunkelsten Orte unseres Landes“, und nun müßten wir schon eine sehr naive Erwartungshaltung haben, um das nicht für eine überaus taugliche Taktik der Faschisierung zu halten, die von den dunkelsten Orten unseres Landes (bayerische Staatskanzlei, Redaktion „Hörzu Wissen“*) ins vom Hamburger Verbrecher-Chaos ausgemalte Gefährder-Deutschland blickt, während es in der Türkei „wie in der DDR“ (Schäuble) zugeht. Und also nicht so gegenteilig herrlich wie bei uns: „Deutschland ist ein tolles Land. Es ist reich und schön und wunderbar“ (René Hoffmann, „Süddeutsche Zeitung“, 24./25. Juni).
Könnte freilich sein, daß es doch irgendwann aufhört. Und man Schwedisch lernen muß.
* Weiteres Thema dieser Ausgabe übrigens: "Wie die Mächtigen uns manipulieren". Jessesmariaundjosef. Falls nicht schon -joseph.
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