Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Nach Jahr und Tag
Es sagt viel, womöglich alles über die neue Zeit, daß Lego-Figuren, in meiner Kindheit noch selbstverständlich geschlechtsneutral, heute als lockenköpfige „Lego Friends“ mit Minirock und Einkaufstasche ein Jahrhundert der Emanzipation zu jenem Teufel schicken, der in den pinkfarbenen Regalmetern der Spielzeugabteilungen haust und per Spielzeugbügeleisen und Plastik-Dampfkochtopf unsere famos durchlässige Leistungseselgesellschaft als eine ausweist, die will, daß Frauen wissen, was zu tun ist, sollte die gesamtwirtschaftliche Lage gerade nicht genügend Karriereposten für beide Geschlechter bereithalten. Und es ist auch hier der Markt, der mit feinem Gespür für die allgemeine Ressentimentlage die Leute da abholt, wo zu stehen ihnen die Herrschaft anweist.
Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bzw. ihrer „Frankfurter Anthologie“ springt mir ein Gedicht entgegen („Nach Jahr und Tag“), das die vom seligen Reich-Ranicki protegierte, dabei kurios untalentierte Ulla Hahn verfaßt und auch gleich kommentiert hat: „Ein Waggon fährt vorbei / Er hat Kohle geladen // Männer links Frauen rechts / Zu den Kabinen im Freibad // Schuhe liegen auf einem Haufen / Im Sommerschlußverkauf // Haare werden geschnitten / Zu einer neuen Frisur // Menschen gehen ins Bad / Zum Baden // Ein Feuer brennt / Es wärmt // Rauch steigt auf / Eine Kerze verlischt“, fabelhafter Auschwitz-Kitsch mithin, zu dem der Dichterin die passend perfiden und immerhin ebenso hilflos formulierten Blödheiten eingefallen sind: „Was damals geschah, schlägt einem die Wörter in die Kehle zurück – und doch. Auch mit unserer kleinen Sprache müssen wir versuchen, das Un-Faßbare in Worte zu fassen.“ Denn der Zweck, Millionen Ermordete mit den Mitteln des Kunsthandwerks für die nationale Lesebuchkultur in Dienst zu nehmen, heiligt noch die sprachlichen Mittel, die nicht und nicht zur Verfügung stehen („Wörter, aus dem Rasseln der Waggons geformt“ – so strukturell unmöglich klingt's dann auch).
Enthalten ist, informiert uns die bibliographische Angabe, das Artefakt nicht nur in Hahns „Gesammelten Gedichten“ (877 S.!), sondern auch in dem bei Reclam erschienenen Band „Spring ich durch den Feuerreifen. Lyrik für Mädchen“, und wo es schon nicht einleuchten will, daß es in Jungsbüchern um Fußball, in Mädchenbüchern um Pferde gehen muß, ist „Lyrik für Mädchen“ die ungleich gröbere Verlade: denn Lyrik ist nicht männlich oder weiblich, sondern Kunst oder nicht, und wenn wir dem Titel des Bandes trauen, dann wird, in früher zielgruppendynamischer Konditionierung, jungen Leserinnen gefühliges Frauenpower- und Betroffenheitsverswerk als ihnen gemäßes angedreht, statt Gedichte nach ihrer Tauglichkeit für Jugendliche beiderlei Geschlechts auszusuchen. Wenn die Jungs dann trotzdem lieber Fußball spielen, selber schuld.
„Solange ihre Bücher einer sogenannten Frauenliteratur und nicht der Literatur zugeordnet werden, solange sie nicht nach den üblichen kritischen Normen und ästhetischen Kriterien, sondern im Hinblick auf das bewertet werden, was von Männern als weiblich betrachtet wird, fühlen [Frauen] sich aufgrund ihrer biologischen Merkmale in ein Ghetto gedrängt, wo sie nicht anerkannt, sondern lediglich geduldet werden.“ Gisela Elsner, 1983
Es versteht sich, daß der Band von zwei wohlmeinenden Damen erstellt worden ist, deren engagiert-blinde Gender-Betulichkeit sich tautologisch im Klischee verhakt: Denn wo Mädchen sowieso mehr lesen als Jungs, dient „Lyrik für Mädchen“ nicht einer Förderung, die es nicht braucht, sondern der Stigmatisierung „weiblicher“ Lyrik und ihrer reibungslosen Überweisung an weibliche Empfänger, was so stereotyp und reaktionär ist wie Spielfiguren mit Lockenkopf und Einkaufstasche.
Im übrigen liest und hört man in adoleszenten Jahren genügend Unsinn; da muß es nicht auch noch Ulla Hahn sein.
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