Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück: Hartz IVff.
Der Kapitalismus mit seinem Drang nach und seinem Zwang zu mehr und mehr und immer mehr ist eine absurde Quatschveranstaltung, die die Majorität seiner Insassen in Stupidität und Armut schickt. Woher ich das habe? Aus dem berüchtigten Linksblatt Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Im Kapitalismus ist nicht immer Weihnachten, und schon gar nicht für alle, aber Weihnachten ist immer ganz besonders viel Kapitalismus. Zu keinem Anlaß wird mehr sinnloses Zeug angeboten und gekauft, und das will etwas heißen, schöpft doch die Wachstumswirtschaft ihr Wachstum ohnehin vor allem daraus, daß sie in Menschen Wünsche nach Dingen weckt, von denen die zuvor noch gar nicht wußten, daß sie sie jemals hegen würden“, benennt der Soziologe Welzer den Dreh- und Angelpunkt der „spätkapitalistischen Absurditätskultur“, und Kulturredakteurin Melanie Mühl, 37, hat Angst vor dem Alter und nämlich „kein Vermögen. ,Wenn Sie 67 sind‘, sagt der Vermögensberater, ,sollten Sie, damit Sie entspannt auf Ihr restliches Leben blicken können, das laut Statistik dann noch voraussichtlich zwanzig Jahre dauert, 500 000 Euro gespart haben.‘ Er greift zum Taschenrechner. „Sie müßten heute also 100000 Euro in Wertpapierform angelegt haben. […]“ Aber woher soll dieses Geld kommen? Wer hat mit 37 Jahren 100000 Euro gespart? [...] Die meisten meiner Generation müßten in Panik geraten; aber wahrscheinlich sind sie zu beschäftigt damit, ihren Lebensunterhalt zu sichern, daß sie gar nicht bemerken, wie ihre Zukunft verramscht wird.“
Auch wenn es sich hier um entspannte FAZ-Verhältnisse handeln mag, die der Vermögensberater fürs Alter projektiert: „Die Karten liegen auf dem Tisch“ (Mühl), und weil das Bewußtsein, wenn auch bisweilen langsam, dem Sein folgt, lassen uns die Überbauarbeiter jetzt an ihren Einsichten teilhaben, die alt sind und ihnen aber neu vorkommen, weil man sich an den Platz auf der systemischen Ab- und Ausschußliste halt erst gewöhnen muß. Aber jeder kommt dran, und „Hartz IV“ ist ja nicht zuletzt deshalb zur Chiffre einer Zeitenwende geworden, weil es die Verliese der Existenznot auch für den bürgerlichen Mittelstand aufschließt: Ein Jahr arbeitslos, und die mittlere Führungskraft darf ihre Ersparnisse verfressen, und sind die weg, geht es in die Kriminalität, als welche die Schweinepresse die staatlich verordnete Armut propagandistisch aufbereitet, damit die Ohnmacht was zum (Selbst-)Hassen hat.
„Sprich auch du, sprich als letzter, sag deinen Spruch.“ Celan, 1955
Daß wir das alle wissen, wird aber nichts ändern, und weil es nichts ändern wird, dürfen wir es in die Zeitung schreiben, denn die Zeitung, egal welche, steht dafür ein, daß sich nichts ändern wird. (Süddeutsche, Leitartikel: Aufhören mit dem Pisa-Lärm; Feuilleton: Pisa ist idiotischer Wettbewerb um des Wettbewerbens willen; Titelthema freilich trotzdem: Hurra, deutsche Schüler rechnen immer besser!) Die (relative) Gedankenfreiheit im Feuilleton ermöglicht bloß die Täuschung darüber, daß der Geist wider den Ungeist noch was zu melden habe. Er hat es nicht. Und auch das steht in der Zeitung: „Britische Schüler“, hat der dortige Premierminister gefordert, „sollen künftig statt Französisch und Deutsch lieber Mandarin lernen … ,Das bedeutet, daß unsere jungen Leute die Sprachen lernen müssen, in denen die Wirtschaftsdeals von morgen gemacht werden.‘“ Damit der Vorzeigebourgeois und Großdealer Cameron auch morgen noch seinen Arsch an die Heizung drücken kann, welche 70jährige Wanderarbeiter in Shenzen, Sheffield oder Schweinfurt für ihn am Laufen halten.
(Es ist nicht sein kleinster Fehler, daß der Kapitalismus seine Karten immer so vulgär offen auf den Tisch legt.)
PS in eigener Sache: "Hitler zum Totlachen" - über den Führer als deutsche Witzfigur diskutieren Leo Fischer, Hermann L. Gremliza, Lisa Politt und ich heute abend im Golem, Hamburg, Große Elbstr. 14.
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