Glanz und Elend des Kurtchen Sahne. Ein Wochenend-Fortsetzungsroman (34)
Der große runde Debattiertisch, der in dem hinteren Winkel der Extra Bar, der dem Kartentisch gegenüberlag, stand und über den ein Witzbold ein Kruzifix genagelt hatte (wenn auch womöglich schon zu Zeiten, da es den Debattiertisch noch nicht gab, wohl aber eine ausgefuchste Freude an Ironie und zwinker-zwinker), war eine Art Stammtisch des Intellektualnachwuchses, wobei Kurtchen nun nicht wußte, ob der Tisch für die späten Studenten und sonstigen analogen Bohèmiens, die in der Eckbank herumfläzten und Zigaretten rauchten, tatsächlich im Stammtischsinne reserviert war oder ob es eher der Zufall wollte, daß er, Kurtchen, da hinten nie wen anders sitzen sah als eben diese Truppe um den jungen Dr. Mangold, einen Literaturwissenschaftler ohne näher gekennzeichnete Beschäftigung, der immer im Winkel unter dem Heiland saß und, ganz wie der Herr bei seiner letzten Mahlzeit, irgendwelche Jünger um sich scharte. Jedenfalls sah es so aus, was genau da hinten verhandelt wurde, wußte Kurtchen nicht, es war ihm natürlich auch egal; einmal hatte Dr. Mangold etwas geschrien, das wie „Hegel“ klang, aber beschwören konnte Kurtchen das nicht, vielleicht war es auch „Eh egal“ gewesen. Viel mehr hätte ihn schon interessiert, woher die Herrschaften das viele Geld nahmen, daß sie in schöner Regelmäßigkeit gegen große Biere und Nußschnaps eintauschten, es schien wohl doch noch Reservate des Nicht-Prekariativen für die spätkapitalistische Geistesjugend zu geben, und das war ja zu begrüßen. Heute abend war der Debattiertisch leer, und eine halbe Minute lang war Kurtchen entschlossen, den Tisch nicht aus den Augen zu lassen, um die Stammtischthese eventuell falsifizieren zu können, aber er vergaß es gleich wieder.
Später – er hatte in der Zwischenzeit u.v.a. von den Steuerschulden des Wirtes, der Brustvergrößerungsoperation von dessen Frau und dem schwierigen Dreiecksverhältnis zwischen dem kleinen Mann mit rotem Kopf, der immer am Tresen lehnte und so lauthals lachte, daß er für ein Mittun am Kartentisch durchaus qualifiziert gewesen wäre, einer kleinen Frau mit Mittelscheitel und schlechten Zähnen, die ein türkisfarbenes Sweatshirt trug, wie es Kurtchen zuletzt vor zwanzig Jahren gesehen hatte, und dem „Borderline-Collie“ (Petra), den die Frau immer dabeihatte und der sich mit des kleinen Mannes Hundehaarallergie wohl nur in Grenzen vertrug, „deswegen trinkt er immer so viel, er sagt, es hilft ihm gegen das Jucken“, gehört – geriet Kurtchen an den Punkt, an dem man beginnt, den noch gar nicht beendeten Abend bereits erinnernd zu betrachten, ein sicheres Zeichen, daß es das für heute gewesen ist. Kurtchen, der kein Talent dafür besaß, aus laufenden Vorgängen mit Rücksicht auf eigene Bedürfnisse auszuscheren, gab sich keine Mühe mehr, ein Gähnen zu unterdrücken, dergestalt seinen sich nähernden Abgang vorbereitend und seinem Gegenüber zuliebe abfedernd. (wird fortgesetzt)