Dax Werners Debattenrückspiegel KW23
Liebe Leser:innen,
wenn es eine Sache gibt, die in den ersten 12 Juni-Tagen vollständig mein Leben bestimmt, dann das Neun-Euro-Ticket. Es ist für mich die WM 2006 als QR-Code in meiner DB Navigator App, mein Passierschein Richtung Freiheit, jawohl, vielleicht ist das Neun-Euro-Ticket in gewisser Weise der Mauerfall-Moment unserer Generation. Doch jede neu erkämpfte Freiheit hat ihren Preis.
Seit dem 1. Juni nutze ich jede verfügbare Minute, um mit dem Neun-Euro-Ticket irgendwohin zu reisen, viele meiner Zugfahrten ergeben sogar objektiv gar keinen Sinn. Meine Mission: Der Ein-Mann-Stresstest der Deutschen Bahn. So auch diese Woche. Freitagmittag, RE1 von Düsseldorf in Richtung Aachen: Eine Familie mit vier Kindern inklusive Kinderwagen macht Anstalten, zuzusteigen. Das Abteil ist jedoch schon überfüllt, der Zug hat schon einige Minuten Verspätung eingefahren und ein Pärchen (vermutlich erster Gen X Jahrgang), das allein schon gut 15 Prozent der Transportfläche mit ihren Trekkingbikes und Deuter-Wanderrucksäcken blockiert, brüllt den Vater der Familie mit hasserfüllten Blicken an. Ihre Position: Die Familie solle doch bitte den nächsten Zug nehmen, da dieser hier bereits überfüllt sei. Der Firnis der Zivilisation ist bekanntlich dünn, ich spüre, wie die beiden eine gewisse Lust an der Eskalation überkommt, auf jedes "Raus hier!" von ihm setzt sie ein "Ganz einfach!" nach, vielleicht planen die beiden ja gar keine Fahrradtour zum Dreiländereck Aachen, sondern beleben einfach ihre Beziehung neu.
Die Familie blieb ruhig, schraubte nicht noch weiter an der Eskalationsspirale und schaffte es trotzdem noch irgendwie zu uns in den Zug. Durch ihr besonnenes Verhalten boten sie den beiden Riesen-Arschlöchern einen gesichtswahrenden way out aus der Sackgasse namens spontan kulminierter Alltagsgewalt. Gut so. Dennoch zeigt diese Anekdote gleich dreierlei. Erstens: Entgegen der landläufigen Meinung sind Bahnfahrer:innen keineswegs automatisch die besseren Menschen. Ich habe den starken Verdacht, dass das Gen-X-Pärchen es im Prinzip nur der Gnade der späten Geburt verdankt, 1933 nicht mitmarschiert zu sein. Zweitens: Warum habe ich im entscheidenden Moment geschwiegen und verarbeite das Geschehene nun auf dem Rücken der von mir hochverehrten TITANIC-Leser:innen? Diese Frage ist ganz leicht zu beantworten: Ich hörte gerade eine spannende Stelle im Zeit-Verbrechen-Podcast mit Sabine Rückert und war nicht bereit, den Pause-Button zu hitten – möglicherweise eine gelungene Metapher für die seit Jahren voranschreitende Individualisierung und Entsolidarisierung in "der Gesellschaft".
Und drittens: Das Neun-Euro-Ticket bringt das System Bahn an die Belastungsgrenze. Es wird deswegen dringend Zeit, dass wir über eine sinnvolle Alternative zum Schienenverkehr nachdenken. Wir verfügen über ein starkes Autobahnnetz mitten in Europa: Warum probieren wir es nicht mit einer neuen Abwrackprämie und einem überarbeiteten Tankrabatt? Daran, dass die erste Fassung der Spritpreis-Senkungs-Offensive nur so halb funktioniert, trifft die FDP keine Schuld: Niemand hätte ahnen können, dass sich die Mineralölkonzerne den Tankrabatt einfach in die eigene Tasche stecken, statt an die Verbraucher:innen weiterzugeben. Wer anderes behauptet, lügt. Und wo sind eigentlich die anderen Parteien, wenn es um den Preiskrieg an der Zapfsäule geht? Von Tobias Hans hat man seit seinem Handy-Video vor der Aral-Tankstelle in St. Ingbert jedenfalls nichts mehr gehört.
Besitzt weder ein Auto noch Führerschein, versteht sich aber als nicht selbst betroffener Ally aller Autofahrer:innen: Dax Werner