TITANIC Gold-Artikel

Wie die Hofglucke einmal das Fest rettete

Eine fabelhafte Vorweihnachtsgeschichte von Daniel Sibbe

Selbst wenn Ochs und Esel nicht dazwischengebölkt hätten. Die Stimmung im Stall war ohnehin von vornherein versaut gewesen. Soeben hatte die alte Glucke angesetzt, den Tieren die neuen Hofregeln vorzugackern, die ihr und ihren aufgeschreckten Hennen zufolge zum wiederholten Male nötig waren, um laut Veterinäramt eine auf dem Gehöft seit Monaten bestialisch wütende Seuche zu bändigen. Augenblicklich erfüllte ein tierisch lautes Stimmengewirr aus Knurren, Fauchen und Gemecker die Scheune. Zähne wurden gefletscht.

___STEADY_PAYWALL___Unaufhörlich klapperte der Schnabel der Störchin im Stakkato. Mit einem wütenden Schnauben mahnte der lahme Zosse aus seiner Box heraus die tobende Meute rechts vor ihm so lange zur Ruhe, bis der Glucke niemand mehr über den Schnabel fuhr. Sie stellte klar: "Die Pandemie in ihrem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf." Bis in den Advent hinein sollten sich von Stund an nur noch die Alt- und Jungtiere zweier Verschläge beschnuppern. Die öffentlichen Tränken würden trockengelegt. Das Planschen im Teich werde untersagt. Reithalle und Koppel blieben geschlossen. Sich die Hufe machen zu lassen, stehe ab sofort unter Strafe. Nur geschoren werden dürfe auch weiterhin. "Das ist die größte Freiheitsbeschränkung in der Geschichte dieses Guts", muffelte der betagte Ochse, dem das opportunistische Frettchen wie stets beipflichtete.

Im Anschluss an ihre Zusammenrottung zog sich der Ochse mit dem Esel und einigen Schafen abseits des Schuppens zurück. Bereits Monate zuvor hatten sie ihrer Natur folgend auf das Geglucke des von ihnen als "Muttitier" verspotteten Leithuhns geschissen. Sie standen auch weiterhin dicht an dicht gedrängt auf der Weide, teilten sich sabbernd eine gemeinsame Futterraufe und machten sich über den Hofhund lustig, der plötzlich nur noch mit Maulkorb aus seinem Zwinger gelassen wurde. Mit etlichen schrägen Vögeln, darunter einigen Masthähnchen, die ihre unbeschwerte Jugend in Freiheit bedroht sahen, hatten Ochs und Esel einmal sogar vor dem Hühnerstall demonstriert. Begleitet wurden sie von einem dreckigen Dutzend dummer Nazischweine, die sich auf ihre Grunzrechte beriefen und sich nicht entblödeten zu versuchen, über die Hühnerleiter ins Innere zu gelangen. Dass sie zudem alle anderen Hoftiere als "Schlafschafe" beleidigten, nahmen selbst die Schafe billigend in Kauf. Dabei war doch ausgerechnet Oberschaf Wolle Wodarg ihr prominentester Fürsprecher.

Zwar schwante den Spatzenhirnen, dass die Glucke nur aus Sorge um die verkitschte Landlebenromantik einer Hofweihnacht so handelte. Aber Künstler wie die berühmte Weihnachtsmaus nagten bereits jetzt am Hungertuch. Und für das Krippenspiel sahen sie rabenschwarz, sollten sie das Kind im schweinekalten Stall noch nicht mal mit ihrem Atem wärmen dürfen. Von einem drohenden Beherbergungsverbot ganz zu schweigen - trotz bestehender Hygienekonzepte wie Suhle oder Katzenwäsche. Ochs, Esel und Schafe beschlossen, gegen die unmenschlichen Beschlüsse der Glucke zu klagen. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag, die Fährte einer sich auf Tierrecht verstehenden Spezies auf dem Gut aufzunehmen.

Am darauffolgenden Morgen jedoch fühlte sich der Ochse hundeelend. Zu nichts wollte er sich einspannen lassen. "Vielleicht kriegst du ja die Krippe", witzelte der Esel. Schnaufend ließ sich der Ochse auf seine Bäckle ins Stroh plumpsen und mümmelte missmutig auf ein paar Halmen Heu herum. Nicht nur, dass ihm sein Geruchssinn abhanden gekommen war (die Folge eines entzündeten Nasenpiercings aus wilden Kälbertagen). Erst gestern hatte er bei seinem Gequake gegen die Glucke bemerkt, dass alles, was ihm auf der Zunge lag, so recht kein Geschmäckle mehr haben wollte.

Während er mit brummendem Ochsenschädel noch darüber nachdachte, erschien ihm ein geflügeltes, goldgelocktes Wesen im Traum und sagte: "Ochse, Sohn Urochses, fürchte dich nicht, die Störchin als dein Weibchen zu dir zu nehmen; denn der Nachwuchs, den sie erwartet, ist vom Unheiligen Geist. Sie wird ein Junges gebären; ihm sollst du den Namen Björn geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen." Als der Ochse erwachte, tat er, was der Greif ihm befohlen hatte, und nahm seine Störchin zu sich. Ihm war warm ums Herz. Hochfiebrig und delirierend wurde er vom Esel zur völlig überlaufenden Hofpraxis von Dr. med. vet. Hasenbein gekarrt, der ihn gleich unter seine Fittiche nahm. "Was für ein Rinderwahnsinn!" schrie der Esel, bekam die Ohren lang gezogen und wurde mit Alu-Eselskappe in die Ecke geschickt.

Die nächste Zeit wusste der zwischen saftigem Grün und Abdecker schwebende Ochse in seiner Krankenbucht nicht, wie ihm geschah. Inmitten des ihn umgebenen Gewinsels und Gejaules, des Gekrächzes und heiseren Gebells schnappte er immer wieder die Worte "Intensivveterinärmedizinische Behandlung", "Vollbelegung", "Bolzenschussgerät" und "Ochsenschwanzsuppe" auf. Während sich das Gehöft allmählich zu einer verkitschten Landlebenromantik von Hofweihnachten herausputzte, bangten der Esel und die Schafe um ihren kastrierten, väterlichen Freund. Was war die lebende Krippe ohne seine animalische Anziehungskraft schon wert?

Doch kurz vor seiner Verlegung als Risikopatient auf einen abgeschotteten Gnadenhof geschah das Weihnachtswunder. Endlich wurde ein Intensivstrohlager frei. Aufgrund der von der Glucke angeordneten Kontaktreduzierung war das Infektionsgeschehen innerhalb der Hofgemeinschaft kontrollierbar geworden. Die Seuche war nicht erneut auf das anliegende Schlachthaus übergesprungen, sodass dort in Akkordschichten bienenfleißig und wieselflink weitergearbeitet werden konnte. Die deutliche Reduzierung potentieller Neuaufnahmen hatte die vormals lausige Situation in der Hofpraxis merklich entspannt.

Dann war der Heilige Abend da. Ein Lichtermeer aus Glühwürmchen und Heizpilzen erfüllte den Stall. Fast alle Tierfamilien des Hofes waren glücklich miteinander vereint. Nur Mutter Gans war vor zwei Tagen spurlos verschwunden. Auf noch wackeligen Hufen stand der Ochse mit seinem transportablen Respirator lammfromm beim mopsfidelen Jesuskind-Laiendarsteller hinter einer Plexiglasscheibe und lauschte andächtig den ersten Worten der vorgetragenen Weihnachtsgeschichte: "Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Veterinär Wieler ausging, dass alle Welt maskiert würde. Und diese Maskierung war die allererste und geschah zur Zeit, da Merkel Statthalterin in Deutschland war. Und jedermann ging, dass er sich maskieren ließe, ein jeder in seine Stadt." Leise, ganz leise brummte der Ochse: "Danke Glucke!"

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Mmmmh, Thomas de Maizière,

Mmmmh, Thomas de Maizière,

über den Beschluss der CDU vom Dezember 2018, nicht mit der Linkspartei oder der AfD zusammenzuarbeiten, an dem Sie selbst mitgewirkt hatten, sagten Sie bei Caren Miosga: »Mit einem Abgrenzungsbeschluss gegen zwei Parteien ist keine Gleichsetzung verbunden! Wenn ich Eisbein nicht mag und Kohlroulade nicht mag, dann sind doch nicht Eisbein und Kohlroulade dasselbe!«

Danke für diese Veranschaulichung, de Maizière, ohne die wir die vorausgegangene Aussage sicher nicht verstanden hätten! Aber wenn Sie schon Parteien mit Essen vergleichen, welches der beiden deutschen Traditionsgerichte ist dann die AfD und welches die Linke? Sollte Letztere nicht eher – zumindest in den urbanen Zentren – ein Sellerieschnitzel oder eine »Beyond Kohlroulade«-Kohlroulade sein? Und wenn das die Alternative zu einem deftigen Eisbein ist – was speist man bei Ihnen in der vermeintlichen Mitte dann wohl lieber?

Guten Appo!

Wünscht Titanic

 Ciao, Luisa Neubauer!

»Massendemonstrationen sind kein Pizza-Lieferant«, lasen wir in Ihrem Gastartikel auf Zeit online. »Man wird nicht einmal laut und bekommt alles, was man will.«

Was bei uns massenhaft Fragen aufwirft. Etwa die, wie Sie eigentlich Pizza bestellen. Oder was Sie von einem Pizzalieferanten noch »alles« wollen außer – nun ja – Pizza. Ganz zu schweigen von der Frage, wer in Ihrem Bild denn nun eigentlich etwas bestellt und wer etwas liefert bzw. eben gerade nicht. Sicher, in der Masse kann man schon mal den Überblick verlieren. Aber kann es sein, dass Ihre Aussage einfach mindestens vierfacher Käse ist?

Fragt hungrig: Titanic

 Du, »Deutsche Welle«,

betiteltest einen Beitrag mit den Worten: »Europäer arbeiten immer weniger – muss das sein?« Nun, wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht, ewig und drei Tage überlegt, langjährige Vertraute um Rat gebeten und nach einem durchgearbeiteten Wochenende schließlich die einzig plausible Antwort gefunden. Sie lautet: ja.

Dass Du jetzt bitte nicht zu enttäuscht bist, hoffen die Workaholics auf

Deiner Titanic

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
19.04.2024 Wuppertal, Börse Hauck & Bauer
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt