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Pass, Pass, wir brauchen Pass!
Das illegale Geschäft mit den gelben Heftchen boomt. Waren es früher noch die mit handschriftlichen Interpretationshinweisen versehenen Reclam-Ausgaben der oberen Jahrgangsstufen, die hinter der Turnhalle der Penne heiß gehandelt wurden, finden derzeit falsche Impfpässe und Impfzertifikate im World Wide Darkweb reißenden Absatz. Bundesweit haben die Polizeibehörden im laufenden Jahr bereits mehr als 12000 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Trotz Booster-Status Grund genug für TITANIC-Investigativreporter Daniel Sibbe, sich die Gummiglatze überzustreifen und als Günter Wallraff verkleidet einem professionellen Impffälscher undercover einen Besuch abzustatten.
Köln-Ehrenfeld. Ein für das Viertel prägendes Dreifensterhaus mit Backsteinfassade. Das Namensschild verrät, dass ich mich bei der vereinbarten Adresse offenkundig nicht vertan habe: Mogli Schummler. Wider Erwarten empfängt mich an der Tür aber ein Original. Auf das zuvor festgelegte Klopfzeichen nebst Parole ("Frieden, Freiheit, keine Diktatur!") wird mir von einem spaßig aussehenden Mann mit schwarzer Rundbrille auf seinem großen Zinken, buschigen Augenbrauen und Schnauzbart geöffnet. Obwohl Schummler mit meinem Besuch gerechnet haben muss, wirkt er im ersten Moment ebenso verblüfft wie ich. Dem wortlosen Begrüßungsnicken folgt eine aufgrund seiner markanten Hasenzähne etwas schwer verständliche Aufforderung einzutreten.
Der erste Eindruck überrascht. Statt des erwarteten Holzimitats scheint die Wohnung komplett mit Parkett ausgelegt zu sein. Auch das Mobiliar ist unzweifelhaft authentisch. Mein Blick fällt auf einige herumliegende Unterhaltungsblättchen: Wahre Erlebnisse, Wahre Schicksale, Wahre Gefühle. Schummler bemerkt meine Irritation und versichert, dass ich bei ihm dennoch richtig sei. Das Erstellen falscher Papiere muss ein paradoxer Wirtschaftszweig sein. Auf meine Bitte hin, zumindest einen Identitätsnachweis vorzulegen, zückt Schummler ein dickes Kartenetui aus Kunstleder. BRRRRRRRRRRRRT. Die vielen, mit einer einzigen Handbewegung aufgefächerten Einsteckfächer sind gespickt mit Legitimationen aller Art: Perso, Führerschein, Reisepass, Organspendeausweis, DeutschlandCard, Immatrikulationsbescheinigung, Aufenthaltsgestattung zur Durchführung des Asylverfahrens, KNAX-Klub-Ausweis, Passierschein A38, Bonusheft vom Friseur, Siegerurkunde von den Bundesjugendspielen, Ariernachweis, Mutterpass und, und, und – alle ausgestellt auf den Namen Mogli Schummler.
"Echt viel!" zeige ich mich beeindruckt, argwöhne allerdings insgeheim, dass davon wahrscheinlich nicht viel echt ist. Immerhin verfügt Schummler über ein beachtliches Repertoire an vorzeigbaren Referenzen für sein Fälscherhandwerk.
Mit einem Mal werde ich der regelmäßigen Klack-Geräusche gewahr, die aus dem Untergeschoss zu uns in die Wohnstube hinaufdringen. "Ah, die Druckmaschine spuckt wohl schon die ersten Impfzertifikate aus, was?" lenke ich das Gespräch in die gewünschte Richtung meines vermeintlichen Anliegens. Den Wunsch, das gute Stück einmal sehen zu dürfen, schlägt mir Schummler jedoch hastig ab: "Nein, das ist … äh … das ist … das ist sozusagen Betriebsgeheimnis!" Der technische Aufwand sei in seinem Metier ohnehin nur unlauteres Mittel zum Zweck. Im Gegensatz zu etlichen anderen Kollegen aus der Branche, denen es nur um die schnelle Mark ginge, wäre er noch alte Gaunerschule und sähe sich bei der Ausübung seines Berufs vielmehr dem Kunstgedanken in der Tradition Wolfgang Beltracchis oder Konrad Kujaus verpflichtet. Wie zum Beweis schnappt sich Schummler ein weißes Blatt Papier und beginnt mit der Anfertigung einer aus dem Augenwinkel heraus abstrakten Tuschezeichnung. Dabei kommt er ins Erzählen. Den Hang zur Nachahmung hätte er dem Vernehmen seiner Eltern nach wohl schon als Baby gehabt und brav mitgegluckst, wenn sie ihn angelacht hätten oder bei jedem "Mach mal aaah!" die Fressluke schön weit aufgerissen. Später in der Pubertät habe er dann den Bienen weit weniger Interesse geschenkt als jeder Blüte. Und anders als die meisten seiner Landsleute hätte er sowieso niemals Mein Kampf Hitlers Tagebüchern vorgezogen, selbst wenn er ganz unten gewesen wäre.
Ich werde misstrauisch. "Ganz unten?" Sollte Schummler damit auf meine behelfsmäßige Maskerade anspielen und mich längst durchschaut haben? Ich beschließe, den Deal mit der gefakten Impfbescheinigung schnellstmöglich über die Bühne zu bringen. "Fertig!" Im selben Augenblick hält Schummler stolz sein Bild hoch. Mit viel Phantasie erinnert das mit tattriger Hand hindilettierte Geschmiere an die angedeutete Nachbildung eines QR-Codes. Ich markiere den Leichtgläubigen, erkundige mich nach dem Preis ("300 Euro cash in de' Täsch!") und frage erst gar nicht nach vergünstigten Konditionen bei zusätzlicher Abnahme eines gelben Impfheftimitats. Es naht der Augenblick, in dem Geld und G den Besitzer wechseln. "HA, ERWISCHT, IMPFBETRÜGER!" bölken wir uns bei der Übergabe unisono an. Schummler zerrt mir den Latexskalp vom Dez. Ich ziehe ihm die Zahnattrappe aus der Kauleiste, reiße ihm seine Spaßbrille samt Plastiknase vom Kopf und bin bass erstaunt. Hinter der albernen Verkleidung kommt das enttarnte Gesicht des echten Günter Wallraff zum Vorschein.
"Sie?" kommt es uns einmal mehr gleichzeitig von den Lippen, nur dass Schummler alias Wallraff diesmal ein zusätzliches "Wer sind..." davorsetzt. In dem kurzen, daraufhin einsetzenden Moment der Stille bemerke ich, dass das Klick-Klack, Klick-Klack, Klick-Klack im Keller aufgehört hat. Stattdessen erklingt hinter uns eine unbequeme Stimme: "Günter, kommst du gleich wieder runter?" Wolf Biermann steht plötzlich mit einem Tischtennisschläger in der Hand im Raum. Der falsche Schummler Wallraff ringt verzweifelt um Fassung: "Nein, nein, doch nicht jetzt, Wolf! Och menno, so'n Driss! Alexa, alle Überwachungskameras aus!" Auf die Ausstrahlung der Folge "Wolle Impfe kaufen? – Impfschwindlern auf der Schliche" von Team Wallraff – Reporter undercover werden die RTL-Zuschauer nun vermutlich noch eine Weile warten müssen.
Daniel Sibbe