Inhalt der Printausgabe

Last Exit Privatklinik

»Wir müssen das Ding (Anm.: die Depression) mal aus der Tabu-Ecke rausholen«, Kurt Krömer, »Das Thema muss in die Mitte der Gesellschaft weiterkicken«, Ronja von Rönne. Ja, über Depressionen zu informieren ist wichtig. Aber dient wirklich alles, was (ehemals) depressive Prominente dazu sagen, der Aufklärung? Sind Betroffene immer die besten Ratgeber? Und ist das Tabu um das Thema eigentlich wirklich noch so groß, wie häufig suggeriert wird? Das darf ganz vorsichtig infrage gestellt werden.

Krömer selbst schrieb ein Buch über seine Krankheit: »Ich wollte einfach meine Geschichte aufschreiben und in Zukunft nur noch auf dieses Buch verweisen. Ich finde das allemal besser, als bis zu meinem Lebensende Interviews darüber zu geben und immer wieder den gleichen Scheiß zu erzählen« – und sprach dann u.a. in seiner eigenen Talkshow »Chez Krömer«, bei Stern TV, bei »DAS!« (NDR), bei »3 nach 9«, bei der Lit.Cologne, mit dem Tagesspiegel und der Zeit über seine Depression – und das Buch. Das Werk mit dem Titel »Du darfst nicht alles glauben, was du denkst«, der zufällig so ähnlich klingt wie andere Titel zum Thema (z.B. »Wenn es noch geht, kann es nicht so schlimm sein«, »Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?«) schoss direkt nach Erscheinen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste und hält sich dort seit einigen Wochen (Stand Redaktionsschluss).

Auch Cathy Hummels, Mirja DuMont, Ronja von Rönne, Sophie Passmann und noch ein paar weitere sprachen und schrieben jüngst über Depressionen. Was das Promi-Krebsbuch der Nullerjahre war, so scheint es, ist in den 2020ern der Depressionswälzer. Doch nicht nur in Büchern ist das Thema präsent. Neben zahlreichen Talkshows dazu gibt es u.a. einen Podcast als Kooperationsprojekt der Deutschen Depressionshilfe und NDR Info, moderiert von Harald Schmidt, die Serie »The Mopes« mit Nora Tschirner und die Gala-Interviewreihe »Mental Health Matters«.

Vielen Formaten gemein ist, dass die Betroffenen darin ihren Aufklärungsauftrag sehr ernst nehmen. Kurt Krömer schreibt auf den ersten Seiten: »Vielleicht weißt du noch gar nicht, dass du depressiv bist und jetzt läuten bei dir die Glocken, wenn ich von meinen Symptomen erzähle: Schlafschwierigkeiten, Gereiztheit, Antriebslosigkeit und dann natürlich immer diese schwarze Wolke über dem Kopf, diese emotionale Leere.« Alles Symptome einer Depression, ja. Aber auch unspezifisch genug, um besonders viele Glocken läuten zu lassen, weil sie ebenso bei zahlreichen anderen Störungen (mit mehr oder weniger hohem Krankheitswert) auftreten können. Tatsächlich schildert Krömer an anderer Stelle, dass sein Insta-Kanal nach seinem »Outing« explodiert sei. »Ich komme mir vor wie ein Wunderheiler … das ist nur meine Geschichte, und die hilft jetzt schon unglaublich vielen Leuten, die mich anschreiben und sagen: Ich dachte, das wär meine Geschichte«. Ob alle, die meinen, sich in Krömers Krankengeschichte wiederzufinden, wirklich depressiv sind oder ob sie eine andere psychische Erkrankung haben oder ob vielleicht Hypochonder darunter sind, steht jedoch noch auf einem anderen Blatt. Und direkt geheilt wurde streng genommen durch den Verdacht, vielleicht depressiv zu sein, auch noch niemand. Leider.

So oder so rechnet Krömer nicht nur mit positiven Reaktionen: »Mir war ja klar, dass das auf Interesse stoßen würde, wenn ein Prominenter die Hosen runterlässt, ach was, wenn er komplett blankzieht … Es wird natürlich Menschen geben, die meine Geschichte zwar traurig, aber sicher auch wahnsinnig unterhaltsam finden, sich beim Lesen noch ein Bier aufmachen und die Chips holen und denken: ›Ist ja herrlich, wie elendig das Leben vom Krömer war.‹« Menschen, die mit der Chipstüte raschelnd Bier und Häme über einen vergießen, der sechs Stunden braucht, um Milch und Brot einzukaufen? Mag es vereinzelt geben. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass es von Depressiven gelesen wird, die Krömer darum beneiden, dass ihm in der psychiatrischen Klinik relativ schnell geholfen werden konnte. Dass er kein halbes Jahr auf einen Therapieplatz warten musste, sondern stattdessen mit dem Chefarzt aushandeln konnte, dass sein Klinikaufenthalt für eine zweiwöchige Fernsehaufzeichnung unterbrochen wird.


»Ich möchte nicht glücklich sein in Form einer Tablette!«
Cathy Hummels


Seine privilegierte Position erwähnt Krömer, der Auserwählte, natürlich selbst im Buch. Trotzdem: Wenn einer wie Krömer erzählt, er sei seit 30 Jahren depressiv, erzeugt dies dann nicht vielleicht auch einen gewissen Druck auf Depressive, irgendwie trotz der Krankheit noch Dutzende Projekte gewuppt zu kriegen und permanent abzuliefern?

Und mehr noch: Die Show »Chez Krömer« ist sogar auf Depressive zugeschnitten: »Mir ist in der Klinik erst klar geworden, dass ›Chez Krömer‹ ein absolut depressives Format ist. Ich musste echt einen depressiven Tag gehabt haben, als ich mir das ausgedacht hatte. Ist ja fürchterlich. Welcher nicht-depressive Mensch kommt auf die Idee, eine Fernsehsendung zu machen, in die man sich nur Leute einlädt, die man nicht leiden kann«. Mit Menschen, die man nicht mag, an einem Tisch sitzen, das muss man sonst nur bei Familienfeiern und Wohnungseigentümerversammlungen.

Apropos Klinik: »Wenn du in eine Klinik gehen kannst, das ist nicht wie in ›Einer flog übers Kukucksnest‹«, weiß Depressionsexperte Torsten Sträter in Krömers Sendung aufzuklären. Auch hier gibt es womöglich gar nicht mehr so viele Menschen, die das glauben. Egal, Sträter und Krömer unterstützen sich gegenseitig bei ihrem Bildungsauftrag. Sträter: »Du bist ein Hoffnungsträger für alle anderen. Wir sind jetzt schon zwei, die darüber reden.« Oder doch schon ein paar mehr (s.o.).

Ronja von Rönne, Autorin des Depressions-Bestsellerromans »Ende in Sicht« will mit Mythen zum Thema aufräumen, zum Beispiel in der Zeit: »Die Depression ist keine musische Begabung, nicht vergleichbar mit einem absoluten Gehör oder einem fotografischen Gedächtnis. Und die vielen Künstler, die unter ihr litten, haben nicht wegen, sondern trotz der Depression etwas geschaffen. Die Depression ist keine Inselbegabung«. Von einer »Inselbegabung« kann schon allein wegen der hohen Anzahl an Prominenten, die das Thema für sich entdeckt haben, nicht mehr gesprochen werden. Und dass eine Depression von vielen Menschen für eine Art musische Begabung oder fotografisches Gedächtnis gehalten wird, erscheint nicht unbedingt naheliegender. Der Vollständigkeit halber: Auch ein besonders ausgeprägter Geschmackssinn hat nichts mit einer Depression zu tun.

Influencerin Cathy Hummels, die bereits ihr zweites Buch zum Thema plant, hat in ihrem Bestseller »Mein Umweg zum Glück« ein paar Tipps für die Therapiesuche auf Lager: »Wenn ich mir einen Therapeuten wünsche, der pragmatische und handfeste Lösungen bietet, der kein Blatt vor den Mund nimmt, der direktiv sein kann und stark lösungsorientiert ist, dann ist ein ärztlicher Psychotherapeut in jedem Fall einen ersten Versuch wert. Bin ich aber jemand, der leicht kränkbar und sensibel ist, der lieber vorsichtig behandelt werden möchte und der vielleicht auch gerne mit dem Therapeuten durchsprechen würde, warum man selbst so geworden ist, wie man ist, dann ist eher ein psychologischer Psychotherapeut zu empfehlen«. Also Boomer ruhig ab zum ärztlichen Klartext-Psychotherapeuten, Generation Y vorsichtshalber lieber zum Psychologen!

Hummels ist nicht nur Depressionsexpertin, Influencerin, Spielerfrau und u.a. Werbegesicht für Hundeshampoo, sondern auch Co-Gründerin von Hye (»Dein Mental-Wellbeing Getränk«, »Drink positive«), einem Produkt mit fragwürdigen Inhaltsstoffen (sog. Nootropika, die auf das zentrale Nervensystem wirken sollen), das »gute Laune« und eine Verbesserung der kognitiven Funktionen verspricht. Für Hummels müssen es nicht immer gleich Antidepressiva sein. »Ich möchte nicht glücklich sein in Form einer Tablette!«, stellt sie im Talk bei Harald Schmidt klar. Wer wäre besser geeignet, einen »Mental Health Basiskurs« für Kinder und Jugendliche zu konzipieren, finanziert von Spendengeldern der Deutschen Depressionshilfe? Und Amy Winehouse und Kurt Cobain wären sicher auch begeistert, posthum als Insta-Hashtags für den Hummels-Mutmach-Channel gegen trübe Gedanken herhalten zu dürfen.


»Dieses Henne-Ei-Ding ist bei dir ja so ein Politik-Depressionen-Ding, so ein bisschen«
Miriam Davoudvandi über Nico Semsrott


Eine Depression hat viele Gesichter. Nicht mehr ganz taufrisch auf diesem Terrain ist die Visage von Nico Semsrott, der sein gesamtes Comedyrepertoire auf der Rolle des Depressiven aufbaut. Das einstündige Format »Danke gut. Der Podcast über Pop und Psyche« von Davoudvandi soll dazu beitragen »psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren«. In der Folge »Nico Semsrott über Depressionen als Politiker und Weltschmerz« erfährt man allerdings kaum Konkretes über das psychische Leiden des Kabarettisten, das ihn seit seiner Jugend begleitet. Wann kam die Diagnose? Gab es Klinikaufenthalte? Hat er Medikamente genommen? Nimmt er sie derzeit? Ist er in ambulanter Therapie? Nichts davon wird beantwortet. Seine Familie hätte »schon vor 500 Jahren eine Therapie« machen sollen. Diagnose? »Klassisches Kartoffelleben.« Darüber geht es dann auch nicht mehr hinaus. Dafür wird durch Fragen wie »Was war eigentlich zuerst da: Dein Interesse an Politik oder die Depression?« ein klischeehaftes, oberflächliches Bild der psychischen Störung gezeichnet.

Auch bei Kurt Krömer bleiben Fragen offen. Ist er trotz 30 Jahren Depression vor der Diagnose im Jahr 2020 wirklich nie auf die Idee gekommen, depressiv zu sein? Kam der Verdacht während seines Alkoholentzugs bei niemandem auf? Etwas kürzer hätte dafür vielleicht das Kapitel über seine Impotenz sein können, das ein wenig wirkt, als habe man dabei verlagsseitig die hämische Leserfraktion doch recht stark im Blick gehabt. Insgesamt wirkt der »schonungslos offene Leidensbericht« sorgfältig konzipiert. Was nicht heißt, dass er nicht auch hier und da plausible und komische Passagen enthält.

Dennoch scheint es, als präsentierten die Promi-Depressionsschmöker eine Version der Krankheit, die nicht allzu stark vom sozial Erwünschten abweicht. Figuren, die abweisend und selbstzentriert sind, was in einer depressiven Phase auch vorkommen kann, findet man kaum. Dafür ist der Depressionsbericht wie bei Krömer am Ende doch eine »Liebeserklärung an das Leben« (Klappentext). Auch richtig wissenschaftlich wird es selten. Systemische Ursachen für psychische Erkrankungen kommen ebenfalls kaum zur Sprache, die Depression bleibt eine individuelle Erkrankung. Und diejenigen, die sie am häufigsten betrifft – Frauen in prekären Verhältnissen – sind so gut wie nie diejenigen, die öffentlich über das Thema sprechen. Stattdessen wird sie meistens von den üblichen Verdächtige repräsentiert. Das ist sicher immer noch besser, als wenn gar nicht über das Thema gesprochen wird. Eine staatlich geförderte Mental-Health-App von Smudo (Produktname: S-Mood-o-Control) wird es trotzdem hoffentlich nicht so schnell geben.

 

Julia Mateus

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Boah ey, Natur!

»Mit der Anpflanzung von Bäumen im großen Stil soll das Klima geschützt werden«, schreibt der Spiegel. »Jetzt zeigen drei Wissenschaftlerinnen in einer Studie: Die Projekte können unter Umständen mehr schaden als nützen.« Konkret sei das Ökosystem Savanne von der Aufforstung bedroht. Mal ganz unverblümt gefragt: Kann es sein, liebe Natur, dass man es Dir einfach nicht recht machen kann? Wir Menschen bemühen uns hier wirklich um Dich, Du Diva, und am Ende ist es doch wieder falsch!

Wird mit Dir einfach nicht grün: Titanic

 Wie bitte, Extremismusforscher Matthias Quent?

Im Interview mit der Tagesschau vertraten Sie die Meinung, Deutschland habe »viel gelernt im Umgang mit Hanau«. Anlass war der Jahrestag des rassistischen Anschlags dort. Das wüssten wir jetzt aber doch gern genauer: Vertuschung von schrecklichem Polizeiverhalten und institutionellem Rassismus konnte Deutschland doch vorher auch schon ganz gut, oder?

Hat aus Ihren Aussagen leider wenig gelernt: Titanic

 Eine Frage, Miriam Meckel …

Im Spiegel-Interview sprechen Sie über mögliche Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf die Arbeitswelt. Auf die Frage, ob die Leute in Zukunft noch ihr Leben lang im gleichen Beruf arbeiten werden, antworten Sie: »Das ist ja heute schon eher die Ausnahme. Ich zum Beispiel habe als Journalistin angefangen. Jetzt bin ich Professorin und Unternehmerin. Ich finde das toll, ich liebe die Abwechslung.« Ja, manchmal braucht es einfach einen beruflichen Tapetenwechsel, zum Beispiel vom Journalismus in den Fachbereich Professorin! Aber gibt es auch Berufe, die trotz KI Bestand haben werden? »Klempner zum Beispiel. Es gibt bislang keinen Roboter mit noch so ausgefeilter KI auf der Welt, der Klos reparieren kann.«

Das mag sein, Meckel. Aber was, wenn die Klempner/innen irgendwann keine Lust mehr auf den Handwerkeralltag haben und flugs eine Umschulung zum Professor machen? Wer repariert dann die Klos? Sie?

Bittet jetzt schon mal um einen Termin: Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg