Artikel

Krisenfest hinterm Zaun

Während in weiten Teilen Deutschlands und Sachsens das öffentliche Leben durch Ausgangssperren zum Erliegen gekommen ist, sind sie fein raus und fein draußen: die deutschen Kleingärtner. Lauben- und Feldbett-Expertin Jessica Ramczik besuchte in Leipzig, der Stadt mit der gefühlt höchsten Kleingartendichte, Deutschlands ältesten Kleingartenverein. 

Ein Güterzug, der nicht enden zu wollen scheint, rauscht an der Kleingartenkolonie "Gute Laune e.V." vorbei. Erwin Echsner sitzt in seinem rostigen Gartenstuhl mit Wäscheleinenbespannung und brüllt schon von Weitem: "Ich hör' das schon gar nicht mehr! Ich sage: Ich hör' das schon gar nicht mehr!" Herr Echsner ist seit 1971 Pächter der Parzelle 17a und macht mit seinen 78 Jahren einen rüstigen Eindruck. Und das, obwohl er der Meinung ist, dass er in zwei Weltkriegen für Deutschland gekämpft habe. Er spricht weiter: "87 Tomaten, 13 Kürbisse, elf Kilo Pflaumen, ein Igel, drei Eichhörnchen und ein Kaninchen. Damit sind wir letztes Jahr super über die ..." Dann wird es unverständlich. Der alte Herr zeigt nun wütend auf eine Gruppe junger Menschen, die im Nachbargarten, der mehr Brache als Garten ist, auf Bierkästen herumlungern. "Solche", sagt er, bringe die Krise nun auch her. Es stimmt: Gerade in Zeiten von Corona trendet der Kleingarten wie nie zuvor. 

Dies bestätigen auch Laurin und Matilde Ehrlich-Montcassin. Der gebürtige Sachse und die gebürtige Französin haben das kleine Gärtchen gepachtet, um sich von der Enge der 110qm-Etagenwohnung, die die beiden mit ihrer Tochter Louise-Sandrine bewohnen, zu erholen. "Es ist gut wissen, dass das Leben auch außerhalb des 9-to-5-Jobs noch einer Ordnung folgt. Endlich ein Ort, um unter strafenden Blicken auch weiterhin nichts zu tun und selbstvergewissernd ins Leere zu starren." All das sei für den Consultant einer ökologisch arbeitenden Unternehmensberatung der Vorteil gegenüber denen, die in ihren Wohnungen verharren müssen. Es fällt auf, wie naturbelassen und wild der Garten der Ehrlich-Montcassins ist. Auch als "Lauri" den Diesel-Notstromer zum Betreiben seines Notebooks anschmeißt, wird diese Idylle nicht gestört. 

Unter einem verknöcherten Apfelbaum sitzt Frieda Rofallsky und isst die Kirschen, die sie 1998 eingekocht hat. Ruhig, besonnen und freundlich kommt sie daher. Doch man unterschätzt die kleine Frau mit dem krausen grauen Haar. Vor einigen Jahren hat Frieda Rofallsky eine Internetseite über ihren Kleingarten angelegt. Es begann mit bewegten HTML-Hintergünden und nützlichen Tipps zur Überwinterung von Igeln. Wahrscheinlich begann hier Frau Rofallskys Weg in einschlägige Prepper-Foren. "Scheiß auf die Igel", bricht es aus ihr heraus. "Bis gestern dachte ich noch, dass ein ungeordneter Zusammenbruch des Finanzsystems am wahrscheinlichsten ist, auch Stromausfälle durch Solar Flares habe ich für wahrscheinlich gehalten. Mit einer Pandemie habe ich nicht gerechnet. Doch ich bin vorbereitet. Code ..." – sie spricht es "Ko-de" aus – "... 122." Frau Rofallsky zeigt das Tunnelsystem unter ihrer Laube. Ventilatoren surren, es gibt einige Waffenschränke. "Mit allem, was Sie hier sehen, könnte ich 34 Monate und zwölf Tage überleben." Die Frage danach, was Herr Rofallsky denn dazu sage, beantwortet sie schroff: "Es war besser so."

Herr Armin Lemke ist Vorstand der Anlage. "Viele Menschen denken, ein Kleingarten diene der Erholung, aber das stimmt nicht. Ein Kleingarten hat immer den Zweck, dass Menschen aktiv bleiben und sich eine Lebensgrundlage schaffen können. Der Kleingarten kennt kein Home-Office, Unkraut und Nutzpflanzen kennen keine Quarantäne. Wir müssen daher unermüdlich und immer wachsam bleiben." Herr Lemke war bis zur Wende Oberfeldwebel bei der NVA. Seine frisch eingepflanzten Kohlrabistecklinge nennt er seine kleinen Genossen. Er hat alles im Blick, jedes Loch im Zaun, jede Ertragsrate. Herr Lemke ist das schlechte Gewissen der Anlage. Regelmäßig treibt er größere Menschengruppen in den Gärten mit einem Stock auseinander und kommt unangemeldet mit einem Thermometer zum Fiebermessen vorbei. Hollywoodschaukeln müssen nun eine Mindestsitzbanklänge von 2,40 Meter aufweisen, andernfalls sperrt er sie höchstpersönlich. Lemke ist stolz auf das, was andere Biedermeiertum und Pedanterie nennen würden. "Der Kleingarten ist krisenfest und strikt durchreguliert. Bewachen, Beurteilen und paranoides Misstrauen sind hier keine neue Entwicklung, sondern gehören zum guten Ton, sind Kult. Weisungsgebundenheit und Autorität bedeuten nicht Repression, sie weisen vielmehr den goldenen Pfad zum Kleingarten Eden." Wer hier mitmachen wolle, für den seien die 1,50 Meter Mindestabstand keine neue Regelung, sondern seit jeher eine Gesetzmäßigkeit der Kleingartensatzung.

Stefan Weingart ist kein typischer Kleingärtner, doch macht ihn sein Garten zum Auserwählten in seiner 210qm-Parzelle am Gleisdreieck, zum Fürsten der privaten Subsistenzwirtschaft. Der 42jährige Arzt harkt durch ein kleines Beet. Die Amigos, die hier überall aus den alten Batterieradios der Lauben schallen, die orange-braunen Markisen sind nicht seine Sache, erzählt er. Weingart denkt weiter. Spätestens seitdem die polnischen Erntehelfer durch Rumänen ersetzt wurden, ist er alarmiert. "Ich habe den Pro-Kopf-Spargelverbrauch in meiner Familie durchgerechnet. Die Hochbeete sind bereits angelegt. Das überlässt man keinem Amateur." Die Erde habe er aus Beelitz bringen lassen. Die Spargelpflanzen recken ihre kleinen Köpfchen schon aus der Erde. Weingart präsentiert sie stolz wie einer, der alles richtig gemacht hat und bereits bei der ersten dunklen Wolke wusste, dass ein Sturm aufzieht. "Ich wusste, dieser Tag würde kommen und ich war vorbereitet", verkündet er.

Jessica Ramczik

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Wow, Instagram-Kanal der »ZDF«-Mediathek!

In Deinem gepfefferten Beitrag »5 spicy Fakten über Kim Kardashian« erfahren wir zum Beispiel: »Die 43-Jährige verdient Schätzungen zufolge: Pro Tag über 190 300 US-Dollar« oder »Die 40-Jährige trinkt kaum Alkohol und nimmt keine Drogen«.

Weitergelesen haben wir dann nicht mehr, da wir uns die restlichen Beiträge selbst ausmalen wollten: »Die 35-Jährige wohnt nicht zur Miete, sondern besitzt ein Eigenheim«, »Die 20-Jährige verzichtet bewusst auf Gluten, Laktose und Pfälzer Saumagen« und »Die 3-Jährige nimmt Schätzungen zufolge gerne das Hollandrad, um von der Gartenterrasse zum Poolhaus zu gelangen«.

Stimmt so?

Fragen Dich Deine Low-Society-Reporter/innen von Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt
08.04.2024 Oldenburg, Theater Laboratorium Bernd Eilert mit Klaus Modick