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"Ich bin jetzt, glaube ich, bei Seite 11 257" – Richard David Precht im Interview
Exklusiv: Vielzeilenautor Richard David Precht spricht über das Schreiben im Lockdown, autonomes Fahren und Schulschließungen.
TITANIC: Guten Tag, Herr Precht, wie geht's?
Precht: Soweit ganz okay, diese endlose Abfolge von gefühlten Sonntagen war entspannend für mich, vor allem auch deswegen, weil ich die dazugehörigen Reden vor Publikum nicht halten konnte.
Da werden sicherlich viele Menschen im Land durchgeatmet haben, Maske hin oder her ...
Die habe ich im Frühling auch des Öfteren noch zu Hause vergessen, aber das hat sich schnell eingespielt, die Leute haben sich genervt abgewendet, sind gar geflüchtet. Jetzt werde ich dagegen viel von wildfremden Männern angesprochen. Gut, kann man nichts machen, die Frisöre bleiben ja weiterhin dicht. Das finde ich aber grundsätzlich richtig, um dem Virus Einhalt zu gebieten.
Sie sind also mit den Corona-Maßnahmen im Großen und Ganzen einverstanden?
Ja, die Menschen lieben Verbote, wenn sie glauben, dass sie dadurch vor größeren Übeln geschützt werden, denken Sie nur mal an mein Auftrittsverbot, was ich eingangs erwähnt habe. Ich erwarte schließlich auch von Ihnen, dass Sie erst über einen Zebrastreifen gehen, wenn kein Zebra mehr kommt, denn sonst gefährden Sie andere, also zum Beispiel bedrohte gestreifte Pferde. Insofern lehne ich auch die Querdenkerbewegung kategorisch ab. Welchen verqueren Gedankengängen Sie hingegen privat folgen, das ist Ihre Sache. Und das sage ich Ihnen hier aus eigener, jahrelanger Erfahrung, heute so, morgen so, ist ja alles gut dokumentiert. Schauen Sie sich nur mal auf Youtube an, was ich über die ganze zurückliegende Zeit so ausgestoßen habe, ganz ohne Maske. (lacht dabei laut in die vorgehaltene Armbeuge)
Haben wir schon zur Vorbereitung dieses Interviews zu Genüge getan, Danke, sind jetzt noch bedient. Und was machen Sie dann die ganze Zeit, womit füllen Sie ihren Tag?
Nun, ich habe jetzt mehr Zeit für die Arbeit an meinen Büchern, auch wenn ich oft nicht weiß, an welchem ich gerade schreibe und wie viele es insgesamt sind, auf jeden Fall wird es aber eine Geschichte der Philosophie, eine Autobiografie mit all meinen Gedanken, Positionswechseln etc. Ich bin jetzt, glaube ich, bei Seite 11 257.
Apropos Autobiografie, wo stehen Sie im Moment beim Thema autonomes Fahren? Erst waren Sie enthusiastischer Befürworter, dann ein erbitterter Gegner.
Ich bin ich jetzt, nach einem längeren Gedankenstau, wieder dafür. Stellen Sie sich vor, die Technik wäre jetzt schon so ausgereift, wie es meine Gedanken nicht im Entferntesten je waren: Denken Sie nur, Sie könnten sich damit jetzt, völlig kontakt- wie geschmacklos, eine Pizza oder Fischfutter schicken lassen, Mitarbeiter vom Ordnungsamt könnten in der Innenstadt patrouillieren, während ihre Einsatzfahrzeuge selbstständig Menschenansammlungen am Stadtrand auseinandertreiben. Faszinierende Vorstellung!
In der Tat ... Sagen Sie mal, wer liest Ihren Kram eigentlich, bevor er in Druck geht?
Zunächst einmal lese ich es den Fischen in meinem Aquarium vor, und die haben meist nichts auszusetzen. Der wichtigste Ratgeber ist aber nach wie vor mein Vater. Der hat früher für Krups Eierkocher designt, da ist man einiges gewohnt, und gerade jetzt im Lockdown freut er sich über jede Ablenkung. Aber es geht ihm natürlich schon auf den Sack.
Sie gelten als scharfer Bildungskritiker. Wie stehen Sie zu Schulschließungen?
Da ich, wie Sie richtig konstatieren, ja kein Freund unseres Schulsystems, des dort vermittelten Wissens bin, nur so viel: Ich hätte mir gewünscht, dass die zuständigen Politiker einen kühlen Kopf bewahrt und die Schulen weiter offen gelassen hätten, denn die geöffneten Fenster erleichtern ja den interdisziplinären Unterricht ungemein, ganz besonders bei gegenüberliegenden Klassenräumen, und das ist doch schon mal ein guter Auf-, pardon, Ansatz.
Na, dann noch weiterhin viel Erfolg und alles Gute, Herr Precht!
Danke, ich geh dann mal.
Nicht nötig Sie sind doch schon zu Hause.
Burkhard Niehues