Inhalt der Printausgabe

Heiß wie die Wüste von Dascht-e Lut

von Ella Carina Werner

Es gibt Orte, die wir alle in Zeiten der Kontaktbeschränkung schmerzlich vermissen. Orte der Begegnung, der intensiven Interaktion. Rede trifft auf Gegenrede, der Mensch als Zoon politikon. Ich spreche natürlich von der öffentlichen Sauna.

Wo sonst gibt es dieses gemütliche Steinzeitgefühl: Dutzende nackte Leiber in einem winzigen, lichtlosen Raum, eine Urhorde in ihrer dunklen Höhle, um bei 100 Grad Lufttemperatur zu einem einzigen Korpus zu verschmelzen, bis der Wasserdampf zwischen den Wänden wabert und das ein oder andere Gemeinschaftsgefühl.

Je nach Lage, Größe und Bevölkerungszusammensetzung sind die Saunaanlagen natürlich grundverschieden. In manchen wird sorglos und sichtbar an den Geschlechtsteilen gekratzt, das sind die Akademikerviertel. In anderen wird Kräuterschnaps und Korn in Trinkflaschen hineingeschmuggelt, das sind die Rentnerquartiere. In wieder anderen wird viel und stimmgewaltig geplaudert, das ist der große Rest.

Es heißt, eine Sauna biete Ruhe und Entspannung, aber das ist nicht wahr. Wer Ruhe und Entspannung sucht, lege sich daheim mit einem einschläfernden Crime-Podcast in die Badewanne. In der Sauna kommt man zusammen, um zu schnattern und zu klönen, zu singen und mit Knabbertüten zu rascheln wie einst im Barocktheater. Jeder quasselt mit jedem, und noch draußen im Kältebecken wird das Für und Wider einer möglichen Marsbesiedelung erörtert. Ab und an wird die Ruhe vielleicht im gediegenen Hamburger Norden eingehalten, aber hier im Süden, unter den Abgehängten, Menschen mit No-Name-Badelatschen und Ärzten ohne Doktortitel, wird das niemals geschehen.

Junge Saunisten, vertieft in eine Diskussion über postkolonialen Feminismus.

Mit Wehmut erinnere ich mich an meinen letzten Besuch im März 2020, kurz vorm Lockdown. Voller Vorfreude betrat ich die Saunalandschaft, bestehend aus sieben Schwitzbuden, mit Espenholz und öffentlichen Geldern üppig ausstaffiert. So viele Hütten, da hat man die Qual der Wahl. Es ist wie in den Neunzigerjahren beim Zappen durch die TV-Kanäle: Man schaut hier und dort hinein und lauscht, um was es gerade geht.

In der Kräutersauna wurde der Bau der neuen Küstenautobahn erörtert. Ein Gespräch, so knacktrocken wie die Luft. Schleppende Stimmen referierten verkehrstechnische Details. Dafür hatte ich die 16,50 Euro Eintritt nicht bezahlt. Ich probierte es woanders. In der Kaminsauna wurde gerade ein Todfeind ausgemacht: Graffiti-Sprayer. Doch da es keine Graffiti-Befürworter gab, tröpfelte auch diese Diskussion eher spannungsarm dahin.

Erst in der Königsklasse, der finnischen Sauna, war richtig etwas los, das hörte man bereits von außen. Zwei Dutzend erregte Gemüter hockten Schulter an Schulter und lieferten sich ein ohrenbetäubendes Wortgefecht zum Reizthema Frank-Walter Steinmeier.

Eine stark transpirierende Frau um die fünfzig mit nussbraunen Locken, die Hände in die Hüften gestemmt, ließ gerade verlauten, Frank-Walter Steinmeier sei der größte Hundsfott, der ihr je im Leben untergekommen sei, und würde er ihr je vor die Flinte kommen, würde sie sofort abdrücken. Das klang spannend. Ich schloss die Tür hinter mir und suchte mir einen schattigen Platz in der Ecke, während die Rednerin einen Monolog vom Stapel ließ, aus dem ich heraushörte, dieser Scharlatan unterstütze nicht nur Linksradikale, sondern auch das iranische Regime.

Von der gegenüberliegenden Bankreihe Laute des Protests. Mehrere rot geäderte Augäpfel quollen der Braunhaarigen erbost entgegen. Gern hätte ich den Anfang des Gespräches mitbekommen, den Urknall der Eskalation. Ich beugte mich zu meiner Sitznachbarin, einer hageren Schwarzgelockten, die aufrecht, leicht weltentrückt neben mir thronte wie diese Sozialistinnen im französischen Parlament. Natürlich kannte ich sie vom Sehen. Ich kenne fast alle hier vom Sehen, nur Namen kenne ich nicht. Man weiß nicht viel voneinander, außer die Anordnung der Narben und Leberflecke und wer bei wie viel Grad kollabiert. Ich fragte die Schwarzgelockte, ob sie mir den Gesprächsanfang kurz wiedergeben könne, doch sie bedeutete mir mit einem vernichtenden Blick, zu schweigen.

Kurz, Frank-Walter Steinmeier, schloss die Braunhaarige ihren Redebeitrag, sei nichts als ein brutaler, machtgeiler Arschmonarch und nebenbei ein Saufbruder vor dem Herrn, so wie er in den Weihnachtsansprachen immer gucke. Ein paar Köpfe nickten. Ein bärtiger Mann applaudierte auf einem Handtuch mit Coke-Schriftzug, was ich lesen konnte, weil seine Pobacken vor Aufregung hin und her rutschten. Es ist ja immer schwierig, Menschen ohne Bekleidung angemessen zu beschreiben, wenn man nicht auf körperliche Bizarrerien ausweichen möchte, von denen es hier wie überall reichlich gab, und wie sehr juckt es mich in den Fingern.

Ich betrachtete einen älteren, weißhaarigen Mann, dessen buschige Augenbrauen schon seit einiger Zeit bedrohlich zuckten. Vermutlich ein Katholik, weil er sich vorm Sprung ins Kältebecken immer bekreuzigte. Jetzt aber reckte er in die höheren, heißeren Luftschichten plötzlich eine Faust. »Teufel noch eins, nun lassen Sie doch diesen guten Mann in Ruhe!« Dabei starrte er die Braunhaarige von der gegenüberliegenden Bankseite finster an. Auge um Auge. Es ist ein Saunahäuschen, in dem die Bänke einander zugewandt in den Raum gezimmert sind, genau wie im britischen Unterhaus. Eine Architektur, die sich hier wie dort belebend auf die Gesprächsatmosphäre niederschlägt.

Frank-Walter Steinmeier tue niemandem etwas Böses, fuhr der Weißhaarige fort, während seine Hände vor seiner Brust herumgestikulierten, als rücke er einen imaginären Hemdkragen zurecht. Dieser Mann sei mit Fleiß, Arbeitseifer und Rechtschaffenheit nach ganz oben gekommen. Dr. Frank-Walter Steinmeier sei unser aller Regent, der erste Mann im Staate, wobei seine Stimme einen zärtlichen Klang annahm, ja der Dreh- und Angelpunkt unserer Demokratie. Ein Mann voller »Staatsklugheit«, und ich wusste nicht mal, was das war. Dieser Mann sei das größte, wunderbarste Staatsoberhaupt, das dieses Land je gesehen habe, außer Otto von Bismarck. Außerdem sei Staatsoberhaupt nun mal Staatsoberhaupt und müsse respektiert werden. Dass man über diesen feinen Kerl in einem so despektierlichen Ton herziehe, fände er »schlimm«, ja »traurig«.

Die Braunhaarige lachte auf und nannte ihren Widerpart »obrigkeitshörig«. Eine andere Frau mit Hitzeflecken an den Oberarmen hob einen Zeigefinger und wollte wissen, wer dieser Bismarck noch mal war, wurde aber niedergemäht von Pschschscht-Gezischel und Äußerungen der Empörung, ehe die Braunhaarige erneut loszeterte und zwei Vasallen sie wortreich unterstützten.
Die Situation war angespannt. Die Stimmen wurden schriller. Hier »Höllenhund« und »Schweinepriester«, dort »Lichtgestalt« und »Streiter für unsere Grundwerte«.

Sämtliche Gesichter waren inzwischen krebsrot, ob wegen der Meinungsverschiedenheit oder der sagenhaften 107 Grad, auf die das Thermometer mittlerweile hochgekraxelt war, war nicht mehr auszumachen. Jetzt argumentierten alle wirr durcheinander wie in dieser lustigen Clubhouse-App. Jetzt galt es, sich zu positionieren. Hier gab es kein Raushalten, das hier ging uns alle an, das war zu spüren.

Ich versuchte, mir eine Antwort zurechtzulegen, falls mich jemand um eine Stellungnahme bat, doch vergebens. Zu keinem Thema habe ich so wenig eine Meinung wie zu Frank-Walter Steinmeier.

Als Schwiegervater würde ich ihn wohl akzeptieren, als örtlichen Busfahrer in mein Herz schließen. Ich sah die zartblauen Augen vor mir, die vollen runden Wangen, das lausbubenhafte Lächeln. Gut, da war mal irgendwas mit einem Murat Kurnaz gewesen, und auch als Mitbegründer der Agenda 2010 hatte er seine Finger im Spiel, aber sonst mag ich Frank-Walter Steinmeier eigentlich ganz gern, denn ich mag jeden, der höflich und wohlerzogen ist und Kurt Beck aus dem Amt gejagt hat.

Auch in der Kunst hat die Schwitzkultur ihren Niederschlag gefunden, hier in einem Gemälde von Gerhard Richter aus dem Jahr 2013.

Dass er hier und jetzt so viele Emotionen auslöste, ja die Volksgemüter derart erhitzte, hätte Frank-Walter Steinmeier wohl selber am meisten überrascht. »Was, ich? Nein so was!« hätte er in sich hineingeschmunzelt. Noch am späten Abend hätte er dagesessen und über die Situation noch eine Weile sinniert. »Ich, wirklich? Ein Hundsfott?« hätte er vor sich hin gegluckert. »Ja ist das denn die Möglichkeit?« In seiner Sitzsauna mit Elektroantrieb, gezimmert in die Waschküche des Schlosses Bellevue. Natürlich sauniert Steinmeier immer allein, um am Ende heimlich und gegen alle Saunaregeln nicht kalt, sondern herrlich handwarm zu duschen.

Ich hingegen würde niemals alleine saunieren. Ich brauche die Stimmen, die Lautstärke, die Dampfplauderer und Powertalker.

Es sind Menschen, die ich seit 16 Monaten vermisse. Kürzlich saß mir in der S-Bahn diese hagere Schwarzgelockte gegenüber, aber sie schien mich mit Hose und Mundschutz nicht zu erkennen. »Hallo, ich bin’s doch, die mit der krummen Kaiserschnittnarbe und den eingewachsenen Zehennägeln«, sagte ich, denn die eigenen Bizarrerien darf man ruhig benennen, aber dann war es doch eine andere Frau.

Ich kenne hier im Hamburger Süden übrigens doch einen Arzt mit Doktortitel, meinen Zahnarzt. Seine Promotionsurkunde hängt in der Praxis gut sichtbar am Eingang, großzügig gerahmt. Es ist ein Doktor der Philosophie, ausgestellt von einer kalifornischen Universität. Dort könne man egal welchen Doktor an egal was dranhängen, hat mir der Zahnarzt erklärt. Ob er von Zahnheilkunde eine Ahnung hat, weiß ich nicht, aber seine Exkurse über Kommunikation als Sprachspiel bei Ludwig Wittgenstein haben eine so angenehm narkotisierende Wirkung. Und interessant sind sie ab und an auch. Kommunikation ist wichtig. Wenn Kommunikation nicht mehr gelingt, wenn sich die Leute nicht mehr austauschen, brennen irgendwann die Städte, verdorren Balkonblumen und jedes Gefühl von Mitmenschlichkeit. Frau Merkel, öffnen Sie die Saunas, noch vor den Kirchen! Und legalisieren Sie Graffiti, auch auf den Zügen der Deutschen Bahn. Damit es in den Schwitzstuben auch weiterhin genug Gesprächsstoff gibt.

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Genau einen Tag, Husqvarna Group (Stockholm),

nachdem das ungarische Parlament dem Nato-Beitritt Schwedens zugestimmt hatte, mussten wir was auf heise.de lesen? Dass auf Deinen Rasenmähern der »Forest & Garden Division« nach einem Software-Update nun der alte Egoshooter »Doom« gespielt werden kann!

Anders gesagt: Deine Divisionen marodieren ab sofort nicht nur lautstark mit Rasenmähern, Traktoren, Motorsägen, Motorsensen, Trennschleifern, Rasentrimmern, Laubbläsern und Vertikutierern durch unsere Gärten, sondern zusätzlich mit Sturmgewehren, Raketenwerfern und Granaten.

Falls das eine Demonstration der Stärke des neuen Bündnispartners sein soll, na schön. Aber bitte liefere schnell ein weiteres Software-Update mit einer funktionierenden Freund-Feind-Erkennung nach!

Hisst die weiße Fahne: Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

 Boah ey, Natur!

»Mit der Anpflanzung von Bäumen im großen Stil soll das Klima geschützt werden«, schreibt der Spiegel. »Jetzt zeigen drei Wissenschaftlerinnen in einer Studie: Die Projekte können unter Umständen mehr schaden als nützen.« Konkret sei das Ökosystem Savanne von der Aufforstung bedroht. Mal ganz unverblümt gefragt: Kann es sein, liebe Natur, dass man es Dir einfach nicht recht machen kann? Wir Menschen bemühen uns hier wirklich um Dich, Du Diva, und am Ende ist es doch wieder falsch!

Wird mit Dir einfach nicht grün: Titanic

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

 Wie bitte, Extremismusforscher Matthias Quent?

Im Interview mit der Tagesschau vertraten Sie die Meinung, Deutschland habe »viel gelernt im Umgang mit Hanau«. Anlass war der Jahrestag des rassistischen Anschlags dort. Das wüssten wir jetzt aber doch gern genauer: Vertuschung von schrecklichem Polizeiverhalten und institutionellem Rassismus konnte Deutschland doch vorher auch schon ganz gut, oder?

Hat aus Ihren Aussagen leider wenig gelernt: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg