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Griene Kließ un' Schwammebrie
Was bewegt dieses sture und einfältige Bergvolk, das seit Tagen die Nachrichten dominiert? Eine gute Frage – doch wir wollen nicht den nächsten Report über Österreich schreiben. Uns geht es ums Erzgebirge – das deutsche Weihnachtsland.
TITANIC Ost wurde einst gegründet, um dem westdeutschen Blick auf die Neuen Bundesländer eine Stimme zu geben. Eine Informantin berichtet über sogenannte Pop-up-Weihnachtsmärkte. Angeblich widersetzen sich Menschen in den Hochlagen des Erzgebirges der Zentralregierung, die Weihnachtsmärkte aufgrund der weltweit höchsten Corona-Inzidenz verboten hatte. Wir packen Bier, Schlafsäcke und Wärmflaschen ein. Im ICE geht es nach Leipzig, in der S-Bahn weiter nach Zwickau. Dort treffen wir Mechthild Grimme, Fremdenführerin und Mundartdolmetscherin. Wir nehmen in dem schnittigen Lada Niva Platz, den sie "extra für den hohen Besuch geliehen" habe. Es sei nachgerade unentbehrlich, dass wir uns an die Gepflogenheiten der Region anpassen, sagt unsere Reiseleiterin, die "Bürgerin der Bach-Stadt Leipzig ist und ursprünglich aus Böblingen bei Stuttgart" komme. "Bitte immer den Nachnamen vor dem Vornamen nennen!" Die Regel kenne sie aus den Erzgebirgskrimis im ZDF.
Unser erstes Ziel ist Annaberg-Buchholz. Wir spüren die sprichwörtliche Gastfreundlichkeit, welche die Erzgebirger*innen weißen Menschen entgegenbringen. Hier treffen wir den Wischner, Christfried – er ist unser Adlatus vor Ort: "Glück auf!" Zur Begrüßung singt er inbrünstig den "Hutzenmarsch" und hält dabei das grüne Liederbuch mit erzgebirgischen Volksweisen fest umklammert. Auf seinem Gürtel steht "Bibel" – eine Eigenanfertigung, wie er stolz berichtet. Der Nachmittag in dem heimeligen und gut gefüllten Café am Marktplatz verfliegt. Als es langsam dunkelt, brechen wir auf. Der Wischner, Christfried führt uns in Richtung Wald. Wir gruseln uns. Mit einer Grubenlampe leuchtet der Guide auf einen alten Stolleneingang.
Die ersten zwanzig Meter "im Berg" sind kalt, nass und beklemmend. Was wir dann sehen, ist nicht zu glauben! Ein vollständig bestückter Weihnachtsmarkt: Glühweinstand, Wurstbude, erzgebirgische Volkskunst. Es riecht nach Räucherkerzen, Grillgut und gebrannten Mandeln. Einige Landtagsabgeordnete sind da, das Beisammensein wirkt zwanglos. Der Wischner, Christfried erklärt, dass wir diese Freude einerseits den frommen Evangelikalen verdanken: "Ihr könntet den Pop-up-Weihnachtsmarkt nie genießen, wäret ihr als Fötus abgetrieben worden." Andererseits schulde man dem Bergbau Dank, denn "ohne diesen gäbe es hier keinen Stollen, nicht wahr?" Als wir den Welterbe-Titel erwähnen, wirft man uns anerkennende Blicke zu. Ein gelungener Abend.
Verkatert und noch satt vom Schieböcker machen wir uns am nächsten Morgen auf nach Oberwiesenthal. Die Grimme, Mechthild versorgt uns während der Fahrt pflichtbewusst mit Fakten: "Im Lonely Planet habe ich gelesen, dass es im Erzgebirge kälter wird, je höher man kommt. Das liegt an den sinkenden Temperaturen!" Wir nehmen uns vor, den Hinweis beim Ankleiden zu beherzigen. Der Kurort Oberwiesenthal liegt idyllisch am Fuße des Fichtelbergs. Uns begrüßt ein kunstvoll gestaltetes Holzschild: "Oh, Arzgebirg wie bist du schie, griene Kließ un' Schwammebrie!" Fragend blicken wir zur Grimme, Mechthild. Die studierte Mundartdolmetscherin übersetzt: "Das Erzgebirge ist eine schöne Destination mit vegetarischen Köstlichkeiten!" Wir fahren mit der Seilbahn auf den Fichtelberg. Die Aussicht auf die "vom Bergbau geprägte Kulturlandschaft" (Landkreismarketing) ist beeindruckend. Ob die Menschen im Tal Maske tragen oder geimpft sind, lässt sich vom Gipfel aus beim besten Willen nicht erkennen.
Der Wischner, Christfried weiß zu berichten: "Nachher ist wieder Hutzen angesagt. Es gibt sogar Neunerlei." Wir wissen nicht, was er meint und grinsen unbeholfen. Er sekundiert: "Wir nehmen den Schlitten!" Unscheinbares Ziel unserer Rodelgaudi: der vermeintlich stillgelegte Toilettenkomplex auf halber Fichtelberg-Höhe. Ein Klopfzeichen später öffnet ein junger Gebirgsbewohner mit roten Wangen die Pforte: Erneut riecht es nach Räucherkerzen, diesmal auch ein wenig nach Klosteinen. Der nächste Pop-up-Weihnachtsmarkt! Wir bestellen Glühwein und Pilzpfanne, lachen Arm in Arm mit den Einheimischen. Bei einer Tanzpause nach Santiano-Best-of und "Freiheit" von Westernhagen erklärt eine Mittvierzigerin, sie habe "kürzlich den Genesenen-Booster erhalten: die dritte Covid-Infektion sechs Monate nach der zweiten." Die Frau macht einen kerngesunden Eindruck.
Ein graubärtiger Alter sagt: "Die Wessis haben sich gesundgestoßen, machen sich 'nen Bunten und wir sind die Gelackmeierten! Obwohl: Gesellschaftliche Veränderungen lassen sich selten monokausal erklären." Lange habe man gedacht, "Investor" werde mit "w" geschrieben. Das macht nachdenklich. Wir decken uns mit Nussknackern ein - gern gesehene Geschenke auf den Weihnachtsfeiern der großen Frankfurter Medienhäuser. Ein gutes Gefühl, den Menschen hier etwas zurückzugeben: Wir verzichten auf das Wechselgeld und geben es den Menschen zurück.
Die Nacht im Hotel von Skisprung-Legende Weißflog, Jens ist kurz. Die Grimme, Mechthild weckt uns morgens halb elf. Ohne Zähneputzen (das erledigt später der Wismutfusel aus dem Fußraum des Ladas) fahren wir nach Johanngeorgenstadt, um den größten freistehenden Schwibbogen der Welt zu bewundern. Wer diesen dann tatsächlich erblickt, fühlt nichts als Versöhnlichkeit. Hier stehen Menschen mit Maske oder ohne. Mit westdeutschem Migrationshintergrund oder ohne. Mit Gehstock oder ohne. Niemand wird ausgeschlossen, alle dürfen staunen. Nach zwei Stunden setzen wir die Tour fort, nächster Halt: Zwickau. Eine Verabschiedung vom Wischner, Christfried gab der enge Zeitplan nicht her. Wir drängen uns durch eine Menschenmenge, die zu 99 Prozent aus Westjournalisten*innen zu bestehen scheint, zum Zug. Ein Kollege von ZEIT im Osten blickt uns verkniffen an. Ob es ihn stört, dass wir unsere Masken nicht tragen? Die liegen noch im Café in Annaberg-Buchholz. Beseelt finden wir über die Zwischenstation Leipzig zurück nach Frankfurt.
Weidauer, Martin