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Geschmacksache: Hinter eines Baumes Rinde …

Zu Besuch in Europas einzigem Insektenrestaurant

Von Jürgen Dollase

Das europäische Lebensmittelrecht hat seine Tücken – das weiß nicht nur, wer beruflich mit dem Verzehr seltener Tierarten befasst ist. Auch Freunde kerfenreicher Nahrungsalternativen mussten nach dem Willen der obersten Ratsherren in der EU bislang darben. Wenigstens letzterer Missstand könnte bald der Vergangenheit angehören: Jüngst wurden Mehlwürmer als erste Insekten offiziell in den Kanon der Lebensmittel aufgenommen und stehen damit gleichberechtigt neben Rumpsteak, Kartoffelbrei und Chupa Chups. Wer das eklig findet, weiß nicht, was ich schon alles im Mund hatte!

Bis zur breiten Akzeptanz der Larven als Fertiglebensmittel dürfte noch Zeit vergehen. Die Vermarktung ist für die kommenden fünf Jahre einem französischen Unternehmen vorbehalten, das ursprünglich ausschließlich Getreide verarbeitet hatte, zuletzt aber durch Schädlingsbefall in wirtschaftliche Schieflage geraten war. Die Gastronomie jedenfalls zögert noch, das neuartige Lebensmittel einzusetzen. Die meisten Speisen mit hohem Wurmanteil finden sich nach wie vor in niedrigpreisigen Imbissbuden mit zweifelhafter Küchenhygiene wie dem Kopenhagener "Noma". Von den Restaurants mit mindestens einem Michelinstern bietet einzig die "Made" im deutschsprachigen Teil des Elsass Gerichte auf Mehlwurmbasis an, davon allerdings ein ganzes Menü. Das ist natürlich kein Zufall, sondern Absicht. Mein Busenfreund, der Bocuse-Schüler Dr. Matz Mabuse, und seine Frau Madeleine leiten das urige Lokal im Innern eines alten Stollens, das als völlige Neukotzeption coronabedingt erst vor einigen Tagen seinen Cocôn öffnen konnte. Schon der Weg dorthin ist ein Erlebnis! Am Eingang des Stollens riecht es nach Zitronataromen, Marzipan und Draisinen, ein enger Tunnel schlängelt sich zur "Made", die auch nicht eben geräumig ist. Dafür bietet sie eine schummrige Nostalgieatmosphäre und lädt zum Helmtragen ein.

Die Entschlossenheit des Gastes wird gleich zu Beginn überprüft. Zum Auftakt gibt es einen Gruß aus der Küche. Eine Scheibe gut durchwurmtes Weißbrot wird leicht angebräunt auf einem Butterspiegel serviert. Das Brot wurde nur auf Stufe zwei getoastet, so dass etwa die Hälfte der Maden überlebt hat und sich dem Gourmet entgegenwindet. Durch die Bewegungen der lebendigen Würmer werden die Aromen auf der Zunge regelrecht einmassiert. Das schmeckt mir. Ein Klecks Marmelade wäre dennoch schön gewesen. Als Vorspeise wird eine Graupensuppe à la Chef gereicht. Den Graupen sind im Verhältnis von etwa eins zu eins Mehlwürmer beigegeben, auch der Fond wurde aus Mehlwürmern gekocht und ist von sämiger bis klebriger Konsistenz. Das ist für sich schon ungewöhnlich genug, die Aromatisierung dürfte jedoch einmalig sein. Gekocht wird in einem frisch geleerten Biomüll-Eimer, in den anschließend ein Hund gekotzt hat. Das Ergebnis ist verblüffend. Mit jedem Schluck schwappt die Mischung aus Gärungsaromen und feiner Magensäure nach, ohne unangenehm zu sein. Graupen und Maden unterscheiden sich kaum in der Textur, wohl aber im Geschmack! Die Graupen schmecken nach Gerste, die Maden nach Mehlwürmern. Begleitet wird das entrée au jeminé ausnahmsweise nicht von Wein, sondern – aromatisch auf die Gerste abgestimmt – einem Pilsener Bier: dem Madenhacker Pschorr. Der Effekt dieser Kombination ist verblüffend.

Es sind diese feinen Kniffe, die Matz Mabuse zu einem echten Spitzenkoch machen. Dabei hatte das Elsässer Urschwein dem Herd eigentlich längst den Rücken gekehrt, um sich ganz seinem neuen Hobby, dem Angeln, zu widmen. Jedoch scheint der Erfolg ausgeblieben zu sein, oder das Rentnerleben wurde einfach zu fad. Jedenfalls hat Mabuse offenkundig eine Möglichkeit gefunden, die für den Lebensabend auf Vorrat bestellten zwanzig Doppelzentner Mehlwürmer lukrativer zu verwerten, als sie als Köder im Baggersee zu ertränken. Dass Menschen bei Mabuse besser beißen als Fische, kann als Ausweis seiner Kochkunst verstanden werden. Der Hauptgang kommt vergleichsweise konventionell daher: Dreierlei Bratlinge auf Mehlwurmbasis wurden mit Mehlwurmmehl paniert und in den Geschmacksrichtungen Paprika, Ungarisch und BBQ gewürzt. Dazu wird Buttergemüse – hergestellt aus Mehlwurmfett und denaturierten Mehlwürmern – gereicht, dem Croutôns aus frittierter Mehlwurmhaut einen interessanten Texturwechsel zwischen crispig und gommeux verleihen. Das plate ver bildet ein Mehlwurmjus aus Mehlwurmmus und dreifach konzentrierter Mehlwurmscheiße; ein petit morte in Form eines Kaviars aus Mehlwurmaugen ergänzt das Gericht. Der Gesamteindruck ist verblüffend. In puncto Ausgewogenheit steht die Komposition der Vorspeise in nichts nach, wirkt aber noch einen Tick runder. Im Vollakkord überwiegen Nussaromen, die Bratlinge erinnern trotz der kräftigen Würze an Hühnchen. Als Weinbegleitung wird ein ausgezeichneter Chianti entkorkt – süffig und nicht zu herb mit kräftigen Beerenaromen und einem Hauch Pommes Frites.

Die einzelnen Gänge sind für ein Restaurant dieser Qualität sehr üppig dimensioniert. So fällt kaum auf, dass in der "Made" statt den in der Spitzengastronomie üblichen 14-21 Gängen ("Shimano-Menü") nur drei serviert werden, was der Neuartigkeit des Konzepts geschuldet ist. Außerdem würde dieser Text sonst viel zu lang.

Ich bin jedenfalls jetzt schon pappsatt, doch mit der Rechnung kommt noch ein besonders raffinierter Nachtisch: Gummiwürmer à la Trolli, hergestellt aus – na was wohl – Mehlwürmern, die ausschließlich mit Mehlwürmern und Zucker gefüttert wurden, so dass ein Bad in Mehlwurmgelatine genügt, um aus den Tierchen eine leckere Nascherei zu machen. Dazu gibt es einen Digestif – Mehlwurmsambuca mit eingelegten Mehlwürmern und noch irgendwas aus Mehlwürmern. Das Ergebnis ist verblüffend. Durch das Zusammenspiel von süß und süß wirken beide Komponenten insgesamt weniger süß.

Zu guter Letzt überreicht Matz Mabuses Frau Madeleine noch eine selbstgebackene Madeleine von ihrer Mutter Magda Mehlwurm. Die lehne ich dankend ab, lasse mir aber von Matz alle Rezepte des Menüs geben. Das kann man zu Hause alles für einen Bruchteil des Preises nachkochen. Ich bin doch nicht bekloppt und latze noch mal 220,- Euro plus Getränke hin, um einmal satt zu werden!

Valentin Witt

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Anpfiff, Max Eberl!

Sie sind seit Anfang März neuer Sportvorstand des FC Bayern München und treten als solcher in die Fußstapfen heikler Personen wie Matthias Sammer. Bei der Pressekonferenz zu Ihrer Vorstellung bekundeten Sie, dass Sie sich vor allem auf die Vertragsgespräche mit den Spielern freuten, aber auch einfach darauf, »die Jungs kennenzulernen«, »Denn genau das ist Fußball. Fußball ist Kommunikation miteinander, ist ein Stück weit, das hört sich jetzt vielleicht pathetisch an, aber es ist Liebe miteinander! Wir müssen alle was gemeinsam aufbauen, wo wir alle in diesem gleichen Boot sitzen.«

Und dieser schräge Liebesschwur, Herr Eberl, hat uns sogleich ungemein beruhigt und für Sie eingenommen, denn wer derart selbstverständlich heucheln, lügen und die Metaphern verdrehen kann, dass sich die Torpfosten biegen, ist im Vorstand der Bayern genau richtig.

Von Anfang an verliebt für immer: Titanic

 Hallo, faz.net!

»Seit dem Rückzug von Manfred Lamy«, behauptest Du, »zeigt der Trend bei dem Unternehmen aus Heidelberg nach unten. Jetzt verkaufen seine Kinder die Traditionsmarke für Füller und andere Schreibutensilien.« Aber, faz.net: Haben die Lamy-Kinder nicht gerade davon schon mehr als genug?

Schreibt dazu lieber nichts mehr: Titanic

 Vielleicht, Ministerpräsident Markus Söder,

sollten Sie noch einmal gründlich über Ihren Plan nachdenken, eine Magnetschwebebahn in Nürnberg zu bauen.

Sie und wir wissen, dass niemand dieses vermeintliche High-Tech-Wunder zwischen Messe und Krankenhaus braucht. Außer eben Ihre Spezln bei der Baufirma, die das Ding entwickelt und Ihnen schmackhaft gemacht haben, auf dass wieder einmal Millionen an Steuergeld in den privaten Taschen der CSU-Kamarilla verschwinden.

Ihr Argument für das Projekt lautet: »Was in China läuft, kann bei uns nicht verkehrt sein, was die Infrastruktur betrifft.« Aber, Söder, sind Sie sicher, dass Sie wollen, dass es in Deutschland wie in China läuft? Sie wissen schon, dass es dort mal passieren kann, dass Politiker/innen, denen Korruption vorgeworfen wird, plötzlich aus der Öffentlichkeit verschwinden?

Gibt zu bedenken: Titanic

 Wieso so eilig, Achim Frenz?

Wieso so eilig, Achim Frenz?

Kaum hast Du das Zepter im Kampf um die Weltherrschaft der Komischen Kunst auf Erden in jüngere Hände gelegt, da schwingst Du Dich nach so kurzer Zeit schon wieder auf, um in den höchsten Sphären für Deine Caricatura zu streiten.

Mögest Du Dir auch im Jenseits Dein beharrliches Herausgeber-Grummeln bewahren, wünscht Dir zum Abschied Deine Titanic

 Aaaaah, Bestsellerautor Maxim Leo!

In Ihrem neuen Roman »Wir werden jung sein« beschäftigen Sie sich mit der These, dass es in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein wird, das maximale Lebensalter von Menschen mittels neuer Medikamente auf 120, 150 oder sogar 200 Jahre zu verlängern. Grundlage sind die Erkenntnisse aus der sogenannten Longevity-Forschung, mit denen modernen Frankensteins bereits das Kunststück gelang, das Leben von Versuchsmäusen beträchtlich zu verlängern.

So verlockend der Gedanke auch ist, das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2086 bei bester Gesundheit von der heimischen Couch aus zu verfolgen und sich danach im Schaukelstuhl gemütlich das 196. Studioalbum der Rolling Stones anzuhören – wer möchte denn bitte in einer Welt leben, in der das Gerangel zwischen Joe Biden und Donald Trump noch ein ganzes Jahrhundert so weitergeht, der Papst bis zum Jüngsten Gericht durchregiert und Wladimir Putin bei seiner Kolonisierung auf andere Planeten zurückgreifen muss? Eines will man angesichts Ihrer Prognose, dass es bis zum medizinischen Durchbruch »im besten Fall noch 10 und im schlimmsten 50 Jahre dauert«, ganz bestimmt nicht: Ihren dystopischen Horrorschinken lesen!

Brennt dann doch lieber an beiden Enden und erlischt mit Stil: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt