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Gemeinsam Wand an Wand

Die neue Nachbarschaftlichkeit in Zeiten von Nebenan.de, Nextdoor und Co.rona. Eine Reportage

Nachbarschaft, das galt lange Zeit als seelenloses Aneinandervorbeileben. Insbesondere in vielstöckigen Mietshäusern und urbanen Molochs wie Bielefeld oder Ulm regierte die Anonymität. Einziger Sozialkontakt waren sadistische Aushänge an Schwarzen Brettern ("Könnte lauter werden", "Wer hat in den Flur gekackt??", "Kinderwagen gehören nicht ins Treppenhaus, ihr Asis!") und die ein oder andere Replik ("Erstmal selber Kinder machen, aber dazu seit ihr ja zu dof!"). Oft wusste man nicht einmal, wie der Hamster der Nachbarin hieß. Keiner grüßte keinen, und keiner lieh keinem ein Ei.

"Oooch, das ist doch 20. Jahrhundert", lacht Mareike Heine, 41 Jahre. "Das kann ich überhaupt nicht bestätigen!" Die liebenswerte Familienmutter, wohnhaft in einer Bremer Jugendstilvilla, ist bereits seit Monaten auf drei Nachbarschafts-Apps unermüdlich aktiv. "Wenn ich ein welkes Wirsingblatt oder einen Liter ranzige Hafermilch übrig habe, stelle ich den Scheiß einfach ins Forum." In ihrem Straßenzug entstünde durch den Online-Austausch ständig etwas Neues. Aktuell diskutiere man sogar, sich auf der Straße zu grüßen – wenn "das hier", sie weist aus dem Fenster auf die verwaisten Gehsteige, "endlich mal vorbei ist". Auf alle Fälle gibt's im Mai das geplante Straßenfest "Ringelkiez mit Anfassen", notfalls den Viren zum Trotz. 

Seit Internet-Portale wie Nebenan.de oder Nextdoor Millionen von Nutzern anziehen, erlebt das lokale Miteinander eine nie geahnte Blüte. Einander eben noch wildfremde Menschen verleihen einander Akkuschrauber und Analduschen, organisieren Zusammenkünfte. Das Kommunikationsbedürfnis ist groß.
"Suche Tabletten aller Art!"
"Achtung : heute 16h Klingelstreich meiner Kinder. Nerven Bewahren ;-)"
"Hilfe, Klopapier alle. Burggasse 3c, Erdgeschoss, Fenster steht offen. Bitte kein Recycling!!"
"Wenn die Gören im Hof in 1 Std. noch genauso laut Fußball spielen, kippe ich einen Bottich Waschwasser aus dem 2. Stck. Reminder folgt in 15 Min."
"Wer geht mal mit meinem Waldi raus? Kann meinen Mann nicht mehr sehen!"
Von Einkaufs- über Geburts- bis Sterbehilfe bringt jeder ein, was er kann. Bange Fragen ("Ist mein Nachbar ein Psychopath?") werden in den Foren rasch und unkompliziert bejaht.

Können dank Online-Foren wieder gemeinsam lachen: Nachbarn in Hessen.

Profiteure gibt es dabei viele. Vor allem die Alten, die auf Hilfe besonders angewiesen sind. Rainer Kopp, 87 Jahre alt, ist einer von ihnen. Früher habe er nur gelangweilt aus dem Fenster gestiert, stundenlang. "Heute stiere ich aus dem Fenster und schicke dabei Emotionalis, oder wie die Dinger heißen, mit den Nachbarn hin und her", freut sich der Greis: "Eine Riesengaudi!" Andere Rentner setzen eher auf den persönlichen Monolog. Angebote wie: "Suche neugierige Zuhörer für einen 2. WK-Vortrag von Balkon zu Balkon. 3 Stunden sollten’s aber schon bitte sein!" finden sich in Rubriken wie "Plausch & Tausch" zuhauf.

In Zeiten der Corona-Krise gewinnt die Nachbarschaftshilfe noch einmal an Bedeutung. #NachbarschaftsChallenge oder #neighboursunited sind die Hashtags der Stunde. Lebensmittelengpässe und Langeweile werden solidarisch bekämpft, dringliche Anfragen wie "Suche Filme mit Gewalt und / oder Didi Hallervorden auf VHS" rasch erfüllt. Helfende Hände bieten ihren Nachbarn per geklopften Morsezeichen unterhaltsame Lektüre in tagelanger Detailarbeit, von "Zur Hölle mit Seniorentellern!" bis zum "Zauberberg". Manche Familien im vom Virus besonders gebeutelten Oberbayern sieht man dieser Tage auf Balkonen gemeinsam die Nationalhymne schmettern oder "Amoi seg' ma uns wieder" von Andreas Gabalier. In Landkreis Starnberg formiert sich diese Woche die erste virtuelle Bürgerwehr. 

Gute Nachbarschaft bedeute nicht für jede/n das Gleiche, sondern sei individuell sehr unterschiedlich, erklärt Dr. Gisela Mayer, Stadtsoziologin der TU Berlin, die aktuell über Codes und Chiffren in Nachbarschafts-Apps forscht. Ein Beitrag wie "Nudelholz in liebevolle Hände abzugeben ;-) gez. Mario von über dem Kiosk" könne durchaus von schillernder Polysemie sein. Was die Wissenschaftlerin auch registriert: In vielen Foren gewinnt die Kommunikation mit den Monaten deutlich an Kolorit. Der Ton wird rauer, aber auch vielfältiger. "Auch das ist gelebte Nachbarschaft", erklärt Soziologin Mayer, die "die neue Offenheit" preist. Beiträge wie "Wer hat in den Flur gekackt??", "Kinderwagen gehören nicht ins Treppenhaus, ihr Asis!" oder "Wer kauft mir endlich zehn Pack Nudeln, ihr Arschgeigen?" beleben die Kommunikation. Auch virtuelle Nachrede ist zur Zeit populär: "Der Dicke aus dem Eckhaus hat doch Corona, so wie der immer durchs Küchenfenster guckt."

Ob mit oder ohne Pandemie: Nachbarschaft ist heute wieder so intensiv, solidarisch und persönlich wie anno dunnemals. "Es ist wieder wie in den Vierzigerjahren", jubelt nicht nur Rainer Kopp. Bis sich das ganze Land wieder frei bewegen darf, bis die erste per App geplante Keilerei hinterm Altglascontainer endlich Wirklichkeit wird, ist die Vorfreude jedenfalls groß.

Ella Carina Werner

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

 Gude, Fregatte »Hessen«!

Du verteidigst Deutschlands Demokratie zur Zeit im Roten Meer, indem Du Handelsrouten vor der Huthi-Miliz schützt. Und hast schon ganz heldenhaft zwei Huthi-Drohnen besiegt.

Allerdings hast Du auch aus Versehen auf eine US-Drohne geschossen, und nur einem technischen Fehler ist es zu verdanken, dass Du nicht getroffen hast. Vielleicht ein guter Grund für die USA, doch nicht auf der Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels zu beharren!

Doppelwumms von Titanic

 Persönlich, Ex-Bundespräsident Joachim Gauck,

nehmen Sie inzwischen offenbar alles. Über den russischen Präsidenten sagten Sie im Spiegel: »Putin war in den Achtzigerjahren die Stütze meiner Unterdrücker.« Meinen Sie, dass der Ex-KGBler Putin und die DDR es wirklich allein auf Sie abgesehen hatten, exklusiv? In dem Gespräch betonten Sie weiter, dass Sie »diesen Typus« Putin »lesen« könnten: »Ich kann deren Herrschaftstechnik nachts auswendig aufsagen«.

Allerdings hielten Sie sich bei dessen Antrittsbesuch im Schloss Bellevue dann »natürlich« doch an die »diplomatischen Gepflogenheiten«, hätten ihm aber »schon zu verstehen gegeben, was ich von ihm halte«. Das hat Putin wahrscheinlich sehr erschreckt. So richtig Wirkung entfaltet hat es aber nicht, wenn wir das richtig lesen können. Wie wär’s also, Gauck, wenn Sie es jetzt noch mal versuchen würden? Lassen Sie andere Rentner/innen mit dem Spiegel reden, schauen Sie persönlich in Moskau vorbei und quatschen Sie Putin total undiplomatisch unter seinen langen Tisch.

Würden als Dank auf die Gepflogenheit verzichten, Ihr Gerede zu kommentieren:

die Diplomat/innen von der Titanic

 Also wirklich, »Spiegel«!

Bei kleinen Rechtschreibfehlern drücken wir ja ein Auge zu, aber wenn Du schreibst: »Der selbst ernannte Anarchokapitalist Javier Milei übt eine seltsame Faszination auf deutsche Liberale aus. Dabei macht der Rechtspopulist keinen Hehl daraus, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, obwohl es korrekt heißen müsste: »Weil der Rechtspopulist keinen Hehl daraus macht, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, müssen wir es doch anmerken.

Fasziniert von so viel Naivität gegenüber deutschen Liberalen zeigt sich

Deine Titanic

 Du, »Deutsche Welle«,

betiteltest einen Beitrag mit den Worten: »Europäer arbeiten immer weniger – muss das sein?« Nun, wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht, ewig und drei Tage überlegt, langjährige Vertraute um Rat gebeten und nach einem durchgearbeiteten Wochenende schließlich die einzig plausible Antwort gefunden. Sie lautet: ja.

Dass Du jetzt bitte nicht zu enttäuscht bist, hoffen die Workaholics auf

Deiner Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg