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Freizeittrend Eskalation

Wut ist die neue Achtsamkeit, garstig ist das neue hygge. Immer mehr Menschen lassen ihren Aggressionen im Alltag freien Lauf. Woher rührt die neue Glorifizierung des Grolls?

Ungeduldig fummelt Henriette Tjarks am Reißverschluss ihrer Barbour-Steppweste herum. Gleich geht es los, mit ihren Freundinnen zu Ikea. Eine Mischung aus Vorfreude und Zorn lässt ihre Wangen leicht erröten. Was der freundlich grüßende Angestellte am Eingang nicht weiß: Die gut betuchten sechs Hamburger Seniorinnen sind nicht zum Möbelkaufen hier. Schnell an ihm vorbei, mit der Rolltreppe nach oben. Noch ein bisschen unauffällig durch die Modellküchen flanieren, warten, bis kein Mitarbeiter mehr in Sicht ist. Dann ist es so weit. Henriette packt den ersten "Mammut"-Kinderstuhl mit beiden Händen und schmettert ihn in die Glasvitrinen-Ecke. Eine "Bittergurka"-Stahlgießkanne und ein Übertopf fliegen hinterher. Die Schlacht hat begonnen. Teller, Bratpfannen, Tiefkühllachse und Ikea-Kataloge fegen durch das Möbelhaus. Ein Servierwagen rast in eine Glaswand, Regale knallen auf den Boden. Vier Minuten dauert das Spektakel, dann sind die Frauen vom Sicherheitspersonal umzingelt. Henriette pfeffert dem Kaufhausdetektiv noch ein "Knorrig"-Plüschschwein vor die Füße, bevor sie von ihm abgeführt wird.

Eine Schadenssumme in fünfstelliger Höhe dürfte zusammenkommen, plus Prozessgebühren und Strafzahlungen, überschlägt Anwalt Sönke Timmerbrok. Er ist immer dabei, um zu verhindern, dass eine der "Krawallschachteln", wie sich seine Mandantinnen gegenseitig nennen, mehr als eine Geldstrafe riskiert. Anderthalb Stunden sind sie heute gefahren. In sämtlichen Möbel- und Kaufhäusern rund um Hamburg haben sie bereits Hausverbot. Hat es sich gelohnt? "Aber sicher", grinst Henriette zufrieden nickend.

Geplante oder auch spontane Gewaltausbrüche werden nicht nur in der reichen Oberschicht immer beliebter. Seinen Ursprung nahm das Escalate Room Game im Internet. Was am Anfang nur ein paar Nerds ironisch durchspielten, ist inzwischen in sämtlichen Alters- und Berufsgruppen eine populäre, häufig in der Öffentlichkeit praktizierte Freizeitbeschäftigung. Auch vor Schulen macht der Trend nicht halt. Traf man sich früher hinter der Turnhalle zum Prügeln, werden Schlägereien heute direkt im Klassenzimmer ausgetragen. Manche warten nicht einmal das Ende des Elternabends ab. Einige Erziehungsberechtigte sind gar so verschlagen, dass sie ihre Kinder zu Keilereien mit Mitschülern anstiften – um später in der Notaufnahme deren Eltern verdreschen zu können. Auch Schwangere, die, nachdem ihnen Kragen und Fruchtblase geplatzt sind, im Kreißsaal um die letzte Hebamme ringen, sind keine Seltenheit mehr. 

Kaffeekränzchen gone wrong: Mit der wütenden Henriette ist nicht gut Kuchen essen

In jeder vierten ostdeutschen Gemeinde regiert inzwischen ein Wutbürgermeister, Konfliktforscher halten langfristig sogar ein globales Wett-Entrüsten für möglich. Von dem Aggro-Hype profitieren u.a. mittelständische Kopfbedeckungsgeschäfte. Die wachsende Hasskappennachfrage und die Vielzahl gerissener Hutschnuren bescheren ihnen ein unerwartetes Umsatz-Plus. In der Arbeitswelt werden Teambuilding-Events in "Tropical-Island"-Parks, bei denen sich Mitarbeiter gegenseitig auf die Palme bringen, immer beliebter. Im Netz hat das Groll-Emoji den Tränenlach-Smiley längst abgehängt. Auch auf Schönheitsideale wirkt sich der Trend aus: Zornesfalten sind plötzlich angesagt. Und Frauen hören von fremden Männern statt einem "Lach doch mal!" immer häufiger die Aufforderung, grimmig zu schauen.

Henriette hat vor drei Jahren mit dem Randalieren begonnen. Inzwischen nimmt die 78-Jährige regelmäßig an sogenannten Rage-Events teil. Auch bei den G-20-Ausschreitungen mischten sie und ihre Freundinnen mit. "Als wir die brennenden Barrikaden im Fernsehen sahen, sind wir sofort los und in den Schanzen-Rewe gestürmt", schwärmt sie. Doch am Anfang war ihr neues Hobby für sie kein Selbstläufer. Ihr fehlte die Wut. Über nichts konnte sie sich aufregen. Nicht über Benzinpreise, nicht über Generationenungerechtigkeit, nicht mal über ihren Steuerbescheid. Kein Grund, aufzugeben. Die agile Seniorin suchte Aggressionstrainer Rüdiger Stunk auf. "Wut kann man trainieren wie einen Muskel", sagt Stunk. Mit ein paar einfachen Tricks könne jeder nach und nach zum Choleriker werden. Manche Menschen würden sofort die Fassung verlieren, andere bräuchten mehrere Auslöserereignisse, bis sie so richtig ausrasten. Fachleute bezeichnen dies als "Sammelwut". Er habe auch Klienten, die am Anfang gar nicht wütend würden. Da helfe es, sich in ein Empörungsszenario hineinzusteigern, ein zorniges Gesicht zu machen und sich selbst im Spiegel anzubrüllen. Das funktioniere analog zum Lachyoga. Unterstützend gebe es z.B. noch Smartwatches, die einen schrillen Pfeifton erzeugen, sobald der Puls des Trägers unter 180 fällt.

Henriette hat immer noch Schaum vorm Mund. Der Fahrer hat eine Runde Latte Macchiato mit Bittermandellikör besorgt. Gleich folgt der unangenehme Part, der mit der Polizei. Eine andere Hamburger Krawallgruppe ist neulich mit einer Verwarnung davongekommen. Ein Abteil eines Regionalzuges hatten die jungen Männer verwüstet. Egal, was diesmal für Henriette herauskommt: Bei diesen öden Charity-Events abhängen oder ihrem biederen Enkel beim Blockflötespielen zuhören, das könnte sie nicht mehr. Da würde sie durchdrehen.

Julia Mateus

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Genau einen Tag, Husqvarna Group (Stockholm),

nachdem das ungarische Parlament dem Nato-Beitritt Schwedens zugestimmt hatte, mussten wir was auf heise.de lesen? Dass auf Deinen Rasenmähern der »Forest & Garden Division« nach einem Software-Update nun der alte Egoshooter »Doom« gespielt werden kann!

Anders gesagt: Deine Divisionen marodieren ab sofort nicht nur lautstark mit Rasenmähern, Traktoren, Motorsägen, Motorsensen, Trennschleifern, Rasentrimmern, Laubbläsern und Vertikutierern durch unsere Gärten, sondern zusätzlich mit Sturmgewehren, Raketenwerfern und Granaten.

Falls das eine Demonstration der Stärke des neuen Bündnispartners sein soll, na schön. Aber bitte liefere schnell ein weiteres Software-Update mit einer funktionierenden Freund-Feind-Erkennung nach!

Hisst die weiße Fahne: Titanic

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

 Nicht zu fassen, »Spiegel TV«!

Als uns der Youtube-Algorithmus Dein Enthüllungsvideo »Rechtsextreme in der Wikingerszene« vorschlug, wären wir fast rückwärts vom Bärenfell gefallen: In der Wikingerszene gibt es wirklich Rechte? Diese mit Runen tätowierten Outdoorenthusiast/innen, die sich am Wochenende einfach mal unter sich auf ihren Mittelaltermärkten treffen, um einer im Nationalsozialismus erdichteten Geschichtsfantasie zu frönen, und die ihre Hakenkreuzketten und -tattoos gar nicht nazimäßig meinen, sondern halt irgendwie so, wie die Nazis gesagt haben, dass Hakenkreuze vor dem Nationalsozialismus benutzt wurden, die sollen wirklich anschlussfähig für Rechte sein? Als Nächstes erzählst Du uns noch, dass Spielplätze von Kindern unterwandert werden, dass auf Wacken ein paar Metalfans gesichtet wurden oder dass in Flugzeugcockpits häufig Pilot/innen anzutreffen sind!

Nur wenn Du versuchst, uns einzureden, dass die Spiegel-Büros von Redakteur/innen unterwandert sind, glauben Dir kein Wort mehr:

Deine Blauzähne von Titanic

 Eine Frage, Miriam Meckel …

Im Spiegel-Interview sprechen Sie über mögliche Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf die Arbeitswelt. Auf die Frage, ob die Leute in Zukunft noch ihr Leben lang im gleichen Beruf arbeiten werden, antworten Sie: »Das ist ja heute schon eher die Ausnahme. Ich zum Beispiel habe als Journalistin angefangen. Jetzt bin ich Professorin und Unternehmerin. Ich finde das toll, ich liebe die Abwechslung.« Ja, manchmal braucht es einfach einen beruflichen Tapetenwechsel, zum Beispiel vom Journalismus in den Fachbereich Professorin! Aber gibt es auch Berufe, die trotz KI Bestand haben werden? »Klempner zum Beispiel. Es gibt bislang keinen Roboter mit noch so ausgefeilter KI auf der Welt, der Klos reparieren kann.«

Das mag sein, Meckel. Aber was, wenn die Klempner/innen irgendwann keine Lust mehr auf den Handwerkeralltag haben und flugs eine Umschulung zum Professor machen? Wer repariert dann die Klos? Sie?

Bittet jetzt schon mal um einen Termin: Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
19.04.2024 Wuppertal, Börse Hauck & Bauer
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt