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Flaschenbier und Popelmännchen

Auch vier Millionen deutsche Finanzbeamte sind inzwischen im Homeoffice. Ein Elendsbericht.

Sören Hoppe sitzt daheim am Schreibtisch und kann sich nicht konzentrieren. Schon seit Stunden hockt er da – oder Tagen oder Minuten, so genau lässt sich das nicht mehr rekonstruieren. Gedankenlos stiert er auf seinen Bildschirm, nippt am Flaschenbier und öffnet Online-Formular um -Formular. Seit 23 Jahren arbeitet Sören Hoppe als Finanzbeamter. Brötchengeber: Finanzamt Hamburg-Harburg. Erst seit März sind auch die Mitarbeiter der Hamburger Ämter im Homeoffice, wenn auch mit Murren und Knurren. 

Manchmal, wenn Hoppe elegisch aus dem Fenster schaut oder auf die Kaffeetasse mit dem witzigen Schriftzug "FisKUSS", träumt er sich zurück. Zurück in den lieb gewonnen Siebzigerjahre-Büroturm, zurück zur Präsenzarbeit. Ja, es war scheiße, ja, es war erdrückend, demoralisierend, ja komplett krank, aber doch auch eine eingeschworene Gemeinschaft mit Kolleginnen und Kollegen aus Fleisch und Blut. Der endlose Plausch in der Teeküche. Die Diebereien aus der Snackbox. Die Tränen, wenn wieder nichts darin war als das fliederfarbene Balisto. Der tägliche Morgenappell. Die Arschtritte des Chefs. Subversive Streiche mit dem Furzkissen. Foppereien der Kolleginnen ("Frau und Steuer, das wird teuer!"). Die wöchentlichen Geburtstagsfeiern, wenn alle ihr süß verdientes Geld zusammenlegten für KollegInnengeschenke, in Privatinsolvenzanträge liebevoll verpackt. Alles, was er wirklich liebt – Dienst nach Vorschrift, soziale Kontrolle, hängende Kakteen –, hat Hoppe von heute auf morgen im Büro zurücklassen müssen wie der ostpreußische Bauer seinen Hof anno 1944/45.

Bei vielen Finanzbeamten stapeln sich die Akten jetzt im Wohnzimmer.

Seit vier Wochen arbeitet Hoppe bereits von zu Hause aus, so wie 180 000 weitere Finanzbeamte der Stadt. Die Tage verschwimmen. Ob Tag, ob Nacht, ob Valentinstag oder Pfingsten, ob IV. Quartal 2020 oder bereits I/2023, wer weiß das schon? Die Welt ist heute eine graue, amorphe Masse. Sören Hoppe muss noch ein paar steuerpflichtige Nebeneinkünfte prüfen, also außer bei sich selbst. 865 Euro hat er diese Woche schon im Online-Poker gewonnen.

Gerade trudelt eine Steuererklärung für 2020 per ELSTER herein, dicht gefolgt von einer Anfrage nach einer Steuer-Identifikationsnummer. "Ja, man wird daheim auch milder, nachsichtiger", resümiert Hoppe, während er auf die Tastatur einhaut wie Duke Ellington aufs Klavier. Vor allem nachsichtiger gegenüber den eigenen Bedürfnissen. Neben seinem Schreibtisch steht eine Chipstrommel und mehrere Sechserträger Astra. Die Tischplatte ziert eine Pyramide aus verklebten Kaffeetassen und behutsam modellierten Popelmännchen.

Da, ein echter Anruf. Auch das kommt im Homeoffice vor. "Die Behörden sind da technisch ganz weit vorn", sagt Hoppe anerkennend, "Stichwort Rufumleitung!" Ein Clubbetreiber lamentiert etwas von drohender Pleite und Suizid. Hoppe hört nur mit halbem Ohr hin, mit der anderen Hälfte hört er per Airpod Fantasy-Metal, aber nur ganz leis.

Die Mehrzahl der Hamburger Finanzbeamten klagt bereits jetzt über Orientierungslosigkeit und nahenden Boreout. Einige haben sich der Querdenker-Bewegung im Darknet angeschlossen, andere planen ein Bombenattentat auf den Finanzsenator. Menschen wie Sören Hoppe haben nie gelernt, sich selber zu motivieren, Leistung um der Leistung willen freiwillig zu erbringen. "Deshalb bin ich ja Finanzbeamter geworden!" ruft Hoppe verzweifelt in seinem stinkenden Schlafanzugoberteil. Ob er manchmal eigentlich untenrum nur in Unterhose dasäße? "Wenn's denn überhaupt noch eine Unterhose ist", zwinkert Hoppe vielsagend und öffnet ein neues Bier. Manchmal nimmt er den Arbeitslaptop und das Telefon auch mal mit in die Badewanne. Schwer sei es ohnehin, Berufliches und Privates in den eigenen vier Wänden immer klar zu trennen. "Hallöchen mit Öchen, hier ist das Sörchen … äh, Finanzamt Harburg, Hoppe, was muss ich für Sie tun?" entweicht es ihm schon mal. Weiteres Problem: Durch das ganze Lockdown-Trara ist seine Lunte noch kürzer als sonst. "Wenn ich nicht sofort die @-Taste finde, schlage ich mit der Axt auf die Tastatur", zeigt sich Hoppe menschlich und nahbar.

11.30 Uhr: endlich Mittagspause. Es klingelt an der Haustür. Da ist die neue Hello-Fresh-Box, Geschmacksrichtung Behördenkantine, die er sich seit kurzem gönnt. Sein einziger Lichtblick des Tages. Außer, der blutjungen Nachbarin von gegenüber zuzusehen, wie sie aus der Haustür tritt, in Leggins und engen Shorts. "Ja, will die ihr eigenes Gewerbe anmelden, oder was?" kichert er frivol. Danach gibt es zum Runterkommen noch eine Partie Scrabble mit seiner ollen Ehefrau. Das Wort "Umsatzsteuervoranmeldungszeitraum" bringt satte 87 Punkte. 

Wie es weitergeht, wann das Homeoffice-Elend ein Ende hat, steht noch in den Sternen. Vielleicht im Juni? "Bis dahin bin ich schon tot, mental und körperlich", orakelt Hoppe, während die Eieruhr zum Nachmittagsdienst schrillt: "Eye eye, die Steuerpflicht ruft! Na, sag ihr, ich rufe zurück", gackert er und öffnet das nächste Bier. "Is' bereits das drölfte."

 

Ella Carina Werner

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Briefe an die Leser

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

 Aaaaah, Bestsellerautor Maxim Leo!

In Ihrem neuen Roman »Wir werden jung sein« beschäftigen Sie sich mit der These, dass es in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein wird, das maximale Lebensalter von Menschen mittels neuer Medikamente auf 120, 150 oder sogar 200 Jahre zu verlängern. Grundlage sind die Erkenntnisse aus der sogenannten Longevity-Forschung, mit denen modernen Frankensteins bereits das Kunststück gelang, das Leben von Versuchsmäusen beträchtlich zu verlängern.

So verlockend der Gedanke auch ist, das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2086 bei bester Gesundheit von der heimischen Couch aus zu verfolgen und sich danach im Schaukelstuhl gemütlich das 196. Studioalbum der Rolling Stones anzuhören – wer möchte denn bitte in einer Welt leben, in der das Gerangel zwischen Joe Biden und Donald Trump noch ein ganzes Jahrhundert so weitergeht, der Papst bis zum Jüngsten Gericht durchregiert und Wladimir Putin bei seiner Kolonisierung auf andere Planeten zurückgreifen muss? Eines will man angesichts Ihrer Prognose, dass es bis zum medizinischen Durchbruch »im besten Fall noch 10 und im schlimmsten 50 Jahre dauert«, ganz bestimmt nicht: Ihren dystopischen Horrorschinken lesen!

Brennt dann doch lieber an beiden Enden und erlischt mit Stil: Titanic

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

 Eine Frage, Miriam Meckel …

Im Spiegel-Interview sprechen Sie über mögliche Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf die Arbeitswelt. Auf die Frage, ob die Leute in Zukunft noch ihr Leben lang im gleichen Beruf arbeiten werden, antworten Sie: »Das ist ja heute schon eher die Ausnahme. Ich zum Beispiel habe als Journalistin angefangen. Jetzt bin ich Professorin und Unternehmerin. Ich finde das toll, ich liebe die Abwechslung.« Ja, manchmal braucht es einfach einen beruflichen Tapetenwechsel, zum Beispiel vom Journalismus in den Fachbereich Professorin! Aber gibt es auch Berufe, die trotz KI Bestand haben werden? »Klempner zum Beispiel. Es gibt bislang keinen Roboter mit noch so ausgefeilter KI auf der Welt, der Klos reparieren kann.«

Das mag sein, Meckel. Aber was, wenn die Klempner/innen irgendwann keine Lust mehr auf den Handwerkeralltag haben und flugs eine Umschulung zum Professor machen? Wer repariert dann die Klos? Sie?

Bittet jetzt schon mal um einen Termin: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg