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Eine Agave namens Opa

Ganz Berlin ist im Agavenfieber. Nach den coronabedingten Einschränkungen wartet die Stadt begierig auf ungewohnte Blütenpracht im Schlosspark Charlottenburg. Was? Wieso?

Bis eine Agave americana blüht, können schnell mal einhundert Jahre vergehen. Falls sie denn so lange durchhält. Geschieht dies aber, treibt die Pflanze für wenige Wochen einen riesigen, bis zu neun Meter hohen Blütenstand aus. Nun vermeldet die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (SPSG) aufgeregt: Eine ihrer Agaven sei blühbereit. Dabei sind gerade einmal zwei Jahre vergangen, dass – ebenfalls im Schlosspark Charlottenburg – an einer einzigen Agave 8897 Blüten gezählt worden waren. Wer erinnert sich nicht an die hauptstädtische Agaven-Hysterie, in diesem Blatt damals als "phallischer Stengel-Wahn" bespöttelt?

Berlins Boulevard jedoch überschlug sich vor Erregung. "So blüht bloß Berlin!", jubelte die BZ, während Abendschau-Urgestein Ulli Zelle täglich live aus der Schlossgärtnerei Charlottenburg berichtete. Am 11. August 2018 war es dann endlich soweit: Die Bevölkerung durfte die Agave persönlich in Augenschein nehmen. Lange Schlangen bildeten sich am Parkeingang. Zappelige Kleinkindgruppen riefen unentwegt den neuen Botanikstars Berlins bei seinem Namen, der in einer Abstimmung vom "Berliner Kurier" und dem Radiosender rbb 88.8 ermittelt worden war: "Wir wollen Knute! Wir wollen Knute!"

Dass es nun schon wieder eine blühende Agave zu bestaunen gibt, ist für SPSG-Gartendirektor Michael Rohde "ein kleines Wunder, das uns in den schweren Zeiten mit viel Freude erfüllt". Deswegen lässt sich die knospende Agave diesmal auch täglich im Charlottenburger Park bestaunen. "Wir wissen ja, was wir Berlins Pflanzenfreunden schuldig sind", sagt Rohde.

Viele Berlinerinnen und Berliner hegen nahezu nostalgische Erinnerungen an ihre großen Pflanzen. Sei es die "Dicke Marie" genannte Eiche im Tegeler Forst, der Friedrichshagener Rhododendron "Klops", die Spandauer Kratzdistel "Rieke", der legendäre Farn "Fussel" im Prenzlauer Berg und eben auch die Charlottenburger Altagave "Keule". So wie die Tiere im Zoologischen Garten werden seit jeher ebenfalls viele Pflanzen von den Menschen wie gute Bekannte behandelt. 

"Die sah ja ooch irgendwie nach ’ner Keule aus", sagt Orangerie-Gärtnerin Olivera Ocka vor der der Pflanze nachempfundenen Bronzeskulptur. "Wie eigentlich alle Agaven." Ocka kümmert sich liebevoll und intensiv um das Wohl der Pflanze, die aus den heißen und trockenen Regionen Mittelamerikas stammt und in unseren klimatisch gemäßigten Breiten eher selten Blüten bildet. Einen Namen hat die nun in den Charlottenburger Himmel emporschießende Agave noch nicht. Das wird sich gewiss bald ändern. Orangeristin Ocka ist das "im Grunde schnuppe". Nur etwas weniger phallisch dürfte es nach ihrem Empfinden doch sein. "Warum nicht mal Aishe oder so?" Kritischer ist sie gegenüber der sich anbahnenden Vermarktung der Pflanze. Im Schlossshop kann man bereits Plüschagaven und edle Phiolen mit Agavendicksaft erwerben. "Wahrscheinlich gab’s noch 'n paar Kisten im Keller vom letzten Mal", sagt Ocka schulterzuckend.

Rentner Rudi Muschke und seine Enkelin Alina sehen das entspannter. Sie freuen sich einfach, regelmäßig in den Schlosspark zu kommen und die Blüte der Agave hautnah mitzuerleben. Fest umklammert hält Alina ihre Stoffpflanze. Der hat sie den Namen Rezo gegeben. Wie das reale Spargelgewächs vor ihr heißen soll, interessiert sie hingegen kaum. "Vielleicht Opa, so wie mein Opa?" sagt sie schüchtern.

Pflanzenpsychologe Ernfried Blass sieht die mit dem Agavenhype auftretende Vermenschlichung kritisch, gerade in Gegenwart von Kindern. "So schön so eine Blütenpracht sein mag, danach ist schnell Sense beziehungsweise Kompost angesagt". Tatsächlich ist das seltene Aufblühen einer Agave mit ihrem anschließenden Absterben verbunden. "Dass muss man einem Kind dann auch vermitteln können", sagt Blass. "Und nicht nur dem." Einst führte das Eingehen der legendären Berliner Uragave Agathe, die im August 1838 den großen Orangeriesaal des Schloss Charlottenburg mit 4820 Einzelblüten füllte, zu dramatischen Szenen. "Ach, als dein Sklave, oh Agave / möcht ick so jerne mit dich sterben / tust du verblühend mir verderben", dichtete damals Berlins großer Mundartpoet Adolf Glaßbrenner und spielte damit auf die mit dem Verblühen Agathes einhergehende erhöhte Selbstmordrate an.

Orangeristin Ocka findet das weniger dramatisch. "Nächste Jahr blüht dann halt wat andret. Wir haben auch sehr schöne Tulpen im Beet. Und da muss man sich nicht mal den Hals verrenken."

Thilo Bock

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

 Vielleicht, Ministerpräsident Markus Söder,

sollten Sie noch einmal gründlich über Ihren Plan nachdenken, eine Magnetschwebebahn in Nürnberg zu bauen.

Sie und wir wissen, dass niemand dieses vermeintliche High-Tech-Wunder zwischen Messe und Krankenhaus braucht. Außer eben Ihre Spezln bei der Baufirma, die das Ding entwickelt und Ihnen schmackhaft gemacht haben, auf dass wieder einmal Millionen an Steuergeld in den privaten Taschen der CSU-Kamarilla verschwinden.

Ihr Argument für das Projekt lautet: »Was in China läuft, kann bei uns nicht verkehrt sein, was die Infrastruktur betrifft.« Aber, Söder, sind Sie sicher, dass Sie wollen, dass es in Deutschland wie in China läuft? Sie wissen schon, dass es dort mal passieren kann, dass Politiker/innen, denen Korruption vorgeworfen wird, plötzlich aus der Öffentlichkeit verschwinden?

Gibt zu bedenken: Titanic

 Ciao, Luisa Neubauer!

»Massendemonstrationen sind kein Pizza-Lieferant«, lasen wir in Ihrem Gastartikel auf Zeit online. »Man wird nicht einmal laut und bekommt alles, was man will.«

Was bei uns massenhaft Fragen aufwirft. Etwa die, wie Sie eigentlich Pizza bestellen. Oder was Sie von einem Pizzalieferanten noch »alles« wollen außer – nun ja – Pizza. Ganz zu schweigen von der Frage, wer in Ihrem Bild denn nun eigentlich etwas bestellt und wer etwas liefert bzw. eben gerade nicht. Sicher, in der Masse kann man schon mal den Überblick verlieren. Aber kann es sein, dass Ihre Aussage einfach mindestens vierfacher Käse ist?

Fragt hungrig: Titanic

 Du, »Deutsche Welle«,

betiteltest einen Beitrag mit den Worten: »Europäer arbeiten immer weniger – muss das sein?« Nun, wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht, ewig und drei Tage überlegt, langjährige Vertraute um Rat gebeten und nach einem durchgearbeiteten Wochenende schließlich die einzig plausible Antwort gefunden. Sie lautet: ja.

Dass Du jetzt bitte nicht zu enttäuscht bist, hoffen die Workaholics auf

Deiner Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt
08.04.2024 Oldenburg, Theater Laboratorium Bernd Eilert mit Klaus Modick