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Der Mythos des Antisisyphos

Zur Umweltproblematik reichweitenstarker Mineralienskulpturen.

Der Vorstand seines Umweltvereins hatte Felix dazu verurteilt, für den Rest des Sommers jene Steintürmchen abzubauen, die gewissenlose Touristen Tag für Tag auf Teneriffas Playa Jardín errichten, um ihren ganz persönlich gestapelten Schotterhaufen fotografisch in die Cloud zu wedeln, als wäre er leicht wie Mikroplastik. Und wenn Felix die Bildunterschriften richtig deutete, würde er hier den Rest seines Lebens verbringen. Hashtags wie #vacationlife, #traveladdict und besonders #endlesssummer ließen ihn ahnend schaudern. Gerade erst vor seiner Ankunft hatten 150 Umweltschützer den Strand in einer konzertierten Aktion turmfrei gekullert, jetzt wuchsen wieder erste Türmchen in den Himmel. Und Felix sollte, so der einstimmige Beschluss, jeden einzelnen Stein dorthin zurücklegen, wo er hergenommen war, auf dass die Grillen, Spinnen, Schlangen und sonstigen Plagegeister der Wüsteninsel wieder Obdach fänden. Bei Nichtverbüßen der Strafe, so hatte man ihm bedeutet, würde er von weiterer Vereinsmitgliedschaft ausgeschlossen – und damit wäre dann auch jeder Kontakt zu seiner großen Liebe Maja beendet, die von ihm, Felix, nämlich nichts wissen wollte. Er zündete ein Kippchen an und ließ den Blick schweifen.

Zu den Gründen von Felix' Verbannung kursieren verschiedene Geschichten, die alle ihren Anteil an der Wahrheit beanspruchen dürfen. Zum einen soll Felix dabei erwischt worden sein, wie er einen Zigarettenstummel im Klo entsorgt hatte. Zum anderen soll Felix in der Damentoilette geraucht und Sprüche an die Kabinenwand geschrieben haben, die Maja offensiv zum Geschlechtsverkehr aufforderten. Unklar ist, weshalb Anklage und Schuldspruch zustande kamen, und es war Felix jetzt auch reichlich egal. Er hatte sich schließlich nichts vorzuwerfen: Die Zigarette, so behauptete er, sei in Wirklichkeit eine Tamponfolie gewesen, die schon seit Stunden im Klosett geschwommen und die er zwar mehrmals herunterzuspülen versucht habe, was jedoch erfolglos geblieben sei und deshalb wohl kaum einer Strafe würdig. Und bei der Toilette habe er sich schlicht in der Tür geirrt, überdies verwende er ausschließlich abwischbare Ökomarker für seine Sprüche, deren schwarzer Humor leider nicht bei jedem verfange. Außerdem sei Maja eben auch einfach ein geiles Gestell, da gebe es überhaupt keine zwei Meinungen.

Eine Möwe schiss Felix die Brille dicht, seine blond flatternden Locken schmiegten sich sogleich an die sämige Kotsoße. Die Wut in ihm türmte sich höher, #shitglasses #boringjob #endlesssummer. Da saß er nun auf dieser gottverdammten Insel mit nichts außer einem Zelt, einem Rucksack und einem MP3-Player mit den größten Hits der Rolling Stones. Es half alles nichts, Felix krempelte die Ärmel seines T-Shirts nach oben, um möglichst bescheuert auszusehen, und baute sein erstes Türmchen zurück. Stolz betrachtete er die sorgfältig naturgerecht verteilten Steine, da erspähte er durch die verschmierten Gläser seiner notdürftig an der Hose abgewischten Brille in der Ferne zwei neue Stapel, die in der Zwischenzeit von einem Influencerpärchen errichtet worden waren. „Das ist ja wie bei Medusa“, dachte Felix, verzückt von seiner Bildungshuberei. „Baut man einen Steinturm ab, baut Medusa in der Zwischenzeit zwei neue.“ Und: „Hehe, Medusa hat ein Schlangenhaupt, ich nur eine Hauptschlange.“ Den Spruch wollte er sich unbedingt für zu Hause merken, falls er da noch mal hinkäme. Und dann in der Damentoilette an die Wand kritzeln und seine Telefonnummer dazuschreiben, Maja bittend, doch vielleicht mal durchzurufen zwecks Sex und mehr. Mag sein, dass ihm dieser Move wiederum schlecht bekäme, aber das Leben ist eben kein Pornohof, da muss man auch mal was brüskieren, dachte Felix, während die Influencer vegane Hashtags auf der Stapelspitze balancierten. „Pff“, dachte Felix. „Halten sich für ausgefallen und individuell, aber dann machen alle das gleiche Ausgefallene und Individuelle. Ja, Gesellschaftskritik kann ich!“

Der nächste Turm fiel unter der Zerstörungswut seiner Hände, doch schon reckten an anderer Stelle zwei Steinschlangen vorwitzig ihre feucht schimmernden Köpfe in die Höhe, als würden sie rufen: „Komm Felix, reiß mich nieder, pflück mich auseinander mit deinen Händen, zerfick mich, du Lumpenständer!“ Er hatte schon jetzt keine Lust mehr. Irgendwie überraschte ihn das, auf der anderen Seite aber auch nicht. Er hatte schließlich eben schon keine Lust gehabt, vorhin nicht und zu Hause auch nicht. „Ach, wenn doch wenigstens bald ein Öltanker strandete oder ein Wal ausliefe!“ seufzte Felix, meinte es aber umgekehrt. „Dann käme sicher auch Maja nach Teneriffa und sie sähe, wie sehr ich mich für die Umwelt einsetze, und dann würde sie sich in mich verlieben.“ So dachte er, und er glaubte es wirklich. Er war ein Blinder, der nichts sehen kann, weil schon wieder eine Möwe seine Brille zugeschissen hat. Wir müssen uns Felix als einen hoffnungslosen Fall vorstellen.

Valentin Witt

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Gude, Fregatte »Hessen«!

Du verteidigst Deutschlands Demokratie zur Zeit im Roten Meer, indem Du Handelsrouten vor der Huthi-Miliz schützt. Und hast schon ganz heldenhaft zwei Huthi-Drohnen besiegt.

Allerdings hast Du auch aus Versehen auf eine US-Drohne geschossen, und nur einem technischen Fehler ist es zu verdanken, dass Du nicht getroffen hast. Vielleicht ein guter Grund für die USA, doch nicht auf der Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels zu beharren!

Doppelwumms von Titanic

 Hey, »Zeit«,

Deine Überschrift »Mit 50 kann man noch genauso fit sein wie mit 20«, die stimmt vor allem, wenn man mit 20 bemerkenswert unfit ist, oder?

Schaut jetzt gelassener in die Zukunft:

Deine Titanic

 Apropos: ¡Hola bzw. holla, spanischer Priester!

Du hast Dir die Worte aus dem Matthäusevangelium »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« zu sehr zu Herzen genommen und in Deiner Gemeinde in der Kleinstadt Don Benito einen regen Handel mit Potenzmitteln betrieben. Für diesen nach weltlichem Ermessen offensichtlichen Sündenfall musst Du Dich nun vor einem irdischen Gericht verantworten.

Uns ist zwar nicht bekannt, ob Du Dich gegenüber Polizei und Justiz bereits bußfertig gegeben hast oder weiterhin auf das Beichtgeheimnis berufst. Angesichts der laut Zeugenaussagen freudigen Erregung Deiner überalterten Gemeindemitglieder beim Geläut der Glocken sowie ihres Durchhaltevermögens bei den nicht enden wollenden Eucharistiefeiern inklusive Rumgeorgel, Stoßgebeten und orgiastischer Gottesanrufungen sprechen alle Indizien aber ohnehin gegen Dich!

Bleibt auch ganz ohne künstliche Stimulanzien weiter standfest im Nichtglauben: Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt